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Document 62022CJ0142

    Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 6. Juli 2023.
    OE gegen Minister for Justice and Equality.
    Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court (Irland).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 27 – Verfolgung wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Tat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt – An die vollstreckende Justizbehörde gerichtetes Ersuchen um Zustimmung – Europäischer Haftbefehl, der von einer Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ausgestellt wurde, die nicht als ausstellende Justizbehörde zu qualifizieren ist – Folgen für das Zustimmungsersuchen.
    Rechtssache C-142/22.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:544

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

    6. Juli 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 27 – Verfolgung wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Tat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt – An die volltreckende Justizbehörde gerichtetes Ersuchen um Zustimmung – Europäischer Haftbefehl, der von einer Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ausgestellt wurde, die nicht als ausstellende Justizbehörde zu qualifizieren ist – Folgen für das Zustimmungsersuchen“

    In der Rechtssache C‑142/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) mit Entscheidung vom 25. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 2. März 2022, in dem Verfahren

    OE

    gegen

    Minister for Justice and Equality

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter),

    Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

    Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von OE, vertreten durch J. Byrne und R. Farrell, SC, sowie B. O’Donoghue, Solicitor,

    des Minister for Justice and Equality und von Irland, vertreten durch M. Browne, C. Hanselmann, A. Joyce und M. Lane als Bevollmächtigte im Beistand von R. Kennedy, SC, und D. Breen, BL,

    der ungarischen Regierung, vertreten durch Zs. Biró-Tóth und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, A. Hanje und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

    der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. März 2023,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OE und dem Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung) wegen eines Verfahrens, in dem die niederländischen Justizbehörden die irischen Justizbehörden um Zustimmung ersucht haben, um OE in den Niederlanden wegen anderer vor dessen Übergabe an die niederländischen Behörden begangener Taten als derjenigen, die dieser Übergabe zugrunde lagen, strafrechtlich zu verfolgen.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor:

    „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

    (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.“

    4

    Art. 3 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

    „Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

    1.

    wenn die Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Amnestie fällt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht für die Verfolgung der Straftat zuständig war;

    2.

    wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

    3.

    wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“

    5

    Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) des Rahmenbeschlusses lautet:

    „Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

    1.

    wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; in Steuer‑, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer‑, Zoll- und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats;

    2.

    wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird;

    3.

    wenn die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskräftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht;

    4.

    wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand;

    5.

    wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;

    6.

    wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken;

    7.

    wenn der Europäische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die

    a)

    nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind; oder

    b)

    außerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von außerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen.“

    6

    Art. 6 („Bestimmung der zuständigen Behörden“) des Rahmenbeschlusses bestimmt in Abs. 1 und 2:

    „(1)   Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

    (2)   Vollstreckende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats zuständig für die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ist.“

    7

    Art. 8 („Inhalt und Form des Europäischen Haftbefehls“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 nennt die Informationen, die der Europäische Haftbefehl enthalten muss, und die Sprache, in die er zu übersetzen ist.

    8

    Kapitel 3 („Wirkung der Übergabe“) dieses Rahmenbeschlusses enthält u. a. Art. 27 („Etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten“), in dem es heißt:

    „(1)   Jeder Mitgliedstaat kann dem Generalsekretariat des Rates [der Europäischen Union] mitteilen, dass in seinen Beziehungen zu anderen Mitgliedstaaten, die die gleiche Mitteilung gemacht haben, die Zustimmung dazu, dass eine Person wegen einer anderen vor der Übergabe begangenen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgt, verurteilt oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Haft gehalten wird, als erteilt gilt, sofern die vollstreckende Justizbehörde im Einzelfall in ihrer Übergabeentscheidung keine anders lautende Erklärung abgibt.

    (2)   Außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen dürfen Personen, die übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

    (3)   Absatz 2 findet in folgenden Fällen keine Anwendung:

    g)

    wenn die vollstreckende Justizbehörde, die die Person übergeben hat, ihre Zustimmung nach Absatz 4 gibt.

    (4)   Das Ersuchen um Zustimmung ist unter Beifügung der in Artikel 8 Absatz 1 erwähnten Angaben und einer Übersetzung gemäß Artikel 8 Absatz 2 an die vollstreckende Justizbehörde zu richten. Die Zustimmung wird erteilt, wenn die Straftat, derentwegen um Zustimmung ersucht wird, nach diesem Rahmenbeschluss der Verpflichtung zur Übergabe unterliegt. Die Zustimmung wird verweigert, wenn die in Artikel 3 genannten Gründe vorliegen; ansonsten kann sie nur aus den in Artikel 4 genannten Gründen verweigert werden. Die Entscheidung ist spätestens 30 Tage nach Eingang des Ersuchens zu treffen.

    In den in Artikel 5 genannten Fällen sind die dort vorgesehenen Garantien vom Ausstellungsstaat zu geben.“

    Irisches Recht

    9

    Mit dem European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz von 2003 über den Europäischen Haftbefehl) wurde der Rahmenbeschluss 2002/584 in der irischen Rechtsordnung umgesetzt.

    10

    Section 2(1) dieses Gesetzes in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz von 2003) sieht vor:

    „Im Sinne dieses Gesetzes ist

    ‚Ausstellende Justizbehörde‘ in Bezug auf einen Europäischen Haftbefehl die Justizbehörde im ausstellenden Staat, die den betreffenden Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat;

    ‚Ausstellungsmitgliedstaat‘ in Bezug auf einen Europäischen Haftbefehl der Mitgliedstaat, dessen Justizbehörde diesen Europäischen Haftbefehl erlassen hat;

    ‚Justizbehörde‘ der Berufs- oder Laienrichter oder die sonstige Person, der oder die nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaats befugt ist, dieselben oder ähnliche Aufgaben wahrzunehmen, wie sie nach Section 33 von einem Gericht [in Irland] wahrgenommen werden;

    …“

    11

    Section 22(7) dieses Gesetzes lautet:

    „Der High Court [(Hohes Gericht, Irland)] kann in Bezug auf eine Person, die nach diesem Gesetz an einen Ausstellungsstaat übergeben wurde, nach Eingang eines entsprechenden schriftlichen Ersuchens des Ausstellungsstaats seine Zustimmung dazu erteilen,

    (a)

    dass gegen die Person im Ausstellungsstaat ein Verfahren wegen einer Straftat eingeleitet wird,

    (b)

    dass im Ausstellungsstaat wegen einer Straftat eine Strafe, einschließlich einer Strafe in Form einer Freiheitsentziehung, gegen die Person verhängt wird oder

    (c)

    dass ein Verfahren gegen die Person eingeleitet wird oder dass die Person im Ausstellungsstaat zum Zweck der Vollstreckung einer Strafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung in Bezug auf eine Straftat in Haft genommen wird.“

    12

    Gemäß Section 22(8) dieses Gesetzes ist die in dessen Section 22(7) genannte Zustimmung zu verweigern, wenn es sich bei der betreffenden Straftat um eine Straftat handelt, wegen der eine Person gemäß Teil 3 dieses Gesetzes nicht übergeben werden könnte. Dieser Teil 3 enthält Anforderungen in Bezug auf Grundrechte, Entsprechung der Straftatbestände, Doppelbestrafung, Strafverfolgung gegen die gesuchte Person im Hoheitsgebiet des Staates aufgrund derselben Tat, Strafmündigkeitsalter, Extraterritorialität und Verfahren in Abwesenheit der angeklagten Person.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    13

    Der High Court (Hohes Gericht) wurde als vollstreckende Justizbehörde um Vollstreckung dreier Europäischer Haftbefehle ersucht, die im Jahr 2016 in den Niederlanden gegen OE erlassen worden waren. Zwei dieser Haftbefehle waren von der Staatsanwaltschaft Amsterdam und einer von der nationalen niederländischen Staatsanwaltschaft ausgestellt worden (im Folgenden: ursprüngliche Europäische Haftbefehle).

    14

    Mit einem Beschluss, der nicht angefochten wurde, entschied der High Court (Hohes Gericht), OE zu übergeben, nachdem er die von diesem erhobenen Einwände zurückgewiesen hatte (im Folgenden: Übergabebeschluss von 2017). Es steht fest, dass keiner dieser Einwände gegen die Tatsache erhoben wurde, dass die ursprünglichen Europäischen Haftbefehle von Staatsanwaltschaften ausgestellt worden waren. OE wurde danach zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren verurteilt, die er gegenwärtig in den Niederlanden verbüßt.

    15

    Im Jahr 2019 ersuchte ein Untersuchungsrichter in Amsterdam den High Court (Hohes Gericht) um Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und Section 22(7) des Gesetzes von 2003 zur Strafverfolgung von OE wegen vor der Übergabe begangener anderer Taten als derjenigen, die den ursprünglichen Europäischen Haftbefehlen zugrunde gelegen hatten.

    16

    OE widersetzte sich diesem Ersuchen und machte hierzu geltend, die ursprünglichen Europäischen Haftbefehle seien nicht rechtmäßig erlassen worden, da sie von Staatsanwaltschaften, d. h. von Behörden ausgestellt worden seien, die nicht als „Justizbehörden“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/584 angesehen werden könnten. Aus diesem Grund dürfe dem Ersuchen um Zustimmung nicht stattgegeben werden.

    17

    Mit Beschluss vom 27. Juli 2020 erteilte der High Court (Hohes Gericht) die erbetene Zustimmung. Insbesondere zu dem Argument, die ursprünglichen Europäischen Haftbefehle seien nicht rechtmäßig erlassen worden, wies er darauf hin, dass der Übergabebeschluss von 2017 Rechtskraft besitze. OE legte gegen den Beschluss vom 27. Juli 2020 Berufung beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) ein.

    18

    Am 27. Mai 2021 wies der Court of Appeal (Berufungsgericht) diese Berufung zurück, da die nationale Verfahrensregel der Estoppel-Wirkung anzuwenden sei, die einer Anfechtung des Übergabebeschlusses von 2017 entgegenstehe. Hierzu verwies der Court of Appeal (Berufungsgericht) u. a. auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, aus der sich ergebe, dass gerichtliche Entscheidungen, die nach Erschöpfung der Rechtsmittel oder Ablauf der Rechtsmittelfristen endgültig geworden seien, grundsätzlich nicht mehr angefochten werden könnten.

    19

    Dem Antrag von OE vom 6. Juli 2021 auf Zulassung eines Rechtsmittels gegen diese Entscheidung des Court of Appeal (Berufungsgericht) wurde mit Entscheidung des vorlegenden Gerichts vom 22. September 2021 angesichts des Umstands stattgegeben, dass sich im Ausgangsverfahren Fragen von allgemeiner öffentlicher Bedeutung stellten.

    20

    Vor diesem Gericht räumt OE ein, dass der Übergabebeschluss von 2017 nach irischem Recht rechtskräftig sei und dass das Unionsrecht nicht erfordere, dass dieser Beschluss angefochten werden könne. Hinsichtlich der gesetzlichen Bestimmungen für das Zustimmungsverfahren, das autonomen Charakter besitze, weist OE jedoch darauf hin, dass das Ersuchen um Zustimmung gemäß Section 22(7) des Gesetzes von 2003 vom „Ausstellungsstaat“ stammen müsse, der als der Staat definiert sei, dessen „Justizbehörde“ den ursprünglichen Europäischen Haftbefehl ausgestellt habe. Da aus den Urteilen vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), und vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953), herzuleiten sei, dass die Staatsanwaltschaften, die die ursprünglichen Europäischen Haftbefehle ausgestellt hätten, keine „Justizbehörden“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/584 darstellten, könne das Königreich der Niederlande für die Zwecke des Zustimmungsverfahrens nicht als „Ausstellungsstaat“ angesehen werden.

    21

    Der Minister for Justice and Equality (Minister für Justiz und Gleichberechtigung) entgegnet, dass Fragen, die sich in Bezug auf die Zuständigkeit der niederländischen Staatsanwaltschaften als ausstellende Justizbehörden gestellt haben könnten, als vom High Court (Hohes Gericht) in seinem Übergabebeschluss von 2017 endgültig entschieden anzusehen seien und dass die Estoppel-Wirkung auf diesen endgültigen Übergabebeschluss anzuwenden sei, so dass dieser insoweit nicht mehr angefochten werden könne.

    22

    Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts hängt die Antwort auf die Frage, ob OE im Zusammenhang mit einem Ersuchen um Zustimmung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorbringen kann, dass die ursprünglichen Haftbefehle nicht von einer „ausstellenden Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses ausgestellt worden seien, davon ab, wie das Verhältnis zwischen dem Übergabeverfahren und dem Zustimmungsverfahren rechtlich einzuordnen sei.

    23

    Sehe man beide Verfahren als getrennte, eigenständige Verfahren an, könne es zu keiner Estoppel-Wirkung kommen, so dass jeder Einwand, den die betreffende Person im Rahmen des Übergabeverfahrens geltend gemacht habe, im Rahmen des Zustimmungsverfahrens erneut vorgebracht werden könne.

    24

    Würden sie hingegen als so eng miteinander verknüpft angesehen, dass eine Frage, die in der Übergabeentscheidung entschieden worden sei, für die Zwecke der Zustimmungsentscheidung nicht mehr verhandelt werden könne, könne OE in diesem Verfahrensstadium keinen Einwand in Bezug auf den Status der „ausstellenden Justizbehörde“ geltend machen.

    25

    Unter diesen Umständen hat der Supreme Court (Oberstes Gericht, Irland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Ist Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass eine Entscheidung über die Übergabe einer Person zwischen dieser Person, dem vollstreckenden Staat und dem ersuchenden Staat in der Weise ein Rechtsverhältnis schafft, dass Fragen, die im Rahmen dieser Entscheidung als endgültig entschieden gelten, auch im Rahmen des Verfahrens zur Erteilung der Zustimmung zu weiterer Strafverfolgung oder Bestrafung wegen anderer Straftaten als entschieden zu gelten haben?

    2.

    Falls die Antwort auf Frage 1 lautet, dass Art. 27 nicht in dieser Weise auszulegen ist: Verstößt eine nationale Verfahrensvorschrift gegen den Grundsatz der Effektivität, wenn sie zur Folge hat, dass der Betroffene daran gehindert wird, sich im Rahmen des Zustimmungsverfahrens auf ein einschlägiges, zeitlich nach dem Übergabebeschluss ergangenes Urteil des Gerichtshofs zu berufen?

    Verfahren vor dem Gerichtshof

    26

    Das vorlegende Gericht hat beantragt, die Rechtssache im Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs, hilfsweise im beschleunigten Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu entscheiden. Hierzu hat es insbesondere ausgeführt, dass OE sich zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens in den Niederlanden in Haft befunden habe und die niederländischen Behörden bestrebt seien, seine rechtliche Situation schnellstmöglich klären.

    27

    Am 15. März 2022 hat der Gerichtshof auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag, die vorliegende Rechtssache dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen, nicht stattzugeben, da die Voraussetzungen der Dringlichkeit nach Art. 107 der Verfahrensordnung nicht erfüllt sind.

    28

    Am 23. März 2022 hat der Präsident des Gerichtshofs nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, den Antrag des vorlegenden Gerichts, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zurückzuweisen.

    29

    Zum einen befindet sich OE im vorliegenden Fall zwar gegenwärtig in Haft, die Aufrechterhaltung seiner Haft hängt jedoch nicht von der Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefragen ab, da er eine Strafe verbüßt, zu der er rechtskräftig verurteilt wurde.

    30

    Zum anderen genügt der Umstand, dass das vorlegende Gericht oder die nationalen Behörden verpflichtet sind, alles zu tun, um einen zügigen Abschluss des Ausgangsverfahrens zu gewährleisten, für sich genommen nicht, um die Entscheidung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Dezember 2015, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2015:862, Rn. 8).

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    31

    Mit der ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein Europäischer Haftbefehl, auf dessen Grundlage eine Entscheidung über die Übergabe einer Person getroffen wurde, von einer Behörde erlassen wurde, die keine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses darstellte, es einer vollstreckenden Justizbehörde verwehrt, zu einem späteren Zeitpunkt auf Ersuchen einer ausstellenden Justizbehörde im Sinne des genannten Art. 6 Abs. 1 ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass diese Person wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen anderen Tat als derjenigen, die dieser Übergabe zugrunde lag, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen wird.

    32

    Erstens ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung durch die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 267 AEUV vornimmt, erläutert und verdeutlicht wird, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden können und müssen, die vor dem Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung der Vorschrift betreffenden Streit vorliegen (Urteil vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    In Rn. 70 seines Urteils vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie (Urkundenfälschung) (C‑510/19, EU:C:2020:953), hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse aus dem Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), entschieden, dass es sich bei der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats, die zwar an der Rechtspflege mitwirkt, aber im Rahmen der Ausübung ihrer Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann, nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 sowie Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 handelt. Außerdem hat der Gerichtshof in Rn. 47 dieses Urteils hervorgehoben, dass der Status und die Natur der Justizbehörden, auf die sich die Abs. 1 und 2 von Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 beziehen, übereinstimmen, auch wenn diese Justizbehörden gesonderte Aufgaben erfüllen, die zum einen in der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls bestehen und zum anderen in der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls.

    34

    Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass Europäische Haftbefehle, die – wie im Ausgangsverfahren – von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats ausgestellt werden, die im Rahmen der Ausübung ihrer Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann, nicht im Einklang mit den sich aus dem Rahmenbeschluss 2002/584 ergebenden Anforderungen erlassen werden.

    35

    Jedoch ist zweitens auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl im Unionsrecht als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Wie der Gerichtshof klargestellt hat, sollten zur Gewährleistung des Rechtsfriedens und der Beständigkeit rechtlicher Beziehungen sowie einer geordneten Rechtspflege nach Ausschöpfung des Rechtswegs oder nach Ablauf der entsprechenden Rechtsmittelfristen unanfechtbar gewordene Gerichtsentscheidungen nicht mehr in Frage gestellt werden können (Urteil vom 26. Januar 2017, Banco Primus, C‑421/14, EU:C:2017:60, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36

    Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass OE gegen den Übergabebeschluss von 2017 keine Berufung eingelegt hat und dass er nach der Übergabe in den Niederlanden durch ein rechtskräftig gewordenes Urteil zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Ohne die Rechtskraft des Übergabebeschlusses von 2017 oder der in Rn. 14 des vorliegenden Urteils genannten, nach dieser Übergabe ergangenen Entscheidung, mit der er verurteilt wurde, in Frage zu stellen, macht OE jedoch geltend, dass eine Zustimmung, um die gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses ersucht werde, nicht erteilt werden könne, wenn – wie im Ausgangsverfahren – die der Übergabe zugrunde liegenden Europäischen Haftbefehle nicht im Einklang mit diesem Rahmenbeschluss ausgestellt worden seien. In diesem Zusammenhang stellt OE auch nicht den Status der Justizbehörde in Frage, die dieses Ersuchen um Zustimmung formuliert hat.

    37

    Drittens hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Europäische Haftbefehl, sobald die gesuchte Person festgenommen und an den Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wurde, grundsätzlich, vorbehaltlich der in Kapitel 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ausdrücklich vorgesehenen Wirkungen der Übergabe, seine Rechtswirkungen erschöpft hat (Urteil vom 13. Januar 2021, MM, C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4, Rn. 77).

    38

    Zu den Wirkungen der Übergabe im Sinne von Kapitel 3 gehört die etwaige Strafverfolgung wegen anderer Straftaten, deren Voraussetzungen und Durchführungsmodalitäten in Art. 27 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehen sind.

    39

    Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses stellt den Grundsatz der Spezialität auf, wonach Personen, die übergeben wurden, außer in den in den Absätzen 1 und 3 vorgesehenen Fällen wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2020, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof [Grundsatz der Spezialität], C‑195/20 PPU, EU:C:2020:749, Rn. 36).

    40

    Dieser Grundsatz verlangt, dass der Ausstellungsmitgliedstaat, der eine Person wegen einer vor ihrer Übergabe, die in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls erfolgte, begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, verfolgen oder verurteilen möchte, die Zustimmung des Vollstreckungsmitgliedstaats einholt, damit verhindert wird, dass der erste Mitgliedstaat in die Zuständigkeiten eingreift, die der Vollstreckungsmitgliedstaat ausüben könnte, und seine Vorrechte gegenüber der verfolgten Person überschreitet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. September 2020, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof [Grundsatz der Spezialität], C‑195/20 PPU, EU:C:2020:749, Rn. 40).

    41

    Nur in den in Art. 27 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Fällen, insbesondere wenn die Zustimmung gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 erteilt wurde, sind die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats befugt, die übergebene Person wegen einer anderen Handlung als derjenigen, die ihrer Übergabe zugrunde liegt, zu verfolgen oder zu verurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung]C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 63).

    42

    Ungeachtet des Zusammenhangs, der somit zwischen der Anwendung von Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und dem Vorliegen eines zuvor vollstreckten Europäischen Haftbefehls besteht, hat der Gerichtshof jedoch klargestellt, dass die Entscheidung, die in Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehene Zustimmung zu erteilen, eine von der Entscheidung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gesonderte Entscheidung ist und für die betreffende Person gesonderte Wirkungen entfaltet (Urteile vom 24. November 2020, Openbaar Ministerie [Urkundenfälschung], C‑510/19, EU:C:2020:953, Rn. 60, und vom 26. Oktober 2021, Openbaar Ministerie [Recht auf Anhörung durch die vollstreckende Justizbehörde], C‑428/21 PPU et C‑429/21 PPU, EU:C:2021:876, Rn. 49).

    43

    Wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt der Zustimmungsentscheidung eine eigene Zielsetzung zugrunde, weshalb sie von der vollstreckenden Justizbehörde einer gegenüber der Prüfung, die im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl vorgenommen wurde, gesonderten und eigenständigen Prüfung unterzogen werden muss.

    44

    Gemäß Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 muss die vollstreckende Justizbehörde nämlich prüfen, ob dem an sie gerichteten Ersuchen um Zustimmung die in Art. 8 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses genannten Informationen und eine nach Art. 8 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses erforderliche Übersetzung beigefügt sind. Ferner muss sie untersuchen, ob die Straftat, wegen der um die Zustimmung ersucht wird, als solche die Verpflichtung zur Übergabe gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 begründet. Schließlich muss sie im Hinblick auf die in den Art. 3 und 4 dieses Rahmenbeschlusses genannten Gründe für eine obligatorische oder fakultative Ablehnung der Vollstreckung prüfen, ob die Ausweitung der Strafverfolgung auf andere Straftaten, als sie der Übergabe der betreffenden Person zugrunde lagen, genehmigt werden kann.

    45

    Aus dem Wortlaut dieser Bestimmungen ergibt sich nicht, dass die vollstreckende Justizbehörde wegen eines Fehlers, der einem ursprünglichen Europäischen Haftbefehl anhaftet, an der Erteilung der Zustimmung gehindert wäre.

    46

    Im Übrigen würde, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine hiervon abweichende Auslegung dieser Vorschriften die mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 angestrebten Ziele beeinträchtigen.

