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Document 62022CJ0099

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 4. Mai 2023.
Kapniki A. Michailidis AE gegen Organismos Pliromon kai Elenchou Koinotikon Enischiseon Prosanatolismou kai Engyiseon (OPEKEPE), und Ypourgos Agrotikis Anaptyxis kai Trofimon.
Vorabentscheidungsersuchen der Symvoulio tis Epikrateias.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Verordnung (EWG) Nr. 2062/92 – Art. 3 Abs. 3 – Gültigkeit – Gemeinsame Marktorganisation – Rohtabak – Prämien für Käufer von Tabakblättern – Kürzung dieser Prämien nach Maßgabe der erworbenen Menge Tabak niedrigerer Klasse, Güte oder Qualität – Rückwirkungsverbot und Grundsatz des Vertrauensschutzes.
Rechtssache C-99/22.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:382

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

4. Mai 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Landwirtschaft – Verordnung (EWG) Nr. 2062/92 – Art. 3 Abs. 3 – Gültigkeit – Gemeinsame Marktorganisation – Rohtabak – Prämien für Käufer von Tabakblättern – Kürzung dieser Prämien nach Maßgabe der erworbenen Menge Tabak niedrigerer Klasse, Güte oder Qualität – Rückwirkungsverbot und Grundsatz des Vertrauensschutzes“

In der Rechtssache C‑99/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland) mit Entscheidung vom 30. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Februar 2022, in dem Verfahren

Kapniki A. Michailidis AE

gegen

Organismos Pliromon kai Elenchou Koinotikon Enischiseon Prosanatolismou kai Engyiseon (OPEKEPE),

Ypourgos Agrotikis Anaptyxis kai Trofimon

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie der Richter M. Ilešič und Z. Csehi (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Kapniki A. Michailidis AE, vertreten durch P. Yatagantzidis, Dikigoros,

der griechischen Regierung, vertreten durch E. Leftheriotou, M. Tassopoulou und A.‑E. Vasilopoulou als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch M. Balta, A. Nowak-Salles und A. Tamás als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Konstantinidis und B. Rechena als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Gültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2062/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Festsetzung der für die Ernte 1992 geltenden Zielpreise, der Interventionspreise und der Käufern von Tabakblättern gewährten Prämien sowie der abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen, der Bezugsqualitäten und der Anbaugebiete (ABl. 1992, L 215, S. 22).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Kapniki A. Michailidis AE einerseits und dem Organismos Pliromon kai Elenchou Koinotikon Enischiseon Prosanatolismou kai Engyiseon (OPEKEPE) (Stelle für die Zahlung und Kontrolle der Beihilfen aus dem Ausrichtungs- und Garantiefonds, Griechenland) sowie dem Ypourgos Agrotikis Anaptyxis kai Trofimon (Minister für ländliche Entwicklung und für Ernährung, Griechenland) andererseits über die Frage der Nichtigerklärung einer nach der Verordnung Nr. 2062/92 ergangenen Entscheidung des Ethnikos Organismos Kapnou (Nationales Tabakamt, Griechenland), mit der der Kapniki A. Michailidis AE die Rückerstattung einer Prämie mit der Begründung aufgegeben wurde, dass sie ihr zu Unrecht gezahlt worden sei.

Unionsrecht

Verordnung Nr. 727/70

3

Der sechste Erwägungsgrund der Verordnung (EWG) Nr. 727/70 des Rates vom 21. April 1970 über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak (ABl. 1970, L 94, S. 1) in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 860/92 des Rates vom 30. März 1992 (ABl. 1992, L 91, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 727/70) lautete:

„Diese Ziele lassen sich durch ein auf einer Zielpreis- und Interventionspreisregelung beruhendes Interventionssystem verwirklichen, das einerseits den Ankauf zum Interventionspreis zur Auflage macht und andererseits die Gewährung von Prämien an die Abnehmer vorsieht, die Tabakblätter unmittelbar beim Gemeinschaftserzeuger kaufen. Diese Regelung ist in der Weise anzuwenden, dass die Qualitätsverbesserung und die Anpassung der Produktion, insbesondere durch Umstellung der Kulturen auf wettbewerbsfähigere oder gefragtere Sorten, gefördert werden“.

