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Document 62015CJ0168

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 28. Juli 2016.
Milena Tomášová gegen Slovenská republika - Ministerstvo spravodlivosti SR und Pohotovosť s.r.o.
Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Prešov.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbraucherschutz – Richtlinie 93/13/EWG – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Verbraucherkreditvertrag, der eine missbräuchliche Klausel enthält – Zwangsvollstreckung aus einem in Anwendung dieser Klausel ergangenen Schiedsspruch – Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einem nationalen Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind – Voraussetzungen für den Eintritt – Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht.
Rechtssache C-168/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:602

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

28. Juli 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Verbraucherschutz — Richtlinie 93/13/EWG — Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen — Verbraucherkreditvertrag, der eine missbräuchliche Klausel enthält — Zwangsvollstreckung aus einem in Anwendung dieser Klausel ergangenen Schiedsspruch — Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einem nationalen Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind — Voraussetzungen für den Eintritt — Vorliegen eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht“

In der Rechtssache C‑168/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov, Slowakei) mit Entscheidung vom 12. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 14. April 2015, in dem Verfahren

Milena Tomášová

gegen

Slovenská republika – Ministerstvo spravodlivosti SR,

Pohotovosť s. r. o.,

Beteiligte:

Združenie na ochranu občana spotrebiteľa HOOS,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.‑C. Bonichot, C. G. Fernlund, S. Rodin und E. Regan,

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziová als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und S. Šindelková als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár, D. Roussanov und M. Konstantinidis als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. April 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einem nationalen Gericht zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind.

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Tomášová auf der einen Seite und der Slovenská republika – Ministerstvo spravodlivosti SR (Slowakische Republik – Justizministerium der Slowakischen Republik, im Folgenden: Slowakische Republik) sowie der Pohotovosť s. r. o. auf der anderen Seite wegen der Vollstreckung eines Schiedsspruchs, mit dem Frau Tomášová zur Zahlung von Geldbeträgen im Zusammenhang mit einem Verbraucherkreditvertrag verurteilt worden war.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 3 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29) bestimmt:

„(1)   Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(2)   Eine Vertragsklausel ist immer dann als nicht im Einzelnen ausgehandelt zu betrachten, wenn sie im Voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluss auf ihren Inhalt nehmen konnte.

Die Tatsache, dass bestimmte Elemente einer Vertragsklausel oder eine einzelne Klausel im Einzelnen ausgehandelt worden sind, schließt die Anwendung dieses Artikels auf den übrigen Vertrag nicht aus, sofern es sich nach der Gesamtwertung dennoch um einen vorformulierten Standardvertrag handelt.

Behauptet ein Gewerbetreibender, dass eine Standardvertragsklausel im Einzelnen ausgehandelt wurde, so obliegt ihm die Beweislast.

(3)   Der Anhang enthält eine als Hinweis dienende und nicht erschöpfende Liste der Klauseln, die für missbräuchlich erklärt werden können.“

4

Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

5

Frau Tomášová ist eine Rentnerin, deren einziges Einkommen eine Rente in Höhe von 347 Euro ist. Im Jahr 2007 schloss sie einen Verbraucherkreditvertrag mit Pohotovosť, bei der sie ein Darlehen über 232 Euro aufnahm.

6

Dieser Vertrag bestand aus einem vorformulierten Standardvertrag mit einer Schiedsklausel, die einem Schiedsgericht, dessen Sitz sich über 400 km entfernt vom Wohnort von Frau Tomášová befindet, eine ausschließliche Zuständigkeit zur Beilegung von Streitigkeiten in Zusammenhang mit diesem Vertrag zuweist. Im Übrigen wurde nach diesem Vertrag der Satz für Verzugszinsen auf 91,25 % pro Jahr festgelegt. Außerdem war in diesem Vertrag der anwendbare effektive Jahreszins nicht angegeben.

7

Da Frau Tomášová mit der Rückzahlung des Kredits in Verzug geraten war und die aufgelaufenen Verzugszinsen nicht zahlen konnte, nahm sie ein neues Darlehen über 232,36 Euro bei Pohotovosť auf.

8

Mit Entscheidungen des Stálý rozhodcovský súd (ständiges Schiedsgericht, Slowakei) vom 9. April und 15. Mai 2008 wurde Frau Tomášová verurteilt, wegen Nichtrückzahlung der fraglichen Darlehen an Pohotovosť mehrere Geldbeträge, Verzugszinsen und Verfahrenskosten zu zahlen.

9

Nachdem diese Entscheidungen rechtskräftig und vollstreckbar geworden waren, stellte Pohotovosť am 13. und 27. Oktober 2008 Anträge auf Vollstreckung beim Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov, Slowakei), denen dieses Gericht mit Entscheidungen vom 15. und 16. Dezember 2008 stattgab.

10

Der Vorlageentscheidung zufolge waren die fraglichen Vollstreckungsverfahren zum Zeitpunkt der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens noch im Gange.

11

Am 9. Juli 2010 reichte Frau Tomášová eine Klage gegen die Slowakische Republik ein, mit der sie deren Verurteilung zur Zahlung eines Geldbetrags in Höhe von 2000 Euro als Ersatz des Schadens begehrte, der sich ihrer Ansicht nach aus einem Verstoß des Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov) gegen das Unionsrecht ergibt, weil dieses Gericht im Rahmen dieser Verfahren Anträgen auf Vollstreckung von Entscheidungen stattgegeben habe, die auf der Grundlage einer missbräuchlichen Schiedsklausel ergangen seien und die die Rückzahlung von aufgrund einer missbräuchlichen Klausel bestimmten Forderungen zum Gegenstand gehabt hätten.

12

Mit Urteil vom 22. Oktober 2010 wies der Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov) die Klage von Frau Tomášová als unbegründet ab, weil Letztere nicht alle ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft habe, die in Rede stehenden Vollstreckungsverfahren noch nicht rechtskräftig beendet gewesen seien und daher der geltend gemachte Schaden noch nicht eingetreten gewesen sei, so dass diese Klage vorzeitig eingebracht worden sei.

13

Gegen dieses Urteil legte Frau Tomášová ein Rechtsmittel ein.

14

Mit Entscheidung vom 31. Januar 2012 hob der Krajský súd v Prešove (Regionalgericht Prešov, Slowakei) dieses Urteil auf und verwies die Rechtssache an den Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov) zurück.

15

Unter diesen Umständen hat der Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Handelt es sich um einen qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht, wenn in der Zwangsvollstreckung aus einem Schiedsspruch eine Leistung auf der Grundlage einer missbräuchlichen Klausel entgegen der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erwirkt wird?

2.

Kann die Haftung eines Mitgliedstaats wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht bereits zu einem Zeitpunkt entstehen, in dem die Partei noch nicht alle ihr nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe im Zwangsvollstreckungsverfahren ausgeschöpft hat? Kann in diesem Fall im Hinblick auf den Sachverhalt eine solche Haftung des Mitgliedstaats entstehen, bevor das Zwangsvollstreckungsverfahren beendet ist und bevor die Klägerin die Mittel ausgeschöpft hat, mit denen sie die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung verlangen kann?

3.

Falls ja, stellt das von der Klägerin beschriebene Handeln eines Organs in Anbetracht des gegebenen Sachverhalts, insbesondere unter Berücksichtigung der völligen Untätigkeit der Klägerin und des Nichtausschöpfens aller nach der Rechtsordnung des Mitgliedstaats zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe, einen hinreichend klaren und qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht dar?

4.

Wenn es sich in diesem Fall um einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht handelt, stellt der von der Klägerin geltend gemachte Betrag einen Schaden dar, für den der Mitgliedstaat haftet? Kann der Schaden in diesem Sinne mit der beigetriebenen Forderung, die eine ungerechtfertigte Bereicherung darstellt, gleichgesetzt werden?

5.

Hat die Herausgabe der ungerechtfertigten Bereicherung als ein Rechtsbehelf der Abhilfe Vorrang vor Schadensersatz?

Zu den Vorlagefragen

Zu den ersten drei Fragen

16

Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Umständen eine Verletzung des Unionsrechts, die sich aus einer gerichtlichen Entscheidung ergibt, die in einem Zwangsvollstreckungsverfahren aus einem Schiedsspruch ergangen ist, mit dem einer Klage auf Verurteilung zur Zahlung von Forderungen aufgrund einer als missbräuchlich anzusehenden Vertragsklausel stattgegeben wurde, einen „hinreichend qualifizierten“ Verstoß gegen eine Unionsrechtsnorm darstellt, der geeignet ist, die außervertragliche Haftung des betreffenden Mitgliedstaats auszulösen.

17

In diesem Zusammenhang wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob es insoweit von Belang ist, dass dieses Vollstreckungsverfahren nicht beendet ist, die Person, auf die sich dieses Verfahren bezieht, völlig untätig gewesen ist und nicht alle ihr nach der betreffenden Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe und Rechtsschutzmöglichkeiten, wie eine Klage auf Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge, ausgeschöpft hat.

18

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs wohnt der Grundsatz der Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, dem System der Verträge inne, auf denen die Union beruht (vgl. Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a., C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, Rn. 35, vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 31, und vom 14. März 2013, Leth, C‑420/11, EU:C:2013:166, Rn. 40).

19

Dieser Grundsatz gilt für jeden Fall des Verstoßes eines Mitgliedstaats gegen das Unionsrecht unabhängig davon, welche staatliche Stelle diesen Verstoß begangen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 32, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 31, vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 30, und vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 46).

20

Der genannte Grundsatz ist unter bestimmten Voraussetzungen auch dann anwendbar, wenn der gerügte Verstoß aus einer Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts folgt. In Anbetracht der entscheidenden Rolle, die die Judikative beim Schutz der dem Einzelnen aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen zustehenden Rechte spielt, und des Umstands, dass ein letztinstanzliches Gericht definitionsgemäß die letzte Instanz ist, vor der er die ihm aufgrund dieser Bestimmungen zustehenden Rechte geltend machen kann, ist der Gerichtshof nämlich davon ausgegangen, dass die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen beeinträchtigt und der Schutz dieser Rechte gemindert wäre, wenn es ausgeschlossen wäre, dass der Einzelne unter bestimmten Voraussetzungen Ersatz für die Schäden erlangen kann, die ihm durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht, der einer Entscheidung eines nationalen letztinstanzlichen Gerichts zuzurechnen ist, entstanden sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 32 bis 36 und 59, vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 31, und vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a., C‑160/14, EU:C:2015:565, Rn. 47).

21

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dies bei den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen vom 15. und 16. Dezember 2008 der Fall ist.

22

Dies vorausgeschickt ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof im Hinblick auf die Voraussetzungen für den Eintritt der Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch dem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, wiederholt entschieden hat, dass die Geschädigten einen Ersatzanspruch haben, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, ihnen Rechte zu verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. insbesondere Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 51, und vom 14. März 2013, Leth, C‑420/11, EU:C:2013:166, Rn. 41).

23

Das gilt auch für die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die durch eine unionsrechtswidrige Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts verursacht wurden (vgl. Urteil vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 52).

24

Was insbesondere die zweite der in Rn. 22 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen angeht, tritt diese Haftung nur in dem Ausnahmefall ein, dass das letztinstanzliche nationale Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat (vgl. Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 53, und vom 13. Juni 2006, Traghetti del Mediterraneo, C‑173/03, EU:C:2006:391, Rn. 32 und 42).

25

Um festzustellen, ob ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen das Unionsrecht vorliegt, sind alle Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die für den dem nationalen Gericht vorgelegten Sachverhalt kennzeichnend sind. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehören daher zu den Gesichtspunkten, die insoweit berücksichtigt werden können, u. a. das Maß an Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des Ermessensspielraums, den die verletzte Vorschrift den nationalen Behörden belässt, die Frage, ob der Verstoß oder der Schaden vorsätzlich oder unbeabsichtigt begangen bzw. zugefügt wurde, die Entschuldbarkeit oder Unentschuldbarkeit eines etwaigen Rechtsirrtums, der Umstand, dass die Verhaltensweisen eines Unionsorgans möglicherweise dazu beigetragen haben, dass unionsrechtswidrige nationale Maßnahmen oder Praktiken eingeführt oder aufrechterhalten wurden, und die Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV durch das in Rede stehende Gericht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 56, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 54 und 55, und vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, EU:C:2006:774, Rn. 213).

26

Ein Verstoß gegen das Unionsrecht ist jedenfalls dann hinreichend qualifiziert, wenn die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt worden ist (vgl. Urteile vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 56, vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, EU:C:2006:774, Rn. 214, und vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 52).

27

Selbst wenn man in Bezug auf den Ausgangsrechtsstreit unterstellt, dass der Okresný súd Prešov (Bezirksgericht Prešov) in seinen Entscheidungen vom 15. und 16. Dezember 2008 in letzter Instanz entschieden hat, müsste dieses Gericht mit diesen daher zudem einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen haben und die Bestimmungen der Richtlinie 93/13 oder die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Richtlinie offenkundig verkannt haben.

28

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das durch die Richtlinie 93/13 eingeführte Verbraucherschutzsystem die Anerkennung der Befugnis der nationalen Gerichte bedeutet, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel zu prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2000, Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, C‑240/98 bis C‑244/98, EU:C:2000:346, Rn. 26, 28 und 29, vom 21. November 2002, Cofidis, C‑473/00, EU:C:2002:705, Rn. 32 und 33, und vom 26. Oktober 2006, Mostaza Claro, C‑168/05, EU:C:2006:675, Rn. 27 und 28).

29

Der Gerichtshof hat zwar in Rn. 38 seines Urteils vom 26. Oktober 2006, Mostaza Claro (C‑168/05, EU:C:2006:675), grundsätzlich anerkannt, dass die Art und die Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der durch die Richtlinie 93/13 den Verbrauchern gewährte Schutz beruht, es sogar rechtfertigen könnten, dass das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen muss. In diesem Urteil hat der Gerichtshof jedoch aus dieser Erwägung keine Konsequenz gezogen, da er mit der Frage befasst war, ob ein Verbraucher die Nichtigkeit einer Schiedsvereinbarung erstmals vor dem nationalen Gericht einwenden kann, das über eine Klage auf Aufhebung eines Schiedsspruchs zu entscheiden hat.

30

Erst in seinem Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, EU:C:2009:350, Rn. 32), hat der Gerichtshof eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass sich die dem nationalen Gericht vom Unionsrecht zugewiesene Aufgabe nicht auf die bloße Befugnis beschränkt, über die etwaige Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel zu entscheiden, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, sondern auch die Verpflichtung umfasst, diese Frage von Amts wegen zu prüfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt.

31

Daher hat der Gerichtshof seit diesem Urteil wiederholt auf diese Verpflichtung des nationalen Gerichts hingewiesen (vgl. insbesondere Urteile vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 42 und 43, vom 21. Februar 2013, Banif Plus Bank, C‑472/11, EU:C:2013:88, Rn. 22, und vom 1. Oktober 2015, ERSTE Bank Hungary, C‑32/14, EU:C:2015:637, Rn. 41).

32

Insbesondere hat der Gerichtshof entschieden, dass das mit einem Antrag auf Zwangsvollstreckung aus einem rechtskräftigen Schiedsspruch befasste nationale Gericht verpflichtet ist, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit der Vertragsbestimmungen, auf denen die in dem Schiedsspruch festgestellte Forderung beruht, in Anbetracht der Bestimmungen der Richtlinie 93/13 zu prüfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt, wenn es nach den Bestimmungen des nationalen Verfahrensrechts in einem ähnlichen Vollstreckungsverfahren den Verstoß derartiger Klauseln gegen zwingende Vorschriften des nationalen Rechts von Amts wegen zu beurteilen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 53, Beschluss vom 16. November 2010, Pohotovosť, C‑76/10, EU:C:2010:685, Rn. 51, 53 und 54, und Urteil vom 27. Februar 2014, Pohotovosť, C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 42).

33

Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein nationales Gericht, das es vor dem Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, EU:C:2009:350), unterlassen hat, die Missbräuchlichkeit einer in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fallenden Vertragsklausel von Amts wegen zu prüfen, obwohl es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügte, die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt hat und dass es daher einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat.

34

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidungen vom 15. und 16. Dezember 2008 vor diesem Urteil erlassen wurden.

35

Daher erscheint es nicht erforderlich, zu prüfen, ob es für den Eintritt der Haftung des betreffenden Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht durch gerichtliche Entscheidungen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen vom 15. und 16. Dezember 2008 entstanden sind, von Belang ist, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vollstreckungsverfahren nicht beendet ist, die Person, auf die sich dieses Verfahren bezieht, völlig untätig gewesen ist oder auch nicht alle ihr nach der betreffenden Rechtsordnung zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe und Rechtsschutzmöglichkeiten, wie eine Klage auf Rückforderung zu viel gezahlter Beträge, ausgeschöpft hat.

36

Unter diesen Umständen ist auf die Fragen 1 bis 3 wie folgt zu antworten:

Die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht aufgrund einer Entscheidung eines nationalen Gerichts entstanden sind, kann nur dann eintreten, wenn diese Entscheidung von einem letztinstanzlichen Gericht dieses Mitgliedstaats stammt; dies im Hinblick auf den Ausgangsrechtsstreit zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Ist dies der Fall, kann eine Entscheidung dieses nationalen letztinstanzlichen Gerichts nur dann einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen, der geeignet ist, die Haftung des Staates auszulösen, wenn das Gericht mit dieser Entscheidung offenkundig gegen geltendes Recht verstoßen hat oder wenn es trotz des Bestehens einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Verstoß kommt.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein nationales Gericht, das es vor dem Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, EU:C:2009:350), unterlassen hat, im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens aus einem Schiedsspruch, mit dem einer Klage auf Verurteilung zur Zahlung von Forderungen aufgrund einer als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie 93/13 anzusehenden Vertragsklausel stattgegeben wurde, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit dieser Klausel zu prüfen, obwohl es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügte, die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt und daher einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat.

Zur vierten und zur fünften Frage

37

Mit seiner vierten und seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Höhe des Schadens, der durch einen etwaigen im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verstoß gegen das Unionsrecht verursacht worden ist, dem von Frau Tomášová begehrten Schadensersatz entspricht, ob er dem Betrag der tatsächlich beigetriebenen Forderung, d. h. dem der ungerechtfertigten Bereicherung des Begünstigten des Schiedsspruchs, gleichgesetzt werden kann und ob eine Klage auf Ersatz dieses Schadens subsidiär zur Erhebung einer Klage auf Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge ist.

38

Hierzu ist daran zu erinnern, dass, sofern die Voraussetzungen für die Haftung des Staates erfüllt sind, was festzustellen Sache der nationalen Gerichte ist, der Staat die Folgen des verursachten Schadens im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben hat, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen weder weniger günstig sein dürfen als bei ähnlichen Rechtsbehelfen, die nur nationales Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), noch so ausgestaltet sein dürfen, dass sie die Erlangung der Entschädigung praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a., C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, Rn. 42, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 58, vom 24. März 2009, Danske Slagterier, C‑445/06, EU:C:2009:178, Rn. 31, vom 25. November 2010, Fuß, C‑429/09, EU:C:2010:717, Rn. 62, und vom 9. September 2015, Ferreira da Silva e Brito u. a., C‑160/14, EU:C:2015:565, Rn. 50).

39

Daraus ergibt sich, dass sich die Regeln für die Bewertung eines durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verursachten Schadens nach dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaats richten, wobei die nationalen Vorschriften, die diese Regeln festlegen, den Äquivalenz- und den Effektivitätsgrundsatz einhalten müssen.

40

Dasselbe gilt für das Zusammenspiel zwischen einer Klage auf Ersatz eines solchen Schadens und den anderen gegebenenfalls von der Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats vorgesehenen Rechtsbehelfen wie einer Klage auf Rückforderung rechtsgrundlos gezahlter Beträge.

41

Somit ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass sich die Regeln für den Ersatz eines durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verursachten Schadens, wie die über die Bewertung eines solchen Schadens oder das Zusammenspiel zwischen einer Klage auf Ersatz dieses Schadens und den anderen gegebenenfalls zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen, unter Beachtung des Äquivalenz‑ und des Effektivitätsgrundsatzes nach dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaats richten.

Kosten

42

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Haftung eines Mitgliedstaats für Schäden, die dem Einzelnen durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht aufgrund einer Entscheidung eines nationalen Gerichts entstanden sind, kann nur dann eintreten, wenn diese Entscheidung von einem letztinstanzlichen Gericht dieses Mitgliedstaats stammt; dies im Hinblick auf den Ausgangsrechtsstreit zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Ist dies der Fall, kann eine Entscheidung dieses nationalen letztinstanzlichen Gerichts nur dann einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht darstellen, der geeignet ist, die Haftung des Staates auszulösen, wenn das Gericht mit dieser Entscheidung offenkundig gegen geltendes Recht verstoßen hat oder wenn es trotz des Bestehens einer gefestigten einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu diesem Verstoß kommt.

Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein nationales Gericht, das es vor dem Urteil vom 4. Juni 2009, Pannon GSM (C‑243/08, EU:C:2009:350), unterlassen hat, im Rahmen eines Zwangsvollstreckungsverfahrens aus einem Schiedsspruch, mit dem einer Klage auf Verurteilung zur Zahlung von Forderungen aufgrund einer als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen anzusehenden Vertragsklausel stattgegeben wurde, von Amts wegen die Missbräuchlichkeit dieser Klausel zu prüfen, obwohl es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügte, die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt und daher einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht begangen hat.

 

2.

Die Regeln für den Ersatz eines durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht verursachten Schadens, wie die über die Bewertung eines solchen Schadens oder das Zusammenspiel zwischen einer Klage auf Ersatz dieses Schadens und den anderen gegebenenfalls zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen, richten sich unter Beachtung des Äquivalenz‑ und des Effektivitätsgrundsatzes nach dem nationalen Recht jedes Mitgliedstaats.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Slowakisch.

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