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Dokument 61994CC0013

Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro vom 14. Dezember 1995.
P gegen S und Cornwall County Council.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Industrial Tribunal, Truro - Vereinigtes Königreich.
Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Entlassung einer transsexuellen Person.
Rechtssache C-13/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 I-02143

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:1995:444

61994C0013

Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro vom 14. Dezember 1995. - P gegen S und Cornwall County Council. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Industrial Tribunal, Truro - Vereinigtes Königreich. - Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Entlassung einer transsexuellen Person. - Rechtssache C-13/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 Seite I-02143


Schlußanträge des Generalanwalts


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1 Erneut wird der Gerichtshof gebeten, über die Auslegung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen(1) (im folgenden: Richtlinie) zu entscheiden.

Neu und sicher nicht unbedeutend ist der Umstand, daß sich eine transsexuelle Person auf die Richtlinie beruft. Die Fragen des Industrial Tribunal Truro lenken somit die Aufmerksamkeit des Gerichtshofes auf das Phänomen des Transsexualismus unter dem Gesichtspunkt des Verbotes der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts: Kann sich eine transsexuelle Person, die wegen ihres Transsexualismus, insbesondere aufgrund und anläßlich der Geschlechtsumwandlung, entlassen wird, mit Erfolg auf die Richtlinie berufen?

Gesetzlicher Rahmen, Sachverhalt und Vorabentscheidungsfragen

2 Die Richtlinie hat nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 zum Ziel, "daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen und in bezug auf die soziale Sicherheit unter den in Absatz 2 vorgesehenen Bedingungen verwirklicht wird. Dieser Grundsatz wird im folgenden als $Grundsatz der Gleichbehandlung` bezeichnet."

Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt, daß "der Grundsatz der Gleichbehandlung ... beinhaltet, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts - insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand - erfolgen darf". Die Anwendung dieses Grundsatzes betrifft insbesondere die "Bedingungen des Zugangs - einschließlich der Auswahlkriterien - zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen" (Artikel 3 Absatz 1) sowie die "Arbeitsbedingungen einschließlich der Entlassungsbedingungen" (Artikel 5 Absatz 1).

3 Bezueglich der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften ist auf den Sex Discrimination Act 1975 (Gesetz über die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts von 1975) hinzuweisen, der es als unmittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts definiert - und daher verbietet -, wenn eine Frau wegen ihres Geschlechts schlechter behandelt wird als ein Mann (Section 1 Buchstabe a). Weiter ist vorgesehen, daß die Vorschriften über die Diskriminierung von Frauen aufgrund des Geschlechts in gleicher Weise für die Behandlung von Männern gelten, unbeschadet der Sonderbehandlung, die Frauen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Entbindung zuteil wird (Section 2). Schließlich sei erwähnt, daß der Sex Discrimination Act den Mann und die Frau als männliche oder weibliche Person jeden Alters definiert und sodann bestimmt, daß Personen verschiedenen Geschlechts oder Familienstands so miteinander verglichen werden müssen, "daß die im einen Fall maßgeblichen Umstände im anderen Fall die gleichen sind oder sich nicht wesentlich unterscheiden" (Section 5).

Dagegen gibt es keine besondere Vorschrift über die Lage von Transsexuellen, auch nicht, nachdem sie sich einem operativen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung unterzogen haben(2). Anders als in manchen nationalen Rechtsordnungen behält im Vereinigten Königreich jeder das weibliche oder männliche Geschlecht, das er bei der Geburt hatte. Daher ist es nicht möglich, eine Änderung der ursprünglichen Geschlechtszuordnung im Personenstandsregister zu erwirken.

4 Kommen wir nun zum vorliegenden Fall, in dem es um die Entlassung einer transsexuellen Person geht, die wegen der Geschlechtsumwandlung erfolgt ist; genauer gesagt, erfolgte sie wegen der Ankündigung, sich einem operativen Eingriff zur Anpassung des biologischen (männlichen) Geschlechts an die (weibliche) geschlechtliche Identität unterziehen zu wollen. Im folgenden werde ich auf diese Person, die aus naheliegenden Gründen der Anonymität als P. bezeichnet wird, als eine weibliche Person Bezug nehmen, und zwar - das möchte ich betonen - ohne Rücksicht auf das ursprüngliche (männliche) Geschlecht, das immer noch aus ihrer Geburtsurkunde hervorgeht, und auf den Zeitpunkt, zu dem ihr Geschlecht durch den abschließenden operativen Eingriff in körperlicher Hinsicht tatsächlich umgewandelt wurde.

5 P. wurde im April 1991 als Geschäftsführer bei einer Bildungseinrichtung eingestellt, die zur maßgeblichen Zeit vom Cornwall County Council, der örtlich zuständigen Verwaltungsbehörde, betrieben wurde. Ein Jahr später teilte P. dem Direktor der betreffenden Einrichtung und Verwaltungsleiter, S., mit, daß sie beabsichtige, sich einem operativen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung zu unterziehen. S. zeigte sich zunächst verständnisvoll und tolerant und beruhigte P. in bezug auf ihre Stellung innerhalb der Einrichtung, änderte jedoch später seine Haltung. Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts beruhte diese Änderung im wesentlichen auf dem Widerstand der Mitglieder des Verwaltungsorgans, die irgendwann auch die Möglichkeit ins Auge fassten, P. als freie Mitarbeiterin der Einrichtung weiterzubeschäftigen.

Unterdessen unterzog sich P. im Sommer 1992 den ersten Eingriffen zur Geschlechtsumwandlung mit der Folge, daß sie wegen Krankheit der Arbeit fernblieb. In dieser Zeit reifte bei S. und den Mitgliedern des Verwaltungsorgans der Entschluß, P. zu entlassen; die zum 31. Dezember 1992 wirksame Kündigung wurde P. drei Monate zuvor mitgeteilt. Unmittelbar nach dieser Mitteilung wurde P. aufgefordert, bis zu diesem Zeitpunkt einige besondere Programme abzuschließen, an denen sie gerade arbeitete. Als P. mitteilte, daß sie in Frauenkleidern ins Büro zurückkehren werde, wurde ihr geantwortet, daß sie die ihr übertragenen Aufgaben gut zu Hause erledigen könne, so daß es nicht erforderlich und auch nicht vorgesehen sei, daß sie die Büroräume aufsuche. Das Beschäftigungsverhältnis von P. mit der Einrichtung endete schließlich am vorgesehenen Tag, ohne daß P. in das Büro zurückgekehrt wäre.

6 P. unterzog sich dem abschließenden Eingriff zur Geschlechtsumwandlung am 23. Dezember 1992, also vor dem Wirksamwerden ihrer Entlassung, aber nach der Mitteilung, mit der ihr am 15. September 1992 die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses angekündigt worden war. Am 13. März 1993 erhob P. Klage beim Industrial Tribunal Truro mit der Begründung, sie sei aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden. Sowohl S. als auch der Cornwall County Council brachten dagegen vor, daß P. eine betriebsbedingte Kündigung erhalten habe.

Das mit der Rechtssache befasste nationale Gericht hat jedoch festgestellt, daß betriebsbedingte Gründe zwar tatsächlich vorgelegen hätten, daß der wahre Grund für die Entlassung aber der gewesen sei, daß S. und der Cornwall County Council dem Vorhaben von P., sich einem Eingriff zur Geschlechtsumwandlung zu unterziehen, ablehnend gegenübergestanden hätten.

Der Gerichtshof hat daher - da dies vom vorlegenden Gericht so festgestellt wurde - davon auszugehen, daß P. einzig und allein wegen der angekündigten und später, noch vor Wirksamwerden der Kündigung, durchgeführten Geschlechtsumwandlung entlassen wurde.

7 Das Industrial Tribunal ist der Ansicht, daß sich aus dem englischen Recht keine zweckmässige Antwort für den vorliegenden Fall ergebe(3) und daß insbesondere auf der Grundlage des Sex Discrimination Act keine Diskriminierung zum Nachteil von P. vorliege. Das Gericht meint jedoch, daß die Gemeinschaftsrichtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen einer weitergehenden, auch eine Diskriminierung von Transsexuellen umfassenden Auslegung zugänglich sein könne, da sie sich auf Diskriminierungen "aufgrund des Geschlechts" beziehe. Gerade im Hinblick auf diese Möglichkeit stellt es dem Gerichtshof folgende Fragen:

1. Stellt die Entlassung einer transsexuellen Person aus einem mit einer Geschlechtsumwandlung zusammenhängenden Grund im Hinblick auf das Ziel der Richtlinie 76/207, das nach Artikel 1 in der Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung usw. besteht, einen Verstoß gegen die Richtlinie dar?

2. Untersagt Artikel 3 der Richtlinie, der die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrifft, eine auf dem Transsexualismus eines Arbeitnehmers beruhende Behandlung dieses Arbeitnehmers?

Transsexualismus und Recht

8 Zuerst einmal, was ist Transsexualismus? Ich habe ganz gewiß nicht vor, mich auf ein Gebiet zu wagen, das ganz andere Kenntnisse und Nachforschungen erfordert. Ich ziehe es vielmehr vor, auf die Definition des Transsexualismus in einer Empfehlung des Europarats hinzuweisen: "Le transsexualisme est un syndrome caractérisé par une personnalité double, l'une physique, l'autre psychique, la personne transsexuelle ayant la conviction profonde d'appartenir à l'autre sexe, ce qui la pousse à demander que son corps soit $corrigé` en conséquence."(4)

Bezueglich der Ursachen eines solchen Zustands hat die Klägerin zahlreiche Beiträge von Fachleuten vorgelegt, in denen die Ansicht vertreten wird, daß diese in biologischen Funktionsstörungen zu suchen seien, also bereits bei der Geburt vorhanden waren, oder in psychischen Funktionsstörungen, die mit der Umwelt zusammenhängen. Das Ergebnis ist jedenfalls das gleiche: eine fehlende Übereinstimmung zwischen biologischem Geschlecht und geschlechtlicher Identität(5). Insoweit genügt der Hinweis darauf, daß die Untersuchungen auf dem Gebiet des Transsexualismus zu äusserst interessanten Ergebnissen geführt haben, die in jedem Fall geeignet sind, mit alten Tabus und völlig unbegründeten Vorurteilen aufzuräumen und die Aufmerksamkeit von der völlig reduzierten und zuweilen irreführenden moralischen Dimension des Problems auf eine streng medizinische und wissenschaftliche Dimension zu lenken.

9 Worauf ich hinweisen möchte, ist in der Tat, daß das Phänomen des Transsexualismus heute, auch wenn es statistisch gesehen nicht von grosser Bedeutung ist(6), eine Realität darstellt, die in verschiedenen, nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch juristischen Gremien insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Individualgrundrechte erörtert wird(7). Das Recht ist daher mit dieser Realität konfrontiert und wird mit ihr in immer höherem Masse konfrontiert werden. Dies wäre auch nicht anders möglich. In der gegenwärtigen Gesellschaft, in der sich die Sitten und die Moral rasch ändern, in der die Bürgerfreiheiten in immer weiter- und tiefergehendem Masse geschützt werden und in der in die soziologischen und rechtlichen Untersuchungen - vom Grundsatz der Effektivität ausgehend - immer mehr gegenwartsbezogene und somit reale Werte Eingang finden, wäre es nicht gerechtfertigt, das Problem des Transsexualismus - das natürlich in moralischer Hinsicht völlig eigenständig beurteilt werden kann - von vornherein zu leugnen oder es gar zu verurteilen und als nicht im Einklang mit dem Recht anzusehen.

Meiner Meinung nach kann sich das Recht nicht von der gesellschaftlichen Wirklichkeit lösen, sondern es muß sich ihr in möglichst kurzer Zeit anpassen. Andernfalls besteht die Gefahr, daß es überholte Auffassungen vorschreibt und so eine statische Rolle spielt. Da das Recht die gesellschaftlichen Beziehungen regeln soll, muß es sich vielmehr der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen und somit imstande sein, neue Situationen zu regeln, die sich aus dieser Entwicklung und aus dem wissenschaftlichen Fortschritt ergeben. Unter diesem Gesichtspunkt besteht kein Zweifel, daß der Grundsatz der angeblichen Nichtverfügbarkeit des Personenstands, soweit er hier von Bedeutung ist, durch die Fakten überholt ist, und zwar in dem Masse und von dem Zeitpunkt an, in dem die administrativ-bürokratische Nichtverfügbarkeit des Geschlechts - und sei es auch nur wegen des auf diesem Gebiet eingetretenen wissenschaftlichen Fortschritts - nicht mehr der Unwandelbarkeit des Geschlechts entspricht.

10 Ein kurzer Blick auf die Situation, wie sie in den verschiedenen Staaten der Gemeinschaft auf diesem Gebiet besteht, zeigt tatsächlich eine klare, vor allem seit dem Beginn der achtziger Jahre festzustellende Tendenz zu einer immer weitergehenden Anerkennung des Phänomens, sowohl durch die Gesetzgebung als auch durch die Rechtsprechung. Diese Anerkennung äussert sich in erster Linie darin, daß die Geschlechtsumwandlung in dem Sinne akzeptiert wird, daß die dafür erforderlichen operativen Eingriffe nunmehr praktisch in allen Staaten, wenn auch nach verschiedenen Modalitäten, erlaubt sind(8). In zweiter Linie äussert sie sich darin, daß die Zulässigkeit derartiger Eingriffe für gewöhnlich - wiederum nach verschiedenen Modalitäten - mit der Genehmigung zur Berichtigung des Geschlechts in den Personenstandsregistern mit allen sich daraus ergebenden Folgen einhergeht.

Eine rechtliche Antwort auf das Problem des Transsexualismus ist in einigen Staaten durch den Erlaß von Ad-hoc-Regelungen gegeben worden. Dies gilt, was die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft betrifft, für Schweden(9), die Bundesrepublik Deutschland(10), Italien(11) und die Niederlande(12). Die betreffenden Gesetze ermächtigen die Transsexuellen, ihre Geburtsurkunde in der Weise ändern zu lassen, daß darin die Angabe der neuen geschlechtlichen Identität enthalten ist, so daß sie das Recht haben, zu heiraten, Kinder zu adoptieren und gemäß ihrer neuen geschlechtlichen Identität in den Genuß von Rentenansprüchen zu kommen.

Der Umstand, daß es in den anderen Mitgliedstaaten keine besonderen Gesetze auf diesem Gebiet gibt, bedeutet nicht, daß die Lage der Transsexuellen ignoriert wird. In manchen Staaten ergeben sich nämlich die Zulässigkeit der operativen Eingriffe bei Transsexuellen und die nachfolgende Anerkennung der Personenstandsänderung aus Gesetzen, die an sich nichts mit dem Problem des Transsexualismus zu tun haben(13). In den meisten anderen Staaten wird das Problem dagegen von Fall zu Fall durch die Rechtsprechung(14) oder, weitaus einfacher, auf der Verwaltungsebene(15) gelöst.

11 Mit dem Phänomen des Transsexualismus haben sich übrigens auch die Kommission und der Gerichtshof für Menschenrechte beschäftigt, und zwar unter dem doppelten Gesichtspunkt des Verstosses gegen den Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Artikel 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK) und gegen das Recht auf Eingehung einer Ehe (Artikel 12 EMRK).

Eröffnet wurde der Weg durch eine Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte, die sich 1979 einstimmig dafür ausgesprochen hatte, daß die Weigerung des belgischen Staates, Maßnahmen zu erlassen, aufgrund deren rechtmässig erfolgte Änderungen des Geschlechts im Personenstandsregister berücksichtigt werden können, einen Verstoß gegen den in Artikel 8 Absatz 1 EMRK verankerten Anspruch auf Achtung des Privatlebens darstelle(16).

12 Die Betrachtungsweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der über einen Verstoß des Vereinigten Königreichs gegen die Artikel 8 und 12 EMRK zu entscheiden hatte, war jedoch eine andere. Im Fall Rees entschied er nämlich, daß es "dem beklagten Staat überlassen sein muß, zu bestimmen, bis zu welchem Grad er den verbleibenden Forderungen der Transsexuellen entsprechen kann. Der Gerichtshof ist sich jedoch der Ernsthaftigkeit der Probleme dieser Personen und ihres Leidens bewusst. Die Konvention ist stets im Licht der gegenwärtigen Umstände auszulegen und anzuwenden ... Das Erfordernis angemessener rechtlicher Maßnahmen sollte daher insbesondere unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen beachtet werden."(17) Die gleiche Lösung wurde dann im Fall Cossey gewählt(18).

