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Document 52020AE4256

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — EU-Agenda zur Drogenbekämpfung und Aktionsplan für den Zeitraum 2021–2025“ (COM(2020) 606 final)

EESC 2020/04256

ABl. C 56 vom 16.2.2021, p. 47–52 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

16.2.2021   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 56/47


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu der „Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen — EU-Agenda zur Drogenbekämpfung und Aktionsplan für den Zeitraum 2021–2025“

(COM(2020) 606 final)

(2021/C 56/06)

Hauptberichterstatter:

Ákos TOPOLÁNSZKY

Befassung

Europäische Kommission, 23.9.2020

Rechtsgrundlage

Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Zuständige Fachgruppe

Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

Präsidiumsbeschluss

15.9.2020

Verabschiedung auf der Plenartagung

3.12.2020

Plenartagung Nr.

556

Ergebnis der Abstimmung

(Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

246/1/3

1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

1.1.

In der nunmehr auslaufenden Drogenstrategie der EU werden die Rolle und Bedeutung einer ausgewogenen und faktengestützten Planung sowie der Überwachung und Evaluierung der Drogenpolitik hervorgehoben und erläutert.

1.2.

In den Schlussfolgerungen des Berichts zur externen Evaluierung der EU-Drogenstrategie heißt es jedoch, dass die Ziele der Strategie zur Angebots- und Nachfragereduzierung nur teilweise erreicht wurden, während bei der internationalen Zusammenarbeit, der Überwachung, Evaluierung und Forschung erhebliche Fortschritte zu verzeichnen sind. In dem Bericht wird auf Missverhältnisse bei der Verwendung der Finanzmittel hingewiesen, insbesondere zu Lasten von Maßnahmen zur Nachfragereduzierung.

1.3.

Eine Untersuchung des Drogenforums der Zivilgesellschaft der Europäischen Kommission ergab erhebliche Mängel bei der Umsetzung der Gesundheits- und Sozialmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten und Gemeinden. In den meisten Mitgliedstaaten fehlen viele faktengestützte Präventions- und Schadensminimierungsmaßnahmen entweder komplett oder werden nur in geringem Umfang durchgeführt.

1.4.

Am 24. Juli 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre neue Strategie für die Sicherheitsunion (2020–2025), die auch das Drogenprogramm umfasst. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) betrachtet das Programm, in dem der bisherige ausgewogene, faktengestützte, konsensgetragene und daher positiv bewertete Ansatz für die Drogenpolitik aufgegeben wurde, in seiner derzeitigen Form als einen erheblichen Rückschritt.

1.5.

Der EWSA begrüßt den Beschluss der Horizontalen Arbeitsgruppe „Drogen“ des Europäischen Rates vom 28. September, in dem der deutsche Ratsvorsitz aufgefordert wird, das Dokument der Europäischen Kommission bis Dezember zu überarbeiten. Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass dieser fachliche und politische Ansatz, der die konsensgetragene Grundlage der vorherigen Drogenstrategie war, mit dieser zehnten Drogenstrategie der EU weiterverfolgt und ausgebaut werden sollte.

1.6.

Die EU sollte die in ihrer bisherigen Strategie dargelegten Grundwerte beibehalten und nachdrücklich verteidigen und sich hierzu in ihrem Strategiedokument verpflichten.

1.7.

Der EWSA empfiehlt, das Gleichgewicht zwischen Maßnahmen zur Nachfragereduzierung und zur Schadensminimierung in der neuen europäischen Drogenstrategie sowie dem neuen Aktionsplan (bzw. den neuen Aktionsplänen) sowohl in Bezug auf die Zahl der strategischen Maßnahmen als auch auf die Mittelzuweisung deutlich zu verbessern.

1.8.

Es ist ein Programm erforderlich, in dem das Drogenphänomen mit einem wirklich ausgewogenen, integrierten und multidisziplinären Ansatz im Rahmen der Menschenrechte, der internationalen Zusammenarbeit, der Aspekte der öffentlichen Gesundheit sowie der wissenschaftlichen Erkenntnisse und einer kontinuierlichen Bewertung angegangen wird. In der EU-Drogenstrategie sollten die Grundrechte der Drogenkonsumenten bei ihrer Behandlung und Versorgung anerkannt werden, wie dies auch bei allen anderen Krankheitskategorien der Fall ist.

1.9.

Der EWSA hält es für notwendig, auch hier die Rechtsanwendungspraxis der Mitgliedstaaten im Einklang mit den Harmonisierungserfordernissen langfristig kohärenter zu gestalten, da die derzeitigen Unterschiede in der Praxis der Mitgliedstaaten eindeutig gegen die Menschenrechte verstoßen.

1.10.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass die schutzbedürftigen Gruppen von Drogenkonsumenten besonders stark unter den negativen Auswirkungen der epidemiologischen Lage leiden, durch die der Drogenkonsum wesentlich riskanter werden kann.

1.11.

Auf der Grundlage des bereits zur Nachfragereduzierung verwendeten Modells sollten so bald wie möglich Indikatoren zur Bewertung der Auswirkungen der angebotssenkenden Maßnahmen sowie Qualitätsstandards festgelegt werden.

2.   Hintergrund

2.1.

Der erste gemeinsame Drogenaktionsplan der Europäischen Union wurde 1990 vom Europäischen Ausschuss für Drogenbekämpfung (CELAD) ausgearbeitet, der auf Initiative des französischen Präsidenten Mitterand eingerichtet wurde. 1995 übernahm die Europäische Kommission die Aufgabe, europäische Drogenstrategien zu entwickeln. Die jüngste EU-Drogenstrategie wurde am 7. Dezember 2012 vom Europäischen Rat für einen Zeitraum von sieben Jahren (2013–2020) angenommen und beruhte auf einem „ausgewogenen, integrierten und faktengestützten Konzept“. In diesem Zeitraum wurden kurzfristige Ziele und Zuständigkeiten in zwei Aktionsplänen (2013–2016, 2017–2020) festgelegt.

2.2.

Auch wenn die EU-Drogenstrategie nicht rechtsverbindlich ist, bringt sie doch die gemeinsamen politischen Verpflichtungen sowie die Ambitionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten zum Ausdruck. In der Strategie werden die Tätigkeiten der europäischen Organe und Agenturen definiert, sie beeinflusst die politischen Ansätze der Mitgliedstaaten, umfasst gemeinsame Zielvorstellungen und Prioritäten und gewährleistet ein einvernehmliches Auftreten auf der internationalen Bühne. Die EU hat das auch entschlossen verdeutlicht, z. B. anlässlich der außerordentlichen Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UNGASS) im Jahr 2016 oder auf der Tagung der Suchtstoffkommission der Vereinten Nationen im Jahr 2019 (1).

2.3.

In der EU-Drogenstrategie werden die Rolle und Bedeutung einer ausgewogenen und faktengestützten Planung sowie der Überwachung und Evaluierung der Drogenpolitik hervorgehoben und erläutert.

2.4.

In den Schlussfolgerungen des Berichts zur externen Evaluierung der EU-Drogenstrategie (2) heißt es, dass die Ziele der Strategie zur Angebots- und Nachfragereduzierung nur teilweise erreicht wurden, während bei der internationalen Zusammenarbeit, der Überwachung, Evaluierung und Forschung erhebliche Fortschritte zu verzeichnen sind. In dem Bericht wird auf Missverhältnisse bei der Verwendung der Finanzmittel hingewiesen — insbesondere zu Lasten von Maßnahmen zur Nachfragereduzierung. Außerdem wird empfohlen, zur wirksameren Nutzung der begrenzten Mittel die Maßnahmen zu priorisieren und die bisherige, achtjährige Laufzeit der Strategie zu verkürzen.

2.5.

Das Drogenforum der Zivilgesellschaft der Europäischen Kommission hat — unter Mitwirkung von 169 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus 32 Ländern — untersucht, inwieweit die Ziele des Aktionsplans (2017–2020) auf nationaler und lokaler Ebene erreicht wurden. (3) In seinem Bericht werden erhebliche Mängel bei der Umsetzung der Gesundheits- und Sozialmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten und Gemeinden konstatiert. In den meisten Mitgliedstaaten fehlen viele faktengestützte Präventions- und Schadensminimierungsmaßnahmen entweder komplett oder werden nur in geringem Umfang durchgeführt. Dies ist hauptsächlich auf unzureichende Finanzmittel und mangelnde politische Akzeptanz zurückzuführen.

2.6.

Mit der Strategie wurde erstmals ein gemeinsamer Rahmen zur Evaluierung von Nachfragereduzierungsmaßnahmen geschaffen: „eine Reihe gleich wichtiger und einander verstärkender Maßnahmen, einschließlich Prävention (umweltbezogene, allgemeine, selektive und indizierte Prävention), frühzeitiges Erkennen und Eingreifen, Minderung von Gesundheitsrisiken und -schäden, Therapie, Rehabilitation, soziale Wiedereingliederung und Genesung“.

2.7.

In dem Aktionsplan der Strategie und in ihrer abschließenden Bewertung wird die Notwendigkeit einer wissenschaftlich fundierten Überwachung der Maßnahmen zur Verringerung des Drogenangebots und des Einsatzes alternativer Sanktionen für Drogenkonsumenten sowie die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Konzipierung, Umsetzung, Überwachung und Bewertung der Strategien auf europäischer wie auf nationaler Ebene hervorgehoben.

3.   Die Mitteilung der Europäischen Kommission

3.1.

Am 24. Juli 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission ihre neue Strategie für eine Sicherheitsunion (2020–2025), die aus drei Elementen besteht: der Strategie zur Bekämpfung des Kindesmissbrauchs, dem Drogenprogramm (im Folgenden: Programm) und der Strategie zur Bekämpfung des illegalen Waffenhandels. In der Einleitung des Programms wird ausdrücklich auf die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der europäischen Drogenpolitik hingewiesen, deren Maßnahmen zur Angebotsreduzierung mehr Gewicht erhalten und verstärkt werden sollten. Der Schwerpunkt liegt eindeutig auf der ersten der drei Säulen des Programms (mehr Sicherheit/Angebotsreduzierung, Prävention, Schadensminimierung).

3.2.

Der Anhang des Programms umfasst den Entwurf des Aktionsplans zur Drogenbekämpfung. Sechsundzwanzig Maßnahmen fallen unter die Säule „Angebotsreduzierung“, nur fünf Maßnahmen hingegen unter die Säule „Prävention“ und dreizehn Maßnahmen unter die Säule „Schadensminimierung“. Unter letzterer Säule finden sich jedoch auch vier Maßnahmen, deren Einordnung strittig ist (40–41: Fahren unter Drogeneinfluss, 42: Alternativen zu Zwangssanktionen und 43: Austausch von kriminaltechnischem Fachwissen). Insgesamt bestehen gravierende Missverhältnisse beim Aufbau des Aktionsplans zugunsten der Säule „Angebotsreduzierung“.

3.3.

Der EWSA betrachtet das Programm, in dem der bisherige ausgewogene, faktengestützte, konsensgetragene und daher positiv bewertete Ansatz für die Drogenpolitik aufgegeben wurde, als einen erheblichen Rückschritt.

3.4.

In der Sitzung der Horizontalen Gruppe „Drogen“ des Europäischen Rates vom 28. September wurde das Programm auch von zahlreichen Mitgliedstaaten heftig kritisiert; sie stellten die Umstände seiner Erarbeitung, seine Ausrichtung und seinen Inhalt infrage und beschlossen daher, dass der deutsche Ratsvorsitz das von der Europäischen Kommission erstellte Dokument bis Dezember überarbeiten soll.

3.5.

Das Drogenforum der Zivilgesellschaft der Europäischen Kommission kritisierte das Programm in zahlreichen Punkten und hält es für inakzeptabel:

a)

während der Erarbeitung konnten die zivilgesellschaftlichen Akteure und die Mitgliedstaaten die Ergebnisse der externen Bewertung erst nach Veröffentlichung des Programms zur Kenntnis nehmen und hatten somit keine Möglichkeit, ex ante eine Stellungnahme zu dem Programmentwurf abzugeben;

b)

das Programm spiegelt nicht die von den zivilgesellschaftlichen Akteuren vorgeschlagenen Prioritäten wider, sondern hat das Gewicht der Gesundheits- und Sozialmaßnahmen im Rahmen einer Drogenpolitik, die den Maßnahmen zur Angebotsreduzierung bereits jetzt eine unverhältnismäßige Bedeutung beimisst, weiter verringert;

c)

durch den sicherheitspolitischen Rahmen und den Sprachgebrauch des Programms wird eine veraltete und stigmatisierende Anschauung verstärkt;

d)

die in dem Aktionsplan bestehenden Missverhältnisse und ihre zu erwartenden Auswirkungen auf die Mittelzuweisungen sind ebenso wie das Fehlen messbarer Indikatoren mit Blick auf die Rechenschaftspflicht besorgniserregend.

3.6.

Die in diesem Bereich meinungsbildenden zivilgesellschaftlichen Organisationen haben den allgemeinen Geist und die Einzelheiten des Entwurfs einstimmig kritisiert und seine grundlegende Überarbeitung gefordert.

4.   Politische Erwägungen

4.1.

Der EWSA ist fest davon überzeugt, dass dieser fachliche und politische Ansatz, der die konsensgetragene Grundlage der vorherigen Drogenstrategie bildete, mit dieser zehnten Drogenstrategie der EU weiterverfolgt und ausgebaut werden sollte. Daher begrüßt er das Engagement des Europäischen Rates für eine ausgewogene, integrierte und faktengestützte europäische Drogenstrategie. Er fordert die derzeit den Vorsitz im Rat der EU führende deutsche Regierung auf, bei der Ausarbeitung der neuen Drogenstrategie die nachstehenden Aspekte zu berücksichtigen.

4.2.

Der EWSA empfiehlt, das Programm sprachlich unverändert zu lassen sowie die darin verwendete fachliche und wissenschaftliche Terminologie beizubehalten und es im Hinblick auf seinen bisherigen politischen Ansatz inhaltlich weiterzuentwickeln. Dabei sollte es an eine behördliche Nutzung angepasst und eine kontinuierliche Überwachung und kritische Bewertung seiner Durchführung ermöglicht werden.

4.3.

Die EU sollte die in ihrer bisherigen Strategie (4) vertretenen Grundwerte (5) beibehalten und nachdrücklich verteidigen und sich hierzu auch in ihrem Strategiedokument verpflichten.

4.4.

Es wird vorgeschlagen, in dem zu verabschiedenden Dokument ausdrücklich auf die internationalen Übereinkommen und politischen Empfehlungen zu verweisen, die seine materielle und rechtliche Wirksamkeit untermauern, und es darauf zu stützen (6). Der EWSA fordert die Entscheidungsgremien der EU auf, die führende Position der EU und ihre beispielhaften Verpflichtungen in internationalen Foren für Drogenpolitik aufrechtzuerhalten.

4.5.

Nach Ansicht des EWSA sollte auch die Schwerpunktsetzung der vorherigen Strategie in das neue Programm übernommen und der Rahmen für Prävention, Behandlung, Schadensminimierung, Therapiemöglichkeiten und Genesungsprozesse entsprechend den wissenschaftlichen Erkenntnissen weiterentwickelt werden.

4.6.

Die Evaluierung der vorherigen Drogenstrategie und des dazugehörigen Aktionsplans zeigte erhebliche Ungleichgewichte bei den Prioritäten und der Ressourcenverteilung in der Drogenpolitik zugunsten von Maßnahmen im Bereich der Strafjustiz. Gesundheitliche und soziale Maßnahmen machen nur einen Bruchteil der Ausgaben der Mitgliedstaaten für die Reduzierung des Drogenangebots aus. Dies führte in vielen Ländern zur Einstellung oder einem extrem geringen Angebot an entsprechenden Diensten mit mitunter schwerwiegenden Folgen in Form einer erhöhten Sterblichkeit und Morbidität. Der EWSA empfiehlt, den Anteil der Maßnahmen zur Nachfragereduzierung in der Drogenpolitik mittels der neuen europäischen Drogenstrategie sowie des neuen Aktionsplans (bzw. der neuen Aktionspläne) sowohl in Bezug auf die Zahl der strategischen Maßnahmen als auch auf die Mittelzuweisung deutlich zu erhöhen. Zugleich hofft er, dass die Kommission alles unternimmt, damit die Mitgliedstaaten Verbreitung und Qualität der Maßnahmen erheblich verbessern.

4.7.

Außerdem sollten das Mandat und die Instrumente der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) erweitert werden und wissenschaftliche Erkenntnisse direkt in den Entscheidungsprozess einfließen.

4.8.

Es ist ein Programm erforderlich, mit dem das Drogenphänomen mithilfe eines wirklich ausgewogenen, integrierten und multidisziplinären Ansatzes im Rahmen der Menschenrechte, der internationalen Zusammenarbeit, der Aspekte der öffentlichen Gesundheit sowie der wissenschaftlichen Erkenntnisse und einer kontinuierlichen Bewertung angegangen wird.

4.9.

Der EWSA weist darauf hin, dass der Drogenkonsum ein komplexes biologisches, psychisches und soziales Phänomen ist und daher eventuelle ungeeignete drogenpolitische Maßnahmen, wie bspw. die einseitige Kriminalisierung der Drogenkonsumenten, schwerwiegende gesundheitliche und soziale Schäden mit sich bringen und somit die Probleme der sozialen Sicherheit verschärfen statt sie zu beheben. Deshalb

a)

empfiehlt der EWSA dem Europäischen Rat, seinen bisherigen Ansatz weiterzuverfolgen und das Drogenprogramm aus dem Paket der Strategie für eine Sicherheitsunion herauszunehmen;

b)

die mit den verschiedenen Facetten des Problems verbundenen Phänomene differenziert zu behandeln;

c)

bei der Reaktion auf diese Phänomene einen multidisziplinären Ansatz zu verfolgen;

d)

Strafen und die strafrechtliche Verfolgung nur dann als letztes Mittel einzusetzen, wenn andere Interventionsinstrumente nachweislich nicht wirksam sind.

4.10.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Kultur der Überwachung und Evaluierung der Angebotsreduzierungs- und Schadensminderungsmaßnahmen erheblich verbessert. Im Sinne einer faktengestützten Drogenpolitik empfiehlt der EWSA für die neue Drogenstrategie und den neuen Drogenaktionsplan:

a)

dafür zu sorgen, dass besonderes Gewicht auf eine deutliche Verbesserung des Angebots an und der Qualität von Gesundheits- und Sozialdiensten für Drogenkonsumenten gelegt wird, indem die bereits im vorherigen Aktionsplan verwendeten Indikatoren überprüft werden;

b)

unter Einbeziehung der EMCDDA und des Drogenforums der Zivilgesellschaft ein einheitliches System zu konzipieren, mit dem sich die Entwicklungen von Angebot und Qualität der im EU-Drogenaktionsplan in den einzelnen Mitgliedstaaten vorgesehenen Maßnahmen kontinuierlich überwachen und bewerten lassen;

c)

auf der Grundlage des bereits bei der Nachfragereduzierung verwendeten Modells so bald wie möglich Indikatoren zur Bewertung der Auswirkungen angebotssenkender Maßnahmen sowie Qualitätsstandards festzulegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Maßnahmen sehr selten einer faktengestützten Bewertung unterzogen werden, obwohl sie direkte und schwerwiegende Auswirkungen auf die Lebensumstände und Freiheiten der Betroffenen haben können;

d)

das Mandat der EMCDDA auf die Bewertung der Folgen der Drogenpolitik für die Menschenrechte auszudehnen; so sollte etwa geprüft werden, inwieweit sich die Kriminalisierung und die institutionelle Diskriminierung negativ auf schutzbedürftigen Gruppen angehörende Drogenkonsumenten auswirkt.

4.11.

Der EWSA hält es für notwendig, auch hier die Rechtsanwendungspraxis der Mitgliedstaaten im Einklang mit den Harmonisierungserfordernissen langfristig kohärenter zu gestalten, da die derzeitigen Unterschiede in der Praxis der Mitgliedstaaten eindeutig gegen die Menschenrechte verstoßen (7).

4.12.

Aus diesem Grund ist der EWSA davon überzeugt, dass die Europäische Union Mittel und Wege finden muss, um die Mitgliedstaaten künftig zu einer deutlichen Annäherung ihrer Ansätze in der Drogenpolitik zu bewegen, und zwar nicht nur mithilfe politischer Empfehlungen.

4.13.

Der EWSA hält es außerdem für wichtig, wissenschaftlich fundierte innovative Maßnahmen in den politischen Programmen der EU und ihrer Mitgliedstaaten anzuerkennen, sicherzustellen und zu fördern.

4.14.

Es ist Teil der gesellschaftlichen Realität, dass aus legalen (Alkohol, Rauchen, die meisten Verhaltensstörungen usw.) und illegalen Abhängigkeiten familiäre und gemeinschaftliche Beziehungssysteme entstehen. Daher empfiehlt der EWSA der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten, diese Risiken künftig nicht mehr getrennt, sondern eher als miteinander verknüpfte Elemente ein und desselben Systems zu bewerten und zu behandeln und in zunehmendem Maße gemeinsame politische Maßnahmen vorzuschlagen.

4.15.

Auf der Grundlage des Grundsatzes „nil nocere“ („nicht schaden“) ist eine ehrliche und entschiedene Bewertung und Konfrontation erforderlich, um die negativen Folgen der politischen Maßnahmen und des Regulierungsrahmens, die Auswirkungen der gesellschaftlichen Stigmatisierung und ungerechtfertigten Kriminalisierung, die soziale Ausgrenzung und die Hindernisse für den Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten angehen zu können. Der EWSA empfiehlt, auch die von 32 Agenturen der Vereinten Nationen 2019 in einem gemeinsamen Standpunkt vorgenommene fachliche Bewertung zu berücksichtigen (8).

4.16.

In der EU-Drogenstrategie sollten die Grundrechte der Drogenkonsumenten bei ihrer Behandlung und Versorgung anerkannt werden, wie dies auch bei allen anderen Krankheitskategorien der Fall ist.

4.17.

Die budgetären Aufwendungen der Mitgliedstaaten sollten an der Verfügbarkeit und Kapazität der anerkannten und empfohlenen Versorgungsdienste gemessen werden.

4.18.

Unbedingte Voraussetzung für die Umsetzung der Grundprinzipien ist eine stärkere fachliche Beteiligung der Zivilgesellschaft. Daher muss innerhalb der EU das Mandat des EU-Drogenforums der Zivilgesellschaft erweitert und in den Mitgliedstaaten für eine größere Einbindung von Fachleuten aus der Zivilgesellschaft gesorgt werden. Hierzu müssen regelmäßig die Offenheit der Mitgliedstaaten und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit ebenso wie die Praxis zur Einbeziehung der Berufsverbände in den Entscheidungsprozess überprüft werden.

4.19.

Der EWSA erachtet die Maßnahmen zur Angebotsreduzierung zwar als wichtig, sie müssen aber auf jeden Fall mit den Maßnahmen zur Nachfragereduzierung abgestimmt werden. Wirksame Strafverfolgung und justizielle Instrumente sind unerlässlich, um den illegalen Drogenhandel einzudämmen. Indes ist in den letzten Jahrzehnten deutlich geworden, dass sich die einseitige Kriminalisierung negativ auf die Gesundheit von Einzelpersonen und Gemeinschaften sowie die soziale Integration der Drogenkonsumenten auswirkt.

4.20.

Die COVID-19-Pandemie hat gezeigt, dass die schutzbedürftigen Gruppen von Drogenkonsumenten besonders stark unter den negativen Auswirkungen der epidemiologischen Lage leiden, durch die der Drogenkonsum wesentlich riskanter werden kann (geringerer Zugang zur Gesundheitsversorgung, risikoreichere Drogenbeschaffung, größere Gefährlichkeit der beschafften Drogen, zunehmende Auswirkungen von Kriminalisierung und Stigmatisierung, negative Folgen für die öffentliche Gesundheit, weitere Beschneidung der Existenzgrundlage usw.). Zugleich sind es in vielen Ländern gerade diejenigen Dienste, die die einzige Schnittstelle zwischen diesen Gruppen und der Behandlungskette bilden, die aufgrund der Pandemie in Schwierigkeiten geraten können und sich dadurch gezwungen sehen, ihre Kapazitäten zu reduzieren.

Brüssel, den 3. Dezember 2020.

Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Christa SCHWENG


(1)  Erklärung der EU anlässlich der 62. Tagung der Suchtstoffkommission, 14.–22. März 2019 in Wien. „Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten unterstützen nachdrücklich die konkrete Umsetzung des Abschlussdokuments der UNGASS für eine echte, ausgewogene Drogenpolitik auf internationaler Ebene, bei der ein größeres Augenmerk auf Prävention, öffentliche Gesundheit und Menschenrechte gelegt wird, um unser gemeinsames Engagement für eine wirksame Verbesserung der weltweiten Drogensituation zu beschleunigen. […] Maßnahmen zur Verringerung des gesamten Spektrums der Drogennachfrage: Prävention, Risiko- und Schadensminderung, Behandlung sowie soziale Integration und Rehabilitation“.

(2)  SWD(2020) 150.

(3)  https://drogriporter.hu/wp-content/uploads/2018/12/2018_CSF-report_final.pdf.

(4)  https://www.consilium.europa.eu/media/30727/drugs-strategy-2013_content.pdf.

(5)  „[…] stützt sich zuallererst auf die Grundprinzipien des EU-Rechts und wahrt in jeder Hinsicht die Grundwerte der Union: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Ziel der Drogenstrategie ist es, das Wohl der Gesellschaft und des Einzelnen zu wahren und zu steigern, der Öffentlichkeit ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten und das Drogenproblem mit einem ausgewogenen integrierten Konzept anzugehen.“

(6)  https://www.unodc.org/documents/postungass2016//outcome/V1603301-E.pdf.

https://www.unodc.org/documents/ungass2016/Contributions/IO/EU_COMMON_POSITION_ON_UNGASS.pdf.

(7)  Ein und dasselbe Verhalten führt in einigen Ländern zu Strafverfolgung und einer strengen Anwendung des Gesetzes und in anderen Ländern zur Bereitstellung von Gesundheits- und Sozialdiensten — eine einzig auf der Staatsangehörigkeit oder dem Wohnsitz des betreffenden Drogenkonsumenten beruhende Ungleichbehandlung. Ebenso wird in einigen Ländern die Bereitstellung bestimmter Dienste als Grundrecht erachtet, während diese Auffassung in anderen Ländern abgelehnt wird.

(8)  CEB/2018/2, S. 12–14.


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