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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62004CJ0174

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 2. Juni 2005.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Artikel 56 EG - Automatische Aussetzung von Stimmrechten bei privatisierten Unternehmen.
Rechtssache C-174/04.

Sammlung der Rechtsprechung 2005 I-04933

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2005:350

Rechtssache C-174/04

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italienische Republik

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Artikel 56 EG – Automatische Aussetzung von Stimmrechten bei privatisierten Unternehmen“

Schlussanträge der Generalanwältin J. Kokott vom 3. März 2005 

Urteil des Gerichtshofes (Erste Kammer) vom 2. Juni 2005 

Leitsätze des Urteils

Freier Kapitalverkehr – Beschränkungen — Nationale Regelung, mit der die Stimmrechte im Zusammenhang mit Beteiligungen bestimmter öffentlicher Unternehmen am Kapital von Unternehmen, die im Sektor Energie tätig sind, beschränkt werden — Unzulässigkeit

(Artikel 56 EG)

Ein Mitgliedstaat, der eine Regelung, die die automatische Aussetzung der Stimmrechte im Zusammenhang mit Beteiligungen von mehr als 2 % am Gesellschaftskapital von Unternehmen vorsieht, die in den Sektoren Elektrizität und Gas tätig sind, wenn diese Beteiligungen von öffentlichen Unternehmen erworben werden, die nicht auf organisierten Kapitalmärkten notiert sind und auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung haben, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 56 EG.

Eine solche Regelung schließt nämlich bei der betroffenen Kategorie öffentlicher Unternehmen eine tatsächliche Beteiligung an der Verwaltung und der Kontrolle der Unternehmen aus und bewirkt es, dass insbesondere die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen öffentlichen Unternehmen davon abgeschreckt werden, Aktien dieser Unternehmen zu erwerben.

(vgl. Randnrn. 30, 42 und Tenor)




URTEIL DES GERICHTSHOFES (Erste Kammer)

2. Juni 2005(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Artikel 56 EG – Automatische Aussetzung von Stimmrechten bei privatisierten Unternehmen“

In der Rechtssache C‑174/04

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Artikel 226 EG, eingereicht am 13. April 2004,

Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und C. Loggi als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Italienische Republik, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter), des Richters K. Lenaerts, der Richterin N. Colneric sowie der Richter K. Schiemann und E. Juhász,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: R. Grass,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. März 2005

folgendes

Urteil

1       Mit ihrer Klageschrift beantragt die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, festzustellen, dass das Gesetzesdekret (decreto-legge) Nr. 192 vom 25. Mai 2001 (GURI Nr. 120 vom 25. Mai 2001, S. 4), umgewandelt in das Gesetz Nr. 301 über Dringlichkeitsvorschriften zur Wahrung der Liberalisierungs‑ und Privatisierungsprozesse spezifischer Bereiche öffentlicher Dienstleistungen (legge n. 301, recante „disposizioni urgenti per salvaguardare i processi di liberalizzazione e privatizzazione di specifici settori dei servizi pubblici“) vom 20. Juli 2001 (GURI Nr. 170 vom 24. Juli 2001, S. 4) (im Folgenden: Gesetzesdekret Nr. 192/2001), insoweit nicht mit Artikel 56 EG vereinbar ist, als es die automatische Aussetzung der Stimmrechte für die Aktienpakete vorsieht, die über die Grenze von 2 % des Gesellschaftskapitals von Gesellschaften hinausgehen, die in den Sektoren Elektrizität und Erdgas tätig sind.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

2       Artikel 56 Absatz 1 EG lautet:

„Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.“

3       Anhang I der Richtlinie 88/361/EWG des Rates vom 24. Juni 1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages (ABl. L 178, S. 5) enthält eine Nomenklatur für den Kapitalverkehr gemäß Artikel 1 dieser Richtlinie (im Folgenden: Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361). Darin werden u. a. folgende Formen des Kapitalverkehrs aufgezählt:

„I. Direktinvestitionen …

1.      Gründung und Erweiterung von Zweigniederlassungen oder neuen Unternehmen, die ausschließlich dem Geldgeber gehören, und vollständige Übernahme bestehender Unternehmen

2.      Beteiligung an neuen oder bereits bestehenden Unternehmen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter Wirtschaftsbeziehungen

…“

4       Nach den Begriffsbestimmungen am Ende von Anhang I der Richtlinie 88/361 gelten als Direktinvestitionen:

„Investitionen jeder Art durch natürliche Personen, Handels-, Industrie- oder Finanzunternehmen zur Schaffung oder Aufrechterhaltung dauerhafter und direkter Beziehungen zwischen denjenigen, die die Mittel bereitstellen, und den Unternehmern oder Unternehmen, für die die Mittel zum Zwecke einer wirtschaftlichen Tätigkeit bestimmt sind. Der Begriff der Direktinvestitionen ist also im weitesten Sinne gemeint.

Bei den unter I 2 der Nomenklatur genannten Unternehmen, die als Aktiengesellschaften betrieben werden, ist eine Beteiligung im Sinne einer Direktinvestition dann vorhanden, wenn das im Besitz einer natürlichen Person oder eines anderen Unternehmens oder sonstigen Inhabers befindliche Aktienpaket entweder nach den bestehenden nationalen Rechtsvorschriften für Aktiengesellschaften oder aus anderen Gründen den Aktieninhabern die Möglichkeit gibt, sich tatsächlich an der Verwaltung dieser Gesellschaft oder an deren Kontrolle zu beteiligen.

…“

5       Die Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361 umfasst auch folgende Formen des Kapitalverkehrs:

„III. Geschäfte mit Wertpapieren, die normalerweise am Kapitalmarkt gehandelt werden …

A.      Transaktionen mit Kapitalmarktpapieren

1.      Erwerb an der Börse gehandelter inländischer Wertpapiere durch Gebietsfremde …

3.      Erwerb nicht an der Börse gehandelter inländischer Wertpapiere durch Gebietsfremde …

…“

 Nationales Recht

6       Artikel 1 Absätze 1 und 2 des Gesetzesdekrets Nr. 192/2001 bestimmt:

„Bis ein vollständig dem Wettbewerb geöffneter Markt in den Bereichen Elektrizität und Gas in der Europäischen Union verwirklicht ist, gelten für die Erteilung oder Übertragung der Genehmigungen oder Konzessionen im Sinne der Decreti legislativi Nr. 79 vom 16. März 1999 über die elektrische Energie und Nr. 164 vom 23. Mai 2000 über den nationalen Erdgasmarkt im Hinblick auf die Sicherung der laufenden Liberalisierungs- und Privatisierungsprozesse in diesen Bereichen die in Absatz 2 genannten Voraussetzungen, soweit es um die unmittelbar oder mittelbar vom Staat oder anderen öffentlichen Stellen kontrollierten juristischen Personen geht, die auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung haben und nicht auf organisierten Kapitalmärkten notiert sind und die unmittelbar oder mittelbar oder über einen Dritten, auch aufgrund eines befristeten oder aufgeschobenen öffentlichen Angebots, Beteiligungen von mehr als 2 % am Gesellschaftskapital von Gesellschaften erwerben, die unmittelbar oder über von ihnen kontrollierte oder mit ihnen verbundene Gesellschaften in den genannten Bereichen tätig sind. Die Gesamtgrenze von 2 % bezieht sich auf die juristische Person selbst und auf die Gruppe, der sie angehört, also auf die juristische Person, die die Kontrolle ausübt, auch wenn sie nicht die Rechtsform einer Gesellschaft hat, auf die kontrollierten Gesellschaften und die gemeinsam kontrollierten Gesellschaften sowie auf die verbundenen Gesellschaften. Diese Grenze gilt auch für die juristischen Personen, die unmittelbar oder mittelbar, auch über kontrollierte oder verbundene Gesellschaften, Treuhandgesellschaften oder zwischengeschaltete Personen, Parteien, auch unter Beteiligung Dritter, eines Vertrages über die Ausübung des Stimmrechts oder von Gesellschaftsnebenabreden sind.