4

Art. 2 Abs. 3 dieser Verordnung bestimmte:

„(3)   Die Ziel- und Interventionspreise werden festgesetzt:

a)

für Tabakblätter, die noch nicht eine erste Bearbeitung und Aufbereitung erfahren haben;

b)

für jede in anerkannten Anbaugebieten angebaute Sorte der Gemeinschaftserzeugung;

c)

für eine Bezugsqualität jeder Sorte, deren Merkmale festgelegt werden und die für die Qualität einer normalen Ernte hinreichend repräsentativ ist.

Diese Preise können jedoch für dieselbe Tabaksorte je nach den besonderen Anbaugebieten im Sinne von Artikel 4 Absatz 5 differenziert werden.“

5

In Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung hieß es:

„(1)   Allen natürlichen oder juristischen Personen, die Tabakblätter unmittelbar von Erzeugern der Gemeinschaft kaufen, wird eine Prämie gewährt.

Die Prämie wird nur solchen Käufern gewährt,

i)

die mit den Erzeugern vor einem gemäß Absatz 3 noch festzulegenden Zeitpunkt europäische Anbauverträge geschlossen haben;

(3)   Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Artikel, insbesondere die Bestimmungen über die Verwaltungskontrolle, werden nach dem Verfahren des Artikels 17 erlassen.

Diese Durchführungsbestimmungen regeln die vorgeschriebenen Klauseln der Verträge, insbesondere die Klauseln über die Erwähnung des dem Erzeuger zu zahlenden Preises und die Höhe der Prämie, zu der der Vertrag berechtigt.“

6

Art. 4 Abs. 3 und 4 der Verordnung Nr. 727/70 sah vor:

„(3)   Der Prämienbetrag wird festgesetzt:

b)

für jede aus anerkannten Anbaugebieten stammende Sorte der Gemeinschaftserzeugung und für die entsprechende Bezugsqualität.

Dieser Prämienbetrag gilt für die gesamte Tabakerzeugung der betreffenden Sorte. Sofern jedoch bei einer bestimmten Sorte die Gewährung eines gleich hohen Betrages für Tabak unterschiedlicher Qualität, jedoch gleicher Sorte, das ordnungsgemäße Funktionieren der gemeinsamen Marktorganisation und die qualitative Anpassung der Erzeugung an die Bedürfnisse der Abnehmer zu beeinträchtigen droht, kann der Prämienbetrag ausnahmsweise für von der Bezugsqualität abweichende Qualitäten über oder unter dem normalerweise für die gesamte Tabakerzeugung der betreffenden Sorte geltenden Betrag festgesetzt werden.

Dieser Betrag kann jedoch für dieselbe Tabaksorte je nach den besonderen Anbaugebieten im Sinne von Absatz 5 differenziert werden.

(4)   Der für die Ernte des folgenden Kalenderjahres geltende Prämienbetrag für die einzelnen Sorten wird jährlich vor dem 1. November nach dem Verfahren des Artikels 43 Absatz 2 des [EWG]-Vertrages festgesetzt.“

7

Mit der Verordnung (EWG) Nr. 1114/88 des Rates vom 25. April 1988 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 727/70 zur Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Rohtabak (ABl. 1988, L 110, S. 35) wurde Art. 4 der letztgenannten Verordnung folgender Abs. 5 hinzugefügt, um jede Erhöhung der Tabakerzeugung in der Union einzudämmen und gleichzeitig die Erzeugung von Sorten einzuschränken, bei denen Absatzschwierigkeiten bestehen:

„Der Rat setzt jedes Jahr nach dem Verfahren des Artikels 43 Absatz 2 des [EWG‑]Vertrages für jede Tabaksorte oder Sortengruppe der Gemeinschaftserzeugung, für welche Preise und Prämien gelten, nach Maßgabe insbesondere der Marktbedingungen und der sozio-ökonomischen und agronomischen Lