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Document 62024CO0181

    Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 16. Juli 2024.
    Genmab A/S gegen Szellemi Tulajdon Nemzeti Hivatala.
    Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Humanarzneimittel – Ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel (ESZ) – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Voraussetzungen für die Erteilung – Art. 3 Buchst. d – Erste Genehmigung für das Inverkehrbringen (Verkehrsgenehmigung) – Arzneimittel mit demselben Wirkstoff, denen mehrere Verkehrsgenehmigungen erteilt wurden – Widerruf der früheren Verkehrsgenehmigung.
    Rechtssache C-181/24.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:627

     BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    16. Juli 2024 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Humanarzneimittel – Ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel (ESZ) – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Voraussetzungen für die Erteilung – Art. 3 Buchst. d – Erste Genehmigung für das Inverkehrbringen (Verkehrsgenehmigung) – Arzneimittel mit demselben Wirkstoff, denen mehrere Verkehrsgenehmigungen erteilt wurden – Widerruf der früheren Verkehrsgenehmigung“

    In der Rechtssache C‑181/24

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 27. Februar 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2024, in dem Verfahren

    Genmab A/S,

    Beteiligter:

    Szellemi Tulajdon Nemzeti Hivatala,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,

    folgenden

    Beschluss

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Buchst. b und d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. 2009, L 152, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) 2019/933 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 (ABl. 2019, L 153, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 469/2009).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Antrags der Genmab A/S, einer Gesellschaft mit Sitz in Dänemark, auf Abänderung eines Bescheids des Szellemi Tulajdon Nemzeti Hivatala (Nationales Amt für geistiges Eigentum, Ungarn), mit dem dieses es abgelehnt hat, ihr ein ergänzendes Schutzzertifikat (im Folgenden: ESZ) für ein unter dem Namen Kesimpta vermarktetes Arzneimittel zu erteilen.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In den Erwägungsgründen 3, 4 und 7 bis 10 der Verordnung Nr. 469/2009 heißt es:

    „(3)

    Arzneimittel, vor allem solche, die das Ergebnis einer langen und kostspieligen Forschungstätigkeit sind, werden in der [Europäischen] Gemeinschaft und in Europa nur weiterentwickelt, wenn für sie eine günstige Regelung geschaffen wird, die einen ausreichenden Schutz zur Förderung einer solchen Forschung vorsieht.

    (4)

    Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen [(Verkehrsgenehmigung)] desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.

    (7)

    Auf Gemeinschaftsebene sollte eine einheitliche Lösung gefunden werden, um auf diese Weise einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft zu behindern und dadurch das Funktionieren des Binnenmarktes unmittelbar zu beeinträchtigen.

    (8)

    Es ist deshalb notwendig, ein [ESZ] für Arzneimittel, deren Vermarktung genehmigt ist, vorzusehen, das der Inhaber eines nationalen oder europäischen Patents unter denselben Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat erhalten kann. Die Verordnung ist deshalb die geeignetste Rechtsform.

    (9)

    Die Dauer des durch das [ESZ] gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines [ESZ] ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten [Verkehrsgenehmigung] des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.

    (10)

    In einem so komplexen und empfindlichen Bereich wie dem pharmazeutischen Sektor sollten jedoch alle auf dem Spiel stehenden Interessen einschließlich der Volksgesundheit berücksichtigt werden. Deshalb kann das [ESZ] nicht für mehr als fünf Jahre erteilt werden. Der von ihm gewährte Schutz sollte im Übrigen streng auf das Erzeugnis beschränkt sein, für das die [Verkehrsgenehmigung] als Arzneimittel erteilt wurde.“

    4

    Art. 1 dieser Verordnung bestimmt:

    „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

    a)

    ‚Arzneimittel‘ einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet wird, sowie einen Stoff oder eine Stoffzusammensetzung, der (die) dazu bestimmt ist, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden;

    b)

    ‚Erzeugnis‘ den Wirkstoff oder die Wirkstoffzusammensetzung eines Arzneimittels;

    c)

    ‚Grundpatent‘ ein Patent, das ein Erzeugnis als solches, ein Verfahren zur Herstellung eines Erzeugnisses oder eine Verwendung eines Erzeugnisses schützt und das von seinem Inhaber für das Verfahren zur Erteilung eines [ESZ] bestimmt ist;

    …“

    5

    Art. 2 der Verordnung sieht vor:

    „Für jedes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch ein Patent geschützte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen als Arzneimittel Gegenstand eines verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahrens gemäß der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel [(ABl. 2001, L 311, S. 67)] oder der Richtlinie 2001/82/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Tierarzneimittel [(ABl. 2001, L 311, S. 1)] ist, kann nach den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen und Modalitäten ein [ESZ] erteilt werden.“

    6

    Art. 3 dieser Verordnung bestimmt:

    „Das [ESZ] wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

    a)

    das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

    b)

    für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige [Verkehrsgenehmigung] gemäß der Richtlinie [2001/83] bzw. der Richtlinie [2001/82] erteilt wurde;

    c)

    für das Erzeugnis nicht bereits ein [ESZ] erteilt wurde;

    d)

    die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste [Verkehrsgenehmigung] dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

    7

    Art. 4 der Verordnung Nr. 469/2009 lautet:

    „In den Grenzen des durch das Grundpatent gewährten Schutzes erstreckt sich der durch das [ESZ] gewährte Schutz allein auf das Erzeugnis, das von der [Verkehrsgenehmigung] des entsprechenden Arzneimittels erfasst wird, und zwar auf diejenigen Verwendungen des Erzeugnisses als Arzneimittel, die vor Ablauf des [ESZ] genehmigt wurden.“

    8

    Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

    „Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 4 gewährt das [ESZ] dieselben Rechte wie das Grundpatent und unterliegt denselben Beschränkungen und Verpflichtungen.“

    9

    Art. 7 Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

    „Die [ESZ-Anmeldung] muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem für das Erzeugnis als Arzneimittel die [Verkehrsgenehmigung] nach Artikel 3 Buchstabe b erteilt wurde, eingereicht werden.“

    10

    In Art. 8 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung heißt es:

    „Die [ESZ-Anmeldung] muss enthalten:

    a)

    einen Antrag auf Erteilung eines [ESZ], wobei insbesondere anzugeben sind:

    i)

    Name und Anschrift des Anmelders;

    ii)

    falls ein Vertreter bestellt ist, Name und Anschrift des Vertreters;

    iii)

    Nummer des Grundpatents sowie Bezeichnung der Erfindung;

    iv)

    Nummer und Zeitpunkt der ersten [Verkehrsgenehmigung] des Erzeugnisses gemäß Artikel 3 Buchstabe b sowie, falls diese nicht die erste [Verkehrsgenehmigung] in der Gemeinschaft ist, auch Nummer und Zeitpunkt der letztgenannten [Verkehrsgenehmigung]“.

    Ungarisches Recht

    11

    § 22/A des A találmányok szabadalmi oltalmáról szóló 1995. évi XXXIII. törvény (Gesetz Nr. XXXIII von 1995 über den Patentschutz von Erfindungen) sieht in seinen Abs. 1 und 2 vor:

    „(1)   Für den Fall, dass dies in den Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft vorgesehen ist, erhält der Gegenstand der Erfindung unter den dort geregelten Voraussetzungen und für den dort festgelegten Zeitraum einen ergänzenden Schutz, nachdem der Patentschutz mit Ablauf der Schutzdauer erloschen ist.

    (2)   Die genauen Bestimmungen zur Durchführung der in Abs. 1 genannten Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft werden durch eine gesonderte Rechtsvorschrift festgelegt.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    12

    Genmab ist Inhaberin des europäischen Patents EP 328 4753, in dem die Republik Ungarn benannt ist. Dieses mit „Humane monoklonale Antikörper gegen CD20 zur Behandlung von Multipler Sklerose“ bezeichnete Patent (im Folgenden: Grundpatent) ist in Ungarn in Kraft und erfasst u. a. den Wirkstoff Ofatumumab.

    13

    Genmab brachte ein erstes Arzneimittel auf den Markt, Arzerra, das diesen Wirkstoff enthält, der zur Therapie unbehandelter chronischer lymphatischer Leukämie verwendet wird. Am 21. April 2010 erhielt Genmab eine Verkehrsgenehmigung für dieses Arzneimittel (im Folgenden: frühere Verkehrsgenehmigung). Am 27. Februar 2019 wurde diese Verkehrsgenehmigung jedoch auf ihre Veranlassung hin widerrufen.

    14

    Am 29. März 2021 erhielt Genmab eine Verkehrsgenehmigung für das Arzneimittel Kesimpta, dessen Wirkstoff ebenfalls Ofatumumab ist (im Folgenden: spätere Verkehrsgenehmigung). Dieses Arzneimittel ist für die Behandlung von schubförmig remittierender Multipler Sklerose indiziert.

    15

    Am 7. Juli 2021 beantragte Genmab auf der Grundlage des Grundpatents und der späteren Verkehrsgenehmigung beim Nationalen Amt für geistiges Eigentum, ihr ein ESZ zu erteilen. Das Amt wies diese Anmeldung mit der Begründung zurück, dass die spätere Verkehrsgenehmigung nicht die erste Verkehrsgenehmigung im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 für Ofatumumab sei. Der Wirkstoff von Arzerra und Kesimpta, d. h. Ofatumumab, sei nämlich derselbe, und der einzige Unterschied zwischen den beiden Arzneimitteln bestehe in ihren jeweiligen therapeutischen Indikationen. Unter Berufung auf die Urteile vom 21. März 2019, Abraxis Bioscience (C‑443/17, im Folgenden: Urteil Abraxis, EU:C:2019:238), und vom 9. Juli 2020, Santen (C‑673/18, im Folgenden: Urteil Santen, EU:C:2020:531), vertrat das Nationale Amt für geistiges Eigentum die Auffassung, dass für die Zwecke von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 eher die Identität der Wirkstoffe als der Unterschied in den therapeutischen Anwendungen für die Feststellung von Bedeutung sei, welches die erste Verkehrsgenehmigung im Sinne dieser Vorschrift sei. Daher sei die frühere Verkehrsgenehmigung als erste Verkehrsgenehmigung anzusehen. Es sei unerheblich, dass sie widerrufen worden und zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung nicht mehr in Kraft gewesen sei, da die Frage, zu welchem Zeitpunkt eine bestimmte Verkehrsgenehmigung als erste Verkehrsgenehmigung angesehen werden könne, nur von der Definition des Erzeugnisses abhänge.

    16

    Genmab erhob beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem vorlegenden Gericht, eine Klage gegen die Entscheidung des Nationalen Amts für geistiges Eigentum. Sie macht geltend, dass nur eine zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung in Kraft befindliche Verkehrsgenehmigung eine erste Verkehrsgenehmigung im Sinne von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 sein könne. Das Nationale Amt für geistiges Eigentum habe daher zu Unrecht angenommen, dass die erste Verkehrsgenehmigung des Erzeugnisses Ofatumumab als Arzneimittel diejenige gewesen sei, die für das Arzneimittel Arzerra erteilt worden sei, da sie zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung nicht mehr in Kraft gewesen sei. Die Urteile Abraxis und Santen seien nicht einschlägig, da sich keines mit der Frage der Gültigkeit der früheren Verkehrsgenehmigung befasst habe. Genmab trägt im Übrigen vor, dass in den Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen seien, die betreffenden Verkehrsgenehmigungen in Kraft gewesen seien.

    17

    Genmab verweist auf die englische Sprachfassung von Art. 3 Buchst. b und d der Verordnung Nr. 469/2009, der die Erteilung des ESZ von einer am Tag der Anmeldung dieses ESZ gültigen („valid“) ersten Verkehrsgenehmigung abhängig mache. Diese Auslegung werde durch die deutsche und die französische Fassung dieser Bestimmungen bestätigt. Im vorliegenden Fall sei die spätere Verkehrsgenehmigung die erste relevante Verkehrsgenehmigung im Sinne von Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung gewesen, da diese zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung die einzige in Ungarn in Kraft befindliche Verkehrsgenehmigung für den Wirkstoff Ofatumumab als Arzneimittel gewesen sei.

    18

    Das vorlegende Gericht schließt sich im Wesentlichen der Argumentation von Genmab an. Der Gerichtshof sei bereits im Rahmen von Rechtssachen befragt worden, in denen sich die fraglichen ESZ-Anmeldungen auf Arzneimittel bezogen hätten, die denselben Wirkstoff enthielten wie ein anderes Arzneimittel mit einer früheren Verkehrsgenehmigung und die sich von diesem Arzneimittel nur durch ihre therapeutischen Indikationen oder durch die Formulierung dieses Wirkstoffs unterscheide. In diesen Rechtssachen seien jedoch alle Verkehrsgenehmigungen gültig gewesen. Somit habe sich der Gerichtshof noch nicht mit der Frage befasst, welche Verkehrsgenehmigung als erste Verkehrsgenehmigung des fraglichen Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne von Art. 3 Buchst. b und d der Verordnung Nr. 469/2009 anzusehen sei, wenn für dieses Erzeugnis bereits eine frühere Verkehrsgenehmigung erteilt, diese aber widerrufen worden sei.

    19

    Auch wenn die ungarische Sprachfassung des Wortlauts von Art. 3 Buchst. b der Verordnung Nr. 469/2009 keine Entsprechung zu dem englischen Begriff „valid“ enthalte, lasse eine teleologische Auslegung dieser Bestimmung dennoch darauf schließen, dass nur diejenigen Arzneispezialitäten mit dem fraglichen Wirkstoff zu berücksichtigen seien, die zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung tatsächlich auf dem Markt seien. Diese Auslegung ergebe sich aus Rn. 55 des Urteils Santen, wonach der Unionsgesetzgeber bei der Einführung der Regelung über das ESZ nicht den Schutz jedweder pharmazeutischen Forschung habe begünstigen wollen, die zur Erteilung eines Patents und zum Inverkehrbringen eines neuen Arzneimittels führe, sondern lediglich derjenigen, die zum erstmaligen Inverkehrbringen eines Wirkstoffs oder einer Wirkstoffzusammensetzung als Arzneimittel führe.

    20

    Vor diesem Hintergrund und angesichts der diametral entgegengesetzten Standpunkte von Genmab und dem Nationalen Amt für geistiges Eigentum hegt das vorlegende Gericht Zweifel hinsichtlich der richtigen Auslegung des Begriffs „erste Verkehrsgenehmigung des Erzeugnisses“.

    21

    Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 3 Buchst. b und d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen, dass eine Verkehrsgenehmigung, die vor der in der ESZ-Anmeldung für dasselbe Erzeugnis angegebenen Verkehrsgenehmigung erteilt wurde, auch dann als die erste Verkehrsgenehmigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist, wenn diese frühere Verkehrsgenehmigung noch vor der Einreichung der ESZ-Anmeldung widerrufen wurde?

    Zur Vorlagefrage

    22

    Nach Art. 99 seiner Verfahrensordnung kann der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Entscheidung treffen, durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden, wenn die Antwort auf eine zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder wenn die Beantwortung einer solchen Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt.

    23

    Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache anzuwenden.

    24

    Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, die zur Stützung einer ESZ-Anmeldung für ein Erzeugnis vorgelegte Verkehrsgenehmigung als die erste Verkehrsgenehmigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, wenn eine frühere Verkehrsgenehmigung für dasselbe Erzeugnis erteilt, aber vor der Einreichung der ESZ-Anmeldung widerrufen wurde.

    25

    Hierzu ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009, der Zusammenhang, in dem diese Bestimmung steht, die vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele sowie die Entstehungsgeschichte dieser Verordnung sämtlich darauf hindeuten, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Voraussetzung auf einem objektiven chronologischen Kriterium beruht, nach dem die erste Verkehrsgenehmigung des Erzeugnisses als Arzneimittel im Sinne dieser Bestimmung die Verkehrsgenehmigung bezeichnet, die zum frühesten Zeitpunkt für dieses Erzeugnis in dem betreffenden Mitgliedstaat erteilt wurde, unabhängig davon, ob diese Verkehrsgenehmigung noch in Kraft ist.

    26

    Erstens besagt der Wortlaut dieser Bestimmung, dass das ESZ erteilt wird, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung eingereicht wird, die für das Erzeugnis, für das das ESZ angemeldet wird, erteilte Verkehrsgenehmigung die erste Verkehrsgenehmigung dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist. Aus diesem Wortlaut geht jedoch nicht hervor, dass diese erste Verkehrsgenehmigung die erste nur unter denjenigen sein muss, die zum Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung in Kraft sind. Vielmehr geht aus diesem Wortlaut klar hervor, dass insoweit alle Verkehrsgenehmigungen zu berücksichtigen sind, die für das betreffende Erzeugnis in dem Mitgliedstaat erteilt wurden, in dem die betreffende ESZ-Anmeldung eingereicht wurde.

    27

    Zweitens führt die Analyse des Zusammenhangs, in dem Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 steht, zum selben Ergebnis. Aus Art. 3 dieser Verordnung geht nämlich hervor, dass dieser vier eigenständige und kumulative Voraussetzungen aufstellt, die nicht zusammengefasst werden können.

    28

    Insoweit verlangt Art. 3 Buchst. b dieser Verordnung, dass für das Erzeugnis als Arzneimittel eine „gültige“ Verkehrsgenehmigung erteilt wurde. Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 verweist nur auf Art. 3 Buchst. b, um die Verkehrsgenehmigung zu bezeichnen, die die dort genannte zusätzliche und eigenständige Voraussetzung erfüllen muss. Somit sind im Rahmen von Art. 3 Buchst. d der Verordnung alle Verkehrsgenehmigungen zu berücksichtigen, die für dieses Erzeugnis vor dem Zeitpunkt der ESZ-Anmeldung erteilt wurden. Wenn von allen diesen Verkehrsgenehmigungen die erste von ihnen diejenige ist, die die in Buchst. b vorgesehene Voraussetzung erfüllt, ist auch die in Buchst. d vorgesehene Voraussetzung erfüllt.

    29

    Eine gegenteilige Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 in dem Sinne, dass nur die zu diesem Zeitpunkt geltenden Verkehrsgenehmigungen zu berücksichtigen wären, liefe darauf hinaus, die beiden Voraussetzungen zu vermengen, indem der Begriff „Verkehrsgenehmigung“ mit dem Begriff „gültige Verkehrsgenehmigung“ zusammengefasst würde.

    30

    Die letztgenannte Auslegung ist auch im Hinblick auf Art. 8 der Verordnung Nr. 469/2009 zu verwerfen, der den Inhalt der ESZ-Anmeldung im Einzelnen aufführt. Danach muss diese Anmeldung Nummer und Zeitpunkt der Verkehrsgenehmigung gemäß Art. 3 Buchst. b dieser Verordnung sowie, falls diese nicht die erste Verkehrsgenehmigung für das betreffende Erzeugnis ist, auch Nummer und Zeitpunkt dieser ersten Verkehrsgenehmigung enthalten. Wären nur in Kraft befindliche Verkehrsgenehmigungen zu berücksichtigen, um zu bestimmen, welches die erste Verkehrsgenehmigung für das betreffende Erzeugnis ist, so hätte Art. 8 dieser Verordnung eine solche Angabe ebenfalls verlangt. Es wird jedoch kein Nachweis gefordert, um prüfen zu können, ob die betreffenden Verkehrsgenehmigungen gültig sind, was zeigt, dass die in Art. 3 Buchst. d dieser Verordnung vorgesehene Voraussetzung auf einem objektiven chronologischen Kriterium beruht.

    31

    Drittens bestätigt die Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung die in Rn. 25 des vorliegenden Beschlusses dargestellte Auslegung. In den Nrn. 35 und 36 der Begründung des Vorschlags für eine Verordnung (EWG) des Rates vom 11. April 1990 über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (KOM[90] 101 endg.) heißt es nämlich, dass es sehr häufig vorkommt, dass für ein und dasselbe Erzeugnis mehrere Verkehrsgenehmigungen erteilt werden, u. a. immer dann, wenn eine Änderung bezüglich der pharmazeutischen Form, der Dosierung, der Zusammensetzung oder auch der Indikationen vorgenommen wird. Es ist jedoch die erste Verkehrsgenehmigung in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung eingereicht wird, die für die Zwecke des Verordnungsvorschlags, insbesondere für die Berechnung der Sechsmonatsfrist, über die der Inhaber des Grundpatents für das Einreichen einer ESZ-Anmeldung verfügt, berücksichtigt wird. Obwohl für ein und dasselbe Erzeugnis in ein und demselben Mitgliedstaat mehrere Patente und mehrere Verkehrsgenehmigungen erteilt werden können, hat der Unionsgesetzgeber somit entschieden, dass ein ESZ für dieses Erzeugnis nur auf der Grundlage eines einzigen Patents und einer einzigen Verkehrsgenehmigung, nämlich der zeitlich ersten für diesen Mitgliedstaat, erworben werden kann.

    32

    Viertens entspricht die Analyse der vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziele genau dieser engen Auslegung von Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009. Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass der Unionsgesetzgeber bei der Einführung der Regelung über das ESZ nicht den Schutz jedweder pharmazeutischen Forschung begünstigen wollte, die zur Erteilung eines Patents und zum Inverkehrbringen eines Arzneimittels führt, sondern lediglich derjenigen, die zur ersten Verkehrsgenehmigung eines Wirkstoffs als Arzneimittel führt (vgl. in diesem Sinne Urteile Abraxis, Rn. 37, und Santen, Rn. 55). Dieses Ziel würde jedoch gefährdet, wenn nur die in Kraft befindlichen Verkehrsgenehmigungen berücksichtigt würden, um zu bestimmen, welches die erste Verkehrsgenehmigung für ein bestimmtes Erzeugnis ist. Es würde nämlich genügen, auf eine frühere Verkehrsgenehmigung zu verzichten, um ein ESZ für die zuletzt vermarktete Version des betreffenden Erzeugnisses zu erhalten, was den Pharmaunternehmen ermöglichen würde, zu entscheiden, welche Version des Erzeugnisses zu begünstigen ist. Dadurch würde das in dieser Bestimmung vorgesehene objektive Kriterium in ein subjektives, von der Wahl der Pharmaunternehmen abhängiges Kriterium umgewandelt, was eindeutig nicht der Entscheidung des Unionsgesetzgebers entspricht.

    33

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Buchst. d der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, die zur Stützung einer ESZ-Anmeldung für ein Erzeugnis vorgelegte Verkehrsgenehmigung als die erste Verkehrsgenehmigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, wenn eine frühere Verkehrsgenehmigung für dasselbe Erzeugnis erteilt, aber vor der Einreichung der ESZ-Anmeldung widerrufen wurde.

    Kosten

    34

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 3 Buchst. d der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel in der durch die Verordnung (EU) 2019/933 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2019 geänderten Fassung

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    er dem entgegensteht, die zur Stützung einer Anmeldung eines ergänzenden Schutzzertifikats für ein Erzeugnis vorgelegte Genehmigung für das Inverkehrbringen als die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne dieser Bestimmung anzusehen, wenn eine frühere Genehmigung für das Inverkehrbringen für dasselbe Erzeugnis erteilt, aber vor der Einreichung der Anmeldung des ergänzenden Schutzzertifikats widerrufen wurde.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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