Wird die in Absatz 1 genannte Grenze überschritten, so ruht das mit der die Grenze überschreitenden Beteiligung verbundene Stimmrecht automatisch mit der Erteilung oder Übertragung der Genehmigungen oder Konzessionen nach Absatz 1 und wird beim Quorum der beratenden Versammlungen nicht berücksichtigt. Auch die Rechte auf Erwerb oder befristete oder aufgeschobene Zeichnung können nicht mehr ausgeübt werden.“

 Das Vorverfahren

7       Mit Schreiben vom 23. Oktober 2002 teilte die Kommission der italienischen Regierung ihre Ansicht mit, dass das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 insoweit gegen die Bestimmungen des Vertrages über den freien Kapitalverkehrs verstoße, als es die automatische Aussetzung der Stimmrechte für Beteiligungen vorsehe, die über 2 % hinausgingen, wenn diese Beteiligungen von öffentlichen Unternehmen erworben würden. Sie forderte diese Regierung daher auf, sich binnen zwei Monaten zu äußern.

8       Die italienische Regierung antwortete, dass das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 zwar eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs darstelle, jedoch das einzige Instrument sei, das geeignet sei, den italienischen Markt vor Investitionsformen zu schützen, die die Kriterien des freien Wettbewerbs nicht einhielten.

9       Die Kommission hielt diese Ausführungen für nicht ausreichend zur Rechtfertigung einer solchen Regelung und richtete daher am 11. Juli 2003 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Italienische Republik mit der Aufforderung, dieser binnen zwei Monaten nachzukommen.

10     Da eine Antwort der italienischen Regierung auf die mit Gründen versehene Stellungnahme ausblieb, hat die Kommission beschlossen, beim Gerichtshof die vorliegende Klage zu erheben.

 Zur Klage

 Vorbringen der Parteien

11     Die Kommission macht unter Berufung auf die Urteile des Gerichtshofes vom 4. Juni 2002 in der Rechtssache C‑367/98 (Kommission/Portugal, Slg. 2002, I‑4731), in der Rechtssache C‑483/99 (Kommission/Frankreich, Slg. 2002, I‑4781) und in der Rechtssache C‑503/99 (Kommission/Belgien, Slg. 2002, I‑4809) sowie vom 13. Mai 2003 in der Rechtssache C‑463/00 (Kommission/Spanien, Slg. 2003, I‑4581) und in der Rechtssache C‑98/01 (Kommission/Vereinigtes Königreich, Slg. 2003, I‑4641) geltend, dass durch das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 eine unterschiedliche und beschränkende Behandlung der von einer bestimmten Gruppe von Anlegern getätigten Investitionen eingeführt und damit der freie Kapitalverkehr innerhalb der Gemeinschaft behindert werde. Diese Regelung schrecke insbesondere alle öffentlichen Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats ab, die möglicherweise am Erwerb einer Beteiligung an den Gesellschaften interessiert seien, die in den Sektoren Elektrizität und Gas tätig seien, denn diesen Unternehmen sei es unmöglich, sich in zweckdienlicher Weise an den Entscheidungen dieser Gesellschaften zu beteiligen und einen Einfluss auf ihre Verwaltung auszuüben.

12     Artikel 56 EG unterscheide weder zwischen diskriminierenden und nichtdiskriminierenden Maßnahmen noch zwischen öffentlichen und privaten Unternehmen. Zwar bestimme dieser Artikel den Begriff „Kapitalverkehr“ nicht, doch fielen grenzüberschreitende Direktinvestitionen gemäß der Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361 unter diesen Begriff. Er sei insbesondere durch die Möglichkeit gekennzeichnet, sich tatsächlich an der Verwaltung und an der Kontrolle einer Gesellschaft zu beteiligen. Der Erwerb von Beteiligungen sowie die vollständige Ausübung der mit diesen Beteiligungen verbundenen Stimmrechte würden daher vom Begriff „Kapitalverkehr“ gedeckt.

13     Die italienische Regierung beantragt Klageabweisung.

14     Mit dem Gesetzesdekret Nr. 192/2001 werde keine diskriminierende Behandlung eingeführt. Es betreffe den Erwerb durch inländische öffentliche Unternehmen in gleicher Weise wie den Erwerb durch öffentliche Unternehmen anderer Mitgliedstaaten.

15     Im Übrigen beeinträchtige eine Einschränkung des Stimmrechts den freien Kapitalverkehr nicht in allen Fällen. Die italienische Regierung beruft sich hierfür beispielhaft auf die Artikel 85 bis 97 der Richtlinie 2001/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Mai 2001 über die Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Börsennotierung und über die hinsichtlich dieser Wertpapiere zu veröffentlichenden Informationen (ABl. L 184, S. 1) und Artikel 10 der Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. L 145, S. 1), mit denen Artikel 56 EG unmittelbar durchgeführt worden sei. Diese Bestimmungen, die ebenfalls eine Beschränkung des Stimmrechts ermöglichten, um zu verhindern, dass eine bloße Kapitalanlage in eine tatsächliche Möglichkeit der Kontrolle und Leitung eines Unternehmens umgewandelt werde, seien nicht als solche mit dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs unvereinbar.

16     Das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 sei hauptsächlich deshalb mit dem freien Kapitalverkehr vereinbar, weil es die in der Mitteilung der Kommission vom 13. März 2001, „Vollendung des Energiebinnenmarktes“ (KOM[2001] 125 endg.), aufgeführten Ziele betreffe, insbesondere das Ziel, den wettbewerbswidrigen Einfluss zu beschränken, den öffentliche Unternehmen in einer Monopolstellung, die die Kontrolle über in den Sektoren Elektrizität und Gas tätige Unternehmen übernähmen, auf die entsprechenden Märkte ausüben könnten.

17     Es treffe zu, dass die Öffnung der Märkte der Mitgliedstaaten in den Sektoren Elektrizität und Gas im Laufe der letzten Jahre aufgrund der Gemeinschaftsregelung, insbesondere der Richtlinien 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Dezember 1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 1997, L 27, S. 20) und 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1), erhebliche Fortschritte gemacht habe.

18     Jedoch habe die Umsetzung dieser Richtlinien im nationalen Recht der Mitgliedstaaten zu einer asymmetrischen Öffnung der verschiedenen nationalen Märkte geführt. Bestimmte Staaten hätten sich dafür entschieden, ihren Markt weiter zu öffnen, als es die Richtlinien vorsähen, andere hätten sich darauf beschränkt, ihren Markt strikt in dem durch diese gebotenen Umfang zu öffnen. Die Maßnahmen, die auf Gemeinschaftsebene ergriffen worden seien, um dieser fehlenden Ausgewogenheit abzuhelfen, hätten sich jedoch als unzureichend erwiesen. Es obliege daher nicht nur den Gemeinschaftsorganen, sondern auch den Mitgliedstaaten, die in der Wettbewerbsstruktur des betreffenden Marktes bestehenden Asymmetrien und die Wettbewerbsverzerrungen, die sich aus Missbräuchen ergeben könnten, zu bekämpfen.

19     So sei das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 das einzige Instrument gewesen, das es erlaubt habe, zu verhindern, dass der italienische Markt Ziel wettbewerbswidriger spekulativer Angriffe durch öffentliche Einrichtungen werde, die sich in anderen Mitgliedstaaten in demselben Sektor betätigten und durch ihre nationalen Regelungen begünstigt würden.

20     Das Problem, das sich im vorliegenden Fall stelle, unterscheide sich von demjenigen, zu dem die erwähnten Urteile Kommission/Portugal, Kommission/Frankreich, Kommission/Belgien, Kommission/Spanien und Kommission/Vereinigtes Königreich ergangen seien. In diesen Rechtssachen hätten die streitigen nationalen Maßnahmen jeweils dazu gedient, den Einfluss des Staates zu wahren und die Liberalisierung zu verhindern. Dagegen solle das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 den staatlichen Einfluss ausschließen, da es nur an öffentliche Unternehmen gerichtet sei. Daher ließen sich die in den erwähnten Urteilen aufgestellten Kriterien nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen.

21     Im Übrigen habe das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 zeitlich begrenzten Charakter. Es finde nur bis zur Verwirklichung eines vollständig liberalisierten Binnenmarktes in den Bereichen Gas und Elektrizität Anwendung.

22     Schließlich beschränke es sich auf die strikt notwendigen und verhältnismäßigen Maßnahmen, indem es nur öffentliche Unternehmen betreffe, die auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung einnähmen.

23     Nach Ansicht der Kommission sind alle diese Argumente unzutreffend.

24     Die Mitgliedstaaten könnten nicht in die Zuständigkeit der Gemeinschaft in diesem Bereich eingreifen. Es obliege nicht den nationalen Regierungen, sondern der Kommission als Hüterin der Verträge, für die ordnungsgemäße Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen und Verstößen gegen den freien Wettbewerb entgegenzutreten. Einseitige Maßnahmen, die von einigen Mitgliedstaaten unter dem Vorwand eingeführt worden seien, Verzerrungen auf ihren eigenen Märkten zu verhindern, würden im Gegenteil solche Verzerrungen auf dem gesamten Markt der Gemeinschaft hervorrufen, was nicht hingenommen werden könne. Die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen seien ausschließlich protektionistisch.

25     Im Übrigen könne keine Unzulänglichkeit der Gemeinschaftsregelung gerügt werden. Diese Regelung sei sogar kürzlich durch mehrere Maßnahmen, insbesondere die Richtlinien 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG (ABl. L 176, S. 37) und 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. L 176, S. 57) verstärkt worden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

26     Vorab ist darauf hinzuweisen, dass durch Artikel 56 Absatz 1 EG der freie Kapitalverkehr zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern umgesetzt wird. Zu diesem Zweck sieht er im Rahmen der Bestimmungen des mit „Der Kapital- und Zahlungsverkehr“ überschriebenen Kapitels des Vertrages vor, dass alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten sind.

27     Der EG-Vertrag enthält zwar keine Definition der Begriffe des Kapital- und des Zahlungsverkehrs, doch hat die Richtlinie 88/361 zusammen mit der Nomenklatur in ihrem Anhang unstreitig Hinweischarakter für die Definition des Begriffes des Kapitalverkehrs (vgl. Urteile Kommission/Vereinigtes Königreich, Randnr. 39, und vom 16. März 1999 in der Rechtssache C‑222/97, Trummer und Mayer, Slg. 1999, I‑1661, Randnrn. 20 und 21).

28     Die Rubriken I und III der Nomenklatur im Anhang der Richtlinie 88/361 und die dortigen Begriffsbestimmungen zeigen nämlich, dass es sich bei Direktinvestitionen in Form der Beteiligung an einem Unternehmen durch den Erwerb von Aktien und beim Erwerb von Wertpapieren auf dem Kapitalmarkt um Kapitalverkehr im Sinne von Artikel 56 EG handelt. Nach diesen Begriffsbestimmungen ist insbesondere die Direktinvestition durch die Möglichkeit gekennzeichnet, sich tatsächlich an der Verwaltung einer Gesellschaft und an deren Kontrolle zu beteiligen.

29     Im Licht dieser Erwägungen ist zu prüfen, ob das Gesetzesdekret Nr. 192/2001, das die automatische Aussetzung der Stimmrechte, die mit Beteiligungen von mehr als 2 % am Gesellschaftskapital von Gesellschaften verbunden sind, die in den Sektoren Elektrizität und Gas tätig sind, vorsieht, wenn diese Beteiligungen von nicht auf organisierten Kapitalmärkten notierten öffentlichen Unternehmen erworben werden, die eine beherrschende Stellung einnehmen, eine Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten darstellt.

30     In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die durch dieses Gesetzesdekret vorgesehene Aussetzung der Stimmrechte für die betroffene Kategorie öffentlicher Unternehmen eine tatsächliche Beteiligung an der Verwaltung und der Kontrolle der italienischen Unternehmen ausschließt, die auf den Märkten für Elektrizität und Gas tätig sind. Da das mit dem Gesetzesdekret 192/2001 verfolgte Ziel darin besteht, „wettbewerbswidrige Angriffe durch im gleichen Sektor in anderen Mitgliedstaaten tätige öffentliche Unternehmen“ zu verhindern, bewirkt es, dass insbesondere die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen öffentlichen Unternehmen davon abgeschreckt werden, Aktien der italienischen Unternehmen zu erwerben, die sich im Energiesektor betätigen.

31     Nach allem stellt die im Gesetzesdekret Nr. 192/2001 vorgesehene Aussetzung der Stimmrechte eine grundsätzlich durch Artikel 56 EG verbotene Beschränkung des freien Kapitalverkehrs dar.

32     Dieser Feststellung steht nicht entgegen, dass dieses Gesetzesdekret nur an eine Kategorie öffentlicher Unternehmen gerichtet ist, die auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung einnehmen. Denn die Bestimmungen des Vertrages über den freien Kapitalverkehr unterscheiden weder zwischen privaten und öffentlichen Unternehmen noch zwischen Unternehmen, die eine beherrschende Stellung einnehmen, und solchen, die keine solche Stellung einnehmen.

33     Ferner ist das Vorbringen der italienischen Regierung zurückzuweisen, da die Bestimmungen der Richtlinie 2004/39, die unter bestimmten Voraussetzungen eine Beschränkung der mit bestimmten Aktien verbundenen Stimmrechte vorsähen, mit den Bestimmungen des Vertrages über den freien Kapitalverkehr vereinbar seien, gelte für das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 das Gleiche. Diese Richtlinie, die im Rahmen der Niederlassungsfreiheit und entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung nicht im Rahmen des Artikels 56 EG erlassen worden ist, steht in einem unterschiedlichen und sehr speziellen Kontext, nämlich dem der Zulassung von Wertpapieren zur amtlichen Notierung. Stimmrechtsbeschränkungen sind dort nur als Sanktionen für die Nichtbeachtung der Rechtsvorschriften vorgesehen. Diese Beschränkungen sind daher im Unterschied zu Gesetzesdekret Nr. 192/2001 nicht geeignet, Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten von Investitionen in bestimmte inländische Unternehmen abzuschrecken. Was ferner die Artikel 85 bis 97 der Richtlinie 2001/34 angeht, so sehen diese nur Informationspflichten beim Erwerb oder bei der Veräußerung einer bedeutenden Beteiligung an einer börsennotierten Gesellschaft und eine Pflicht der Mitgliedstaaten vor, angemessene Sanktionen für den Fall vorzusehen, dass diese Pflichten nicht erfüllt werden. Die von den Mitgliedstaaten in diesem Bereich erlassenen Maßnahmen sind im Kontext der vorliegenden Rechtssache nicht relevant.

34     Es ist noch zu prüfen, ob die Beschränkung des freien Kapitalverkehrs durch die Bestimmungen des Vertrages gerechtfertigt werden kann.

35     In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der freie Kapitalverkehr als grundlegendes Prinzip des Vertrages nur dann durch eine nationale Regelung begrenzt werden kann, wenn diese aus den in Artikel 58 Absatz 1 EG aufgeführten Gründen oder aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Außerdem ist die nationale Regelung nur dann gerechtfertigt, wenn sie geeignet ist, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Zieles zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist, so dass sie dem Kriterium der Verhältnismäßigkeit entspricht (vgl. Urteile Kommission/Belgien, Randnr. 45, und vom 7. September 2004 in der Rechtssache C‑319/02, Manninen, Slg. 2004, I-7498, Randnr. 29).

36     Die italienische Regierung macht geltend, dass die Energiemärkte in Italien durch die Liberalisierung und die Privatisierung dem Wettbewerb geöffnet worden seien. Das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 diene dem Schutz gesunder und fairer Wettbewerbsbedingungen auf diesen Märkten. Mit ihm lasse sich verhindern, dass bis zu einer tatsächlichen Liberalisierung des Energiesektors in Europa der italienische Markt Ziel wettbewerbswidriger Angriffe seitens öffentlicher Unternehmen sei, die sich in anderen Mitgliedstaaten im gleichen Sektor betätigten und durch eine nationale Regelung begünstigt würden, die ihre privilegierte Stellung aufrechterhalten habe. Der Erwerb der Kontrolle über Unternehmen, die auf den italienischen Märkten für Elektrizität und Gas tätig seien, durch solche öffentliche Unternehmen könne die Anstrengungen der italienischen Behörden, den Energiesektor dem Wettbewerb zu öffnen, vereiteln.

37     Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann das Interesse an einer Stärkung der Wettbewerbsstruktur des fraglichen Marktes allgemein keine überzeugende Rechtfertigung für Beschränkungen des freien Kapitalverkehrs darstellen (vgl. Urteil Kommission/Portugal, Randnr. 52).

38     Auf alle Fälle finden die Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen (ABl. L 24, S. 1) Anwendung. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die in Rede stehende nationale Regelung nur auf öffentliche Unternehmen angewandt wird, die bereits eine beherrschende Stellung auf ihrem nationalen Markt einnehmen. Nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 139/2004 untersagt die Kommission jedoch Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, „insbesondere durch … Stärkung einer beherrschenden Stellung“, die bereits besteht.

39     Die italienische Regierung führt ferner die Notwendigkeit an, die Energieversorgung in Italien zu gewährleisten.

40     Selbst wenn die Notwendigkeit, die Energieversorgung zu gewährleisten, unter bestimmten Voraussetzungen Beschränkungen der Grundfreiheiten des Vertrages rechtfertigen kann (vgl. Urteile vom 10. Juli 1984 in der Rechtssache 72/83, Campus Oil u. a., Slg. 1984, 2727, Randnrn. 34 und 35, und Kommission/Belgien, Randnr. 46), hat die italienische Regierung nicht dargetan, inwiefern die Beschränkung der Stimmrechte, die nur auf eine genau festgelegte Kategorie öffentlicher Unternehmen zielt, unerlässlich ist, um dieses Ziel zu erreichen. Insbesondere erläutert sie nicht, weshalb es notwendig sein soll, dass die Aktien von Unternehmen, die sich im Energiesektor in Italien betätigen, von privaten Aktionären oder von öffentlichen Aktionären, die auf organisierten Kapitalmärkten notiert sind, gehalten werden, damit diese Unternehmen eine ausreichende und ununterbrochene Versorgung mit Elektrizität und Gas auf dem italienischen Markt gewährleisten können.

41     Somit hat die italienische Regierung nicht dargetan, dass das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 unerlässlich ist, um die Energieversorgung im Inland zu gewährleisten.

42     Daher ist festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen hat, dass sie das Gesetzesdekret Nr. 192/2001 beibehält, das die automatische Aussetzung der Stimmrechte im Zusammenhang mit Beteiligungen von mehr als 2 % am Gesellschaftskapital von Unternehmen vorsieht, die in den Sektoren Elektrizität und Gas tätig sind, wenn diese Beteiligungen von öffentlichen Unternehmen erworben werden, die nicht auf organisierten Kapitalmärkten notiert sind und auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung haben.

 Kosten

43     Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Italienischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Italienische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 56 EG verstoßen, dass sie das Gesetzesdekret (decreto-legge) Nr. 192 vom 25. Mai 2001, umgewandelt in das Gesetz Nr. 301 über Dringlichkeitsvorschriften zur Wahrung der Liberalisierungs‑ und Privatisierungsprozesse spezifischer Bereiche öffentlicher Dienstleistungen (legge n. 301, recante „disposizioni urgenti per salvaguardare i processi di liberalizzazione e privatizzazione di specifici settori dei servizi pubblici“) vom 20. Juli 2001 beibehält, das die automatische Aussetzung der Stimmrechte im Zusammenhang mit Beteiligungen von mehr als 2 % am Gesellschaftskapital von Unternehmen vorsieht, die in den Sektoren Elektrizität und Gas tätig sind, wenn diese Beteiligungen durch öffentliche Unternehmen erworben werden, die nicht auf organisierten Kapitalmärkten notiert sind und auf ihrem nationalen Markt eine beherrschende Stellung haben.

2.      Die Italienische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

Unterschriften.


* Verfahrenssprache: Italienisch.

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