    47

    Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Art. 27 und 28 dieses Rahmenbeschlusses den Mitgliedstaaten zwar gewisse, genau bestimmte Befugnisse bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einräumen, aber, da sie Ausnahmeregelungen zu dem in Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses niedergelegten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung aufstellen, nicht in einer Weise ausgelegt werden können, die dazu führte, dass das mit diesem Rahmenbeschluss verfolgte Ziel vereitelt würde, das darin besteht, die Übergaben zwischen den Justizbehörden der Mitgliedstaaten eingedenk des gegenseitigen Vertrauens, das zwischen ihnen vorhanden sein muss, zu vereinfachen und zu beschleunigen (Urteil vom 24. September 2020, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof [Spezialitätsgrundsatz], C‑195/20 PPU, EU:C:2020:749, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    48

    Ließe man zu, dass die Bedingungen, unter denen die Übergabe durchgeführt wurde, im Zusammenhang mit einem nach Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gestellten Zustimmungsersuchen erneut geprüft werden können, führte dies jedoch dazu, dass die Zustimmungsentscheidung aus anderen als den im genannten Abs. 4 vorgesehenen Gründen verzögert würde, was dem diesem Rahmenbeschluss zugrunde liegenden Gebot der Zügigkeit zuwiderliefe.

    49

    Darüber hinaus wäre eine solche erneute Prüfung mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar, da sie die Endgültigkeit der gerichtlichen Entscheidung, mit der die Vollstreckung des fraglichen Europäischen Haftbefehls angeordnet wurde, in Frage stellen könnte, was gegen den Grundsatz der Rechtskraft, auf den in Rn. 35 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, verstieße.

    50

    Da – wie den Rn. 13, 14 und 32 bis 34 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist – feststeht, dass der Übergabebeschluss von 2017 rechtskräftig ist, obwohl er auf Europäische Haftbefehle hin erlassen wurde, die durch den Umstand gekennzeichnet sind, dass sie von Behörden ausgestellt wurden, die nicht als „zuständige Justizbehörden“ im Sinne von Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 qualifiziert werden können, wäre es paradox, die Zustimmung, die Anlass des Ausgangsverfahrens ist und die ihrerseits auf ein von einer zuständigen Justizbehörde gestelltes Ersuchen hin erteilt wurde, wegen dieses Umstands in Frage zu stellen.

    51

    Schließlich ist die in Rn. 45 des vorliegenden Urteils festgehaltene Auslegung von Art. 27 des Rahmenbeschlusses 2002/584 geeignet, die Erreichung des mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 ebenfalls verfolgten Ziels der Bekämpfung der Straflosigkeit zu fördern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 141). Ließe man es zu, dass eine vollstreckende Justizbehörde es aus anderen als den in Art. 27 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Gründen, ablehnen könnte, eine Zustimmung zu erteilen, um deren Erteilung sie gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 dieses Rahmenbeschlusses ersucht wird, so würde das dieses Ziel beeinträchtigen, indem die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats daran gehindert würden, eine Person wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, zu verfolgen, zu verurteilen oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu unterwerfen.

    52

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass der Umstand, dass ein Europäischer Haftbefehl, auf dessen Grundlage eine Entscheidung über die Übergabe einer Person getroffen wurde, von einer Behörde erlassen wurde, die keine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses darstellte, es einer vollstreckenden Justizbehörde nicht verwehrt, zu einem späteren Zeitpunkt auf Ersuchen einer ausstellenden Justizbehörde im Sinne des genannten Art. 6 Abs. 1 ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass diese Person wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die dieser Übergabe zugrunde lag, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen wird.

    Zur zweiten Frage

    53

    In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

    Kosten

    54

    Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten

     

    ist dahin auszulegen, dass

     

    der Umstand, dass ein Europäischer Haftbefehl, auf dessen Grundlage eine Entscheidung über die Übergabe einer Person getroffen wurde, von einer Behörde erlassen wurde, die keine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses darstellte, es einer vollstreckenden Justizbehörde nicht verwehrt, zu einem späteren Zeitpunkt auf Ersuchen einer ausstellenden Justizbehörde im Sinne des genannten Art. 6 Abs. 1 ihre Zustimmung dazu zu erteilen, dass diese Person wegen einer vor ihrer Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die dieser Übergabe zugrunde lag, verfolgt, verurteilt oder einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen wird.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Englisch.

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