Im späteren Fall B. gegen Frankreich verurteilte der Straßburger Gerichtshof dagegen Frankreich mit der Begründung, daß der Umstand, daß die Klägerin, die sich 1972 einem Eingriff unterzogen hatte, um (auch) in geschlechtlicher Hinsicht eine Frau zu werden, keinen weiblichen Namen annehmen und ihren Personenstand nicht ändern konnte, einen Verstoß gegen Artikel 8 Absatz 1 EMRK darstellte(19). Um zu diesem Ergebnis zu gelangen - und auch um den Fall B. von den Fällen Rees und Cossey abzugrenzen(20) -, führte der Europäische Gerichtshof aus, daß sich die Einstellung in dieser Frage geändert habe, daß sich die Medizin weiterentwickelt habe und daß die mit dem Phänomen des Transsexualismus verbundenen Probleme immer grössere Bedeutung erlangt hätten.

13 Die vorstehende Untersuchung zeigt, daß operative Eingriffe zur Geschlechtsumwandlung gegenwärtig auch in den Ländern als rechtmässig angesehen werden, die eine entsprechende Personenstandsänderung noch nicht erlauben. Diese Tatsache allein bedeutet, daß das Recht infolge der auf diesem Gebiet eingetretenen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung dem Phänomen des Transsexualismus immer grössere Aufmerksamkeit widmet, indem es diejenigen Aspekte regelt, die bedeutsame Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Beziehungen haben können. Dies wird, wie wir gesehen haben, dadurch bestätigt, daß jedenfalls in den meisten nationalen Rechtsordnungen die Personenstandsänderung zugelassen wird, sei es aufgrund besonderer Gesetze oder aufgrund richterlicher Tätigkeit im Einzelfall.

Es bleibt noch die Frage, ob es einen Rechtsschutz für Personen geben kann, die ihr Geschlecht gewechselt haben oder sich in der Umwandlungsphase befinden, wenn sie speziell und nur aus diesem Grund diskriminiert oder jedenfalls im Berufsleben benachteiligt werden, möglicherweise, wie im vorliegenden Fall, durch eine Entlassung.

Antworten auf die Fragen

14 Das vorlegende Gericht bittet den Gerichtshof, zu entscheiden, ob unter Berücksichtigung des in Artikel 1 genannten Zieles der Richtlinie die Entlassung eines Transsexuellen wegen der Geschlechtsumwandlung eine nach dieser Richtlinie verbotene Diskriminierung darstellt und, allgemeiner gefragt, ob Artikel 3 Absatz 1 so auszulegen ist, daß er in bezug auf die Arbeitsbedingungen auch die Diskriminierung eines Transsexuellen erfasst.

Das Gericht geht davon aus, daß der Richtlinie, insbesondere dem Artikel 3 Absatz 1 insofern, als danach "keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erfolgt"(21), nicht oder zumindest nicht notwendigerweise allein der Gedanke der Diskriminierung zwischen einer männlichen und einer weiblichen Person zugrunde liegt, sondern so ausgelegt werden kann, daß auch die Diskriminierung von Transsexuellen erfasst wird.

15 Zunächst möchte ich bemerken, daß im vorliegenden Fall eher Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie, der ganz allgemein das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aufstellt, und Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie einschlägig sind, der speziell die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hinsichtlich der Entlassungsbedingungen verbietet. Die Frage des Gerichts ist daher in diesem Sinne umzuformulieren.

Somit ist jedenfalls die Frage zu klären, ob die Entlassung einer transsexuellen Person wegen der Geschlechtsumwandlung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, genauer, der Richtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, fällt.

16 Es stimmt zwar, daß die Richtlinie jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, doch ist auch unstreitig, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in der Richtlinie verankert ist, seinem Wortlaut nach an die traditionelle Dichotomie Mann/Frau anknüpft.

Um festzustellen, ob die Richtlinie, wie vom vorlegenden Gericht vorgeschlagen, so ausgelegt werden kann, daß sie auch die Diskriminierung von Transsexuellen erfasst, muß jedenfalls zunächst geprüft werden, ob die Schlechterbehandlung der Transsexuellen eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Sodann wird zu beurteilen sein, ob der Ausdruck "Diskriminierung aufgrund des Geschlechts" einzig und allein die Diskriminierung Mann/Frau oder aber, allgemeiner, jede Schlechterbehandlung erfasst, die mit dem Geschlecht zusammenhängt.

17 Ich beginne mit dem Hinweis auf die in medizinisch-wissenschaftlichen Kreisen immer stärker vertretene Auffassung, daß man über die traditionelle Einteilung hinausgehen und anerkennen müsse, daß es jenseits der Dichotomie Mann/Frau eine ganze Reihe von Merkmalen, Verhaltensweisen und Rollen gibt, die bei Männern wie bei Frauen anzutreffen sind, so daß das Geschlecht eher als ein Kontinuum angesehen werden sollte. Unter diesem Gesichtspunkt liegt es auf der Hand, daß es nicht richtig wäre, weiterhin ausschließlich diejenigen Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts zu ahnden, die sich auf Männer und Frauen im traditionellen Sinne der Begriffe beziehen, und diejenigen nicht zu schützen, die gerade wegen ihres Geschlechts und/oder ihrer geschlechtlichen Identität ebenfalls schlechter behandelt werden.

Die söben dargelegte Auffassung, die in der Tat eindrucksvoll ist, setzt eine Neudefinition des Geschlechts voraus, die in berufeneren Kreisen durchdacht werden sollte; daher ist dies nicht der Weg, den ich Ihnen vorschlage. Ich bin mir natürlich bewusst, daß man sich schon immer darauf beschränkt hat, das Geschlecht festzustellen, ohne daß dazu eine rechtliche Definition erforderlich gewesen wäre. Das Recht liebt keine Mehrdeutigkeiten, und es ist sicher einfacher, in Begriffen von Adam und Eva zu argumentieren.

Nach alledem halte ich jedenfalls die Ansicht für überholt, daß das Recht eine Frau berücksichtigt und schützt, die gegenüber einem Mann diskriminiert wird, und umgekehrt, diesen Schutz aber demjenigen versagt, der, wieder aufgrund des Geschlechts, ebenfalls diskriminiert wird, und zwar nur deshalb, weil er ausserhalb der traditionellen Einteilung Mann/Frau steht.

18 Der Einwand, der nur allzu sehr zu erwarten ist und der auch während des vorliegenden Verfahrens mehrfach erhoben wurde, ist der, daß das Element der Diskriminierung zwischen den Geschlechtern fehle, da die "transsexuelle Frau" nicht anders behandelt werde als der "transsexuelle Mann". Schließlich würden beide schlechter behandelt, so daß keine Diskriminierung vorliege. Ein Blick auf die einschlägige nationale Rechtsprechung untermauert diesen Standpunkt(22), wenn auch mit einigen Ausnahmen(23).

Eine solche Auffassung kann mich nicht überzeugen. Denn es ist zwar nicht auszuschließen, daß P. auch dann, wenn sie sich in der umgekehrten Situation befunden hätte, also vom weiblichen zum männlichen Geschlecht gewechselt wäre, trotzdem entlassen worden wäre. Eines ist jedoch nicht nur möglich, sondern sicher: P. wäre nicht entlassen worden, wenn sie ein Mann geblieben wäre.

Wie kann man daher behaupten, daß es sich nicht um eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts handelt? Wie kann man leugnen, daß das diskriminierende Kriterium gerade und nur das Geschlecht ist? Meiner Meinung nach liegt, wenn die Schlechterbehandlung des Transsexuellen mit dem Wechsel des Geschlechts zusammenhängt (oder besser: dadurch bestimmt wird), eine Diskriminierung wegen oder, wenn man dies vorzieht, aufgrund des Geschlechts vor.

19 In diesem Zusammenhang muß ich darauf hinweisen, daß das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts ein Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes ist, der verlangt, daß nicht auf diskriminierende Kriterien, in erster Linie Geschlecht, Rasse, Sprache und Religion, abgestellt wird. Es kommt darauf an, daß die einzelnen in gleichen Situationen gleichbehandelt werden.

Der Gleichheitsgrundsatz verbietet es daher, die Ungleichbehandlung einzelner auf bestimmte Unterscheidungsmerkmale zu stützen, zu denen gerade auch das Geschlecht gehört. Dies bedeutet, daß dem Geschlecht als solchem kein Gewicht beigemessen werden kann und darf, um die Behandlung z. B. von Arbeitnehmern in der einen oder anderen Weise zu beeinflussen. Dies ist der gleiche Gedanke, der meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Kalanke(24) zugrunde liegt, in denen ich mich, ich erinnere daran, gegen die Quoten zugunsten der Frauen bei Einstellungen und Beförderungen ausgesprochen habe, weil ich der Ansicht bin, daß das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts nur solche Ausnahmen erlaubt, die, weil sie auf die Herbeiführung einer substantiellen Gleichheit gerichtet sind, durch das Ziel der Sicherstellung einer tatsächlichen Gleichheit zwischen Personen gerechtfertigt sind.

Im vorliegenden Fall ist zumindest eine strikte Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes zu verlangen, so daß mit dem Geschlecht und/oder der geschlechtlichen Identität verbundene Konnotationen in keiner Weise von Bedeutung sein können. Im übrigen wäre es eher schwierig, wenn man deren Relevanz damit rechtfertigen wollte - dies ist aber auch nicht vorgebracht worden -, daß sich die Fähigkeiten und die Rolle der betreffenden Person wegen des Wechsels des Geschlechts negativ verändert hätten.

20 Hinzu kommt, daß das Geschlecht für die Zwecke dieser Rechtssache als Konvention, als sozialer Parameter von Bedeutung ist. Die Diskriminierungen, deren Opfer oft Frauen sind, beruhen sicher nicht auf ihren körperlichen Merkmalen, wohl aber auf der Rolle oder dem Bild, das die Gesellschaft von der Frau hat. Die ungünstigere Behandlung findet somit ihre logische Grundlage in der sozialen Rolle, die dem Frauendasein zugemessen wird, und sicher nicht in ihren körperlichen Merkmalen. Ebenso muß man erkennen, daß die Schlechterbehandlung der Transsexuellen zumeist mit einem negativen Bild, einem moralischen Werturteil verbunden ist, das nichts mit ihren Fähigkeiten im Berufsleben zu tun hat.

Eine solche Situation ist um so weniger hinnehmbar, wenn man die gesellschaftliche Entwicklung und den wissenschaftlichen Fortschritt betrachtet, die auf diesem Gebiet in den letzten Jahren eingetreten sind. Zwar trifft es, wie bereits gesagt, zu, daß die Transsexuellen, statistisch gesehen, nicht erheblich ins Gewicht fallen, doch trifft es auch zu, daß es gerade deshalb dringend erforderlich ist, daß sie wenigstens ein Minimum an Schutz erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt käme die Behauptung, die Schlechterbehandlung von P. sei deshalb nicht aufgrund des Geschlechts erfolgt, weil sie auf den Wechsel des Geschlechts zurückzuführen sei oder weil man in diesem Fall nicht von einer Diskriminierung zwischen den Geschlechtern sprechen könne, einem spitzfindigen hermeneutischen Formalismus gleich, der die wahre Substanz dieses grundlegenden und unverzichtbaren Wertes der Gleichheit preisgeben würde.

21 Es bleibt noch zu prüfen, ob eine Richtlinie, die nach ihrem Wortlaut die Beseitigung der Diskriminierungen zwischen Männern und Frauen gewährleisten soll, auch die Schlechterbehandlung von Transsexuellen erfassen kann. Anders gesagt, hat man, solange es keine besonderen Rechtsvorschriften gibt, in denen die Transsexuellen ausdrücklich berücksichtigt werden, davon auszugehen, daß den Transsexuellen - wenn sie diskriminiert werden - keinerlei Rechtsschutz gewährt wird?

Insoweit ist ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts nicht uninteressant, in dem - ohne daß eine einschlägige Regelung vorgelegen hätte - das Recht der Transsexuellen auf eine Personenstandsänderung anerkannt wurde. In diesem Urteil wird folgendes ausgeführt: "Gewiß erscheint es im Interesse der Rechtssicherheit geboten, daß der Gesetzgeber die personenstandsrechtlichen Fragen einer Geschlechtsumwandlung und deren Auswirkungen regelt. Solange dies aber nicht geschehen ist, stellt sich für die Gerichte keine andere Aufgabe als etwa im Falle der Gleichberechtigung von Mann und Frau vor Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes."(25)

22 Zunächst stellen die Transsexuellen sicher kein drittes Geschlecht dar, so daß man auch unter Berücksichtigung der zuvor erwähnten Anerkennung ihres Rechts auf geschlechtliche Identität(26) schon grundsätzlich einräumen muß, daß sie von der Richtlinie erfasst werden.

Zweitens ist die Richtlinie nichts anderes als die Ausprägung eines allgemeinen Grundsatzes und eines Grundrechts. Und an dieser Stelle erinnere ich daran, daß die Wahrung der Grundrechte Bestandteil der allgemeinen Grundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung ist, deren Einhaltung der Gerichtshof zu sichern hat, und daß "es ... sich nicht bezweifeln [lässt], daß die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu diesen Grundrechten gehört"(27).

23 Wird das Problem in dieser Weise formuliert, so ist es meiner Ansicht nach nur allzu deutlich, daß die Richtlinie, die auf das Jahr 1976 zurückgeht, das berücksichtigt hat, was wir als die im Zeitpunkt ihres Erlasses bestehende "normale" Realität bezeichnen können. Es ist nur natürlich, daß sie nicht ausdrücklich ein Problem und eine Realität berücksichtigt hat, die damals erst begonnen haben, "entdeckt" zu werden. Soweit die Richtlinie jedoch Ausdruck eines allgemeineren Grundsatzes ist, wonach das Geschlecht für die Behandlung eines jeden einzelnen keine Rolle spielen darf, müsste sie in der Weise weiter ausgelegt werden, daß alle Situationen erfasst werden, in denen das Geschlecht als diskriminierendes Kriterium erscheint.

Es sollte überdies darauf hingewiesen werden, daß es in der Begründung der Richtlinie ausdrücklich heisst: "Die Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern stellt eines der Ziele der Gemeinschaft dar, soweit es sich insbesondere darum handelt, auf dem Wege des Fortschritts die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte zu fördern."(28) Die Richtlinie soll somit im Hinblick auf die Erreichung der wirtschaftlichen Ziele, die durch den Vertrag nach Kriterien der sozialen Gerechtigkeit festgelegt worden sind, im wesentlichen die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer gewährleisten. Unter diesem Blickwinkel scheint es mir ganz klar zu sein, daß alle Arbeitnehmer, also auch diejenigen, die aufgrund eines operativen Eingriffs das Geschlecht gewechselt haben, Anspruch auf den durch die Richtlinie gewährten Schutz haben, und zwar, ich wiederhole es, immer dann, wenn das Geschlecht als diskriminierendes Kriterium erscheint.

In diesem Sinne hat sich auch das Europäische Parlament mit einer Entschließung zur Diskriminierung von Transsexuellen vom 9. Oktober 1989 geäussert, in der die Kommission und der Rat aufgefordert werden, "klarzustellen, daß die Richtlinien der Gemeinschaft über die Gleichstellung von Männern und Frauen am Arbeitsplatz auch eine Diskriminierung von Transsexuellen verbieten"(29). Dieser Umstand, daß das Parlament nur klargestellt haben will, daß die Gemeinschaftsrichtlinien auch die Transsexuellen erfassen, bedeutet, daß nach Ansicht des Parlaments der durch die betreffenden Richtlinien gewährleistete Schutz schon jetzt für die Transsexuellen gelten müsste.

24 Schließlich weiß ich sehr wohl, daß ich den Gerichtshof um eine "mutige" Entscheidung bitte. Ich tü dies aber in der tiefen Überzeugung, daß es hier um einen universalen, grundlegenden Wert geht, der mit unauslöschlichen Buchstaben in die modernen Rechtstraditionen und die Verfassungen der entwickelteren Länder eingemeisselt ist: die Unerheblichkeit des Geschlechts im Hinblick auf die Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen. Wer an diesen Wert glaubt, kann den Gedanken nicht akzeptieren, daß es eine Regelung erlaubt, jemanden zu entlassen, weil er eine Frau oder ein Mann ist oder weil er von einem Geschlecht (gleich, von welchem) zum anderen aufgrund einer Operation wechselt, die - nach dem gegenwärtigen medizinischen Kenntnisstand - das einzige Mittel ist, um die somatischen und psychischen Merkmale in ein Gleichgewicht zu bringen. Eine andere Lösung klänge wie eine - im übrigen unzeitgemässe - moralische Verurteilung des Transsexualismus, gerade wenn der wissenschaftliche Fortschritt und die gesellschaftliche Entwicklung auf diesem Gebiet dem Problem eine Dimension geben, die sicher über die moralische Dimension hinausgeht.

Ich bin mir darüber im klaren, daß es im Gemeinschaftsrecht, ich wiederhole es, keine präzise Vorschrift gibt, die speziell und ausdrücklich dazu gedacht ist, das Problem zu regeln: Aber man entnimmt eine solche Regelung unschwer und eindeutig den Grundsätzen und den Zielen des gemeinschaftlichen Sozialrechts, der Begründung der Richtlinie, die das Erfordernis erwähnt, "auf dem Wege des Fortschritts die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte zu fördern", sowie der Rechtsprechung des Gerichtshofes, die stets aufmerksam ist und voranschreitet, wenn es um die Gewährleistung des Schutzes benachteiligter Personen geht. So glaube ich auch, daß es schade wäre, wenn diese Gelegenheit versäumt würde, mit einer mutigen, aber gerechten und rechtlich korrekten, da unbestreitbar auf den bedeutenden Wert der Gleichheit gestützten und an diesem ausgerichteten Entscheidung ein gewichtiges Zeichen für die Gesellschaft zu setzen.

Schließlich erinnere ich mit den Worten von Generalanwalt Trabucchi aus Schlussanträgen, die gut zwanzig Jahre zurückliegen, daran, daß "[w]enn es unser Wunsch ist, daß das Gemeinschaftsrecht nicht nur eine starre Wirtschaftsregelung, sondern eine Rechtsordnung sei, die der Gesellschaft angepasst ist, die es lenken soll, und wenn wir möchten, daß ein Recht existiere, das mit dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit und den Erfordernissen der europäischen Integration nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Völker in Einklang steht, ... wir die - mehr als berechtigte - Erwartung des ... [vorlegenden] Richters nicht enttäuschen [dürfen]"(30).

25 Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich daher dem Gerichtshof vor, die Fragen des Industrial Tribunal Truro wie folgt zu beantworten:

Artikel 2 Absatz 1 und Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates sind so auszulegen, daß sie der Entlassung einer transsexuellen Person wegen der Geschlechtsumwandlung entgegenstehen.

(1) - ABl. L 39, S. 40.

(2) - An dieser Stelle ist der Hinweis angebracht, daß im Vereinigten Königreich keine rechtlichen Formalitäten für den operativen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung verlangt werden und daß die gesamten Kosten vom nationalen System der sozialen Sicherheit getragen werden. Hinzu kommt, daß nach dem Recht des Vereinigten Königreichs jeder seinen Namen ändern und ihn ohne jede Einschränkung oder Formalitäten verwenden kann, so daß ein Transsexueller keinerlei Schwierigkeiten hat, seinen Namen zu ändern und ihn in Dokumenten wie Führerschein, Reisepaß, Kraftfahrzeugschein, Unterlagen der sozialen Sicherheit und Steuerunterlagen zu ändern. Für eine vollständige Darstellung der Stellung und der Rechte Transsexueller im Vereinigten Königreich siehe Bradley, "Transsexualisme - L'idéologie, les principes juridiques et la culture politique", in Transsexualisme, médecine et droit, Actes du XXIII Colloque de droit européen, Vrije Universiteit Amsterdam, 14-16 avril 1993, 1995, S. 63 ff.

(3) - Das Industrial Tribunal bemerkt insbesondere, daß die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses vorliegend nicht als ungerechtfertigte Entlassung bewertet werden könne, da im Vereinigten Königreich dafür verlangt werde, daß das Beschäftigungsverhältnis seit mindestens zwei Jahren bestanden habe. Im Zeitpunkt der Entlassung hatte P. für die betreffende Einrichtung erst seit 20 Monaten gearbeitet.

(4) - Empfehlung 1117 vom 29. September 1989 "relative à la condition des transsexüls", mit der übrigens das Ministerkomitee ersucht wurde, die Mitgliedstaaten zum Erlaß von Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet aufzufordern.

(5) - Zur Vertiefung dieses Gesichtspunkts siehe Reed, "Aspects psychiatriques et psychologiques du transsexualisme", und Gooren, "Aspects biologiques du transsexualisme et leur importance pour la réglementation en ce domaine", beide in Transsexualisme, médecine et droit, a. a. O., S. 25 ff. und 123 ff.

(6) - Nach den von der Klägerin vorgelegten Angaben beabsichtigen in Europa gegenwärtig eine von 30 000 männlichen Personen und eine von 100 000 weiblichen Personen eine Geschlechtsumwandlung durch operativen Eingriff.

(7) - So z. B. in der parlamentarischen Versammlung des Europarats, deren Arbeiten auf diesem Gebiet schließlich zum Erlaß der bereits genannten Empfehlung 1117 zur Lage der Transsexuellen geführt haben.

(8) - Insoweit sei noch einmal darauf hingewiesen, daß im Vereinigten Königreich, wo es noch nicht möglich ist, den Geschlechtseintrag im Personenstandsregister berichtigen zu lassen, der zur Geschlechtsumwandlung führende operative Eingriff nicht nur ohne jede rechtliche Formalitäten zulässig ist, sondern darüber hinaus vollständig vom National Health Service bezahlt wird.

(9) - Gesetz vom 21. April 1972 (SFS 1972, S. 119). Siehe die französische Übersetzung in der Revü trimestrielle de droit civil, 1976, S. 295 ff.

(10) - Gesetz vom 10. September 1980 (BGBl. 1980 I S. 1654 ff.). Dieses Gesetz sieht interessanterweise sowohl eine sogenannte "kleine Lösung", die in der Erlaubnis der Namensänderung besteht, als auch eine "grosse Lösung" vor, die mit einem operativen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung verbunden ist.

(11) - Gesetz Nr. 164 vom 14. April 1982 (GURI Nr. 106 vom 19. April 1982, S. 2879 ff.). Dazu ist zu sagen, daß die italienische Corte costituzionale den Einwand der Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die Berichtigung des Geschlechts zurückgewiesen hat (Foro it., I, 1985, col. 2162 ff.).

(12) - Gesetz vom 24. April 1985 (Staatsblad 1985, S. 243 ff.).

(13) - Dies ist z. B. in Dänemark der Fall, wo das Gesetz vom 11. Mai 1935 (sic!) über die freiwillige Kastration entsprechend angewandt wird. Den Personen, die zu einem operativen Eingriff aufgrund dieses Gesetzes zugelassen werden, wird sodann automatisch das Recht zugestanden, die Personenstandsänderung zu veranlassen.

(14) - Dies gilt für Frankreich, Belgien, Spanien, Portugal, Luxemburg und Griechenland (allerdings ist in Griechenland die Personenstandsänderung bis heute nur bei Zwittern gestattet worden).

(15) - Dies ist in Österreich der Fall, wo es nunmehr - seit 1981 - ständige Praxis ist, daß der Standesbeamte den Wechsel des Geschlechts unter der blossen Voraussetzung in der Geburtsurkunde vermerkt, daß sich die betreffende Person tatsächlich einem operativen Eingriff unterzogen hat, was durch ein Sachverständigengutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Wien belegt werden muß.

(16) - D. Van Oosterwijck gegen Belgien (Beschwerde Nr. 7654/76), Bericht der Kommission vom 1. März 1979, veröffentlicht in Rapport européen sur les droits de l'homme, 1981, S. 557 ff.

(17) - Rees gegen Vereinigtes Königreich (2/1985/88/135), Urteil vom 17. Oktober 1986, Nr. 47, Serie A, Band 106.

(18) - Cossey gegen Vereinigtes Königreich (16/1989/176/232), Urteil vom 27. September 1990, Nr. 42, Serie A, Band 184.

(19) - B. gegen Frankreich (57/1990/248/319), Urteil vom 25. März 1992, Nr. 63, Serie A, Band 232-C.

(20) - Insbesondere stellte sich heraus, daß in Frankreich, im Unterschied zu dem im Vereinigten Königreich geltenden System, das Personenstandsregister problemlos geändert werden kann. Siehe hierzu ausserdem oben, Fußnote 2.

(21) - Die gleiche Bestimmung findet sich ausser in Artikel 3 Absatz 1 auch allgemein gefasst in Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie.

(22) - Ich weise vor allem auf das Urteil White v British Sugar Corporation, [1977] IRLR 121, hin, in dem ein englisches Industrial Tribunal entschieden hat, daß der Sex Discrimination Act nicht auf den Fall der Entlassung einer transsexuellen Frau anwendbar sei, die keinen Eingriff zur Geschlechtsumwandlung hatte vornehmen lassen, sich aber bei der Einstellung als Mann ausgegeben hatte. Sodann gibt es hierzu zahlreiche Urteile von Gerichten der Vereinigten Staaten. Praktisch in allen wurde die Entlassung von Transsexuellen mit der Begründung für rechtmässig gehalten, daß in solchen Fällen keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts erkennbar sei (siehe z. B. Großman v Bernards Township Board of Education, 11 FEP Cases 1196, 1975; Kirkpatrick v Seligman and Latz, 636 F 2d 1047, 1981; Sommers v Budget Marketing, 667 F 2d 748, 1982; sowie Ulane v Eastern Airlines, 35 FEP Cases 1348, 1984). Besondere Erwähnung verdient der Fall Holloway v Arthur Andersen & Co. (566 F 2d 659, 1977), der ganz ähnlich ist wie der vorliegende Fall; dort wurde die Entlassung eines Transsexuellen wegen der von ihm aufgenommenen Behandlung zur Geschlechtsumwandlung für rechtmässig gehalten.

(23) - Siehe insoweit das erstinstanzliche Urteil im Fall Ulane v Eastern Airlines, 35 FEP Cases 1332, 1984, in dem das Gericht entschieden hat, daß die Entlassung einer Angestellten wegen ihres Transsexualismus einer Entlassung aufgrund des Geschlechts gleichkomme. Eine andere bedeutsame Ausnahme stellt der Fall Richards v United States Tennis Association (93 misc. 2d 713, 400 N.Y.S. 2d 267, 1977) dar, in dem ein Tennisspieler, der nach dem Eingriff, dem er sich unterzogen hatte, um (auch) körperlich eine Frau zu werden, verlangte, an Frauenturnieren teilnehmen zu können. Der Supreme Court des Staates New York gestattete Richards - trotz des Widerstands des Tennisverbands, der vortrug, daß Richards im Vorteil wäre, weil sie ihre männliche Muskulatur behalte -, an den US Open der Frauen 1977 teilzunehmen (der Vollständigkeit halber möchte ich bemerken, daß Richards in der ersten Runde Wade mit 6-1, 6-4 unterlag).

(24) - Urteil vom 17. Oktober 1995 in der Rechtssache C-450/93 (Slg. 1995, I-3051).

(25) - BVerfG, Urteil vom 11. Oktober 1978, NJW 1979, S. 595 f.

(26) - Siehe insbesondere Nrn. 10 bis 13.

(27) - Urteil vom 15. Juni 1978 in der Rechtssache 149/77 (Defrenne II, Slg. 1978, 1365, Randnr. 27; Hervorhebungen von mir). Vgl. ausserdem zuletzt Urteil vom 28. Januar 1992 in der Rechtssache T-45/90 (Speybrouck, Slg. 1992, II-33) in dem das Gericht gerade bekräftigt hat, daß "der Grundsatz der Gleichbehandlung von Frauen und Männern im Bereich der Berufstätigkeit und entsprechend das Verbot jeder unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts zu den Grundrechten gehört, deren Wahrung gemäß Artikel 164 EWG-Vertrag Aufgabe des Gerichtshofes und des Gerichts ist" (Randnr. 47).

(28) - Dritte Begründungserwägung (Hervorhebung von mir).

(29) - ABl. C 256, S. 33 (Hervorhebung von mir).

(30) - Schlussanträge des Generalanwalts Trabucchi in der mit Urteil vom 15. Juni 1975 entschiedenen Rechtssache 7/75 (Eheleute F., Slg. 1975, 692 ff., 697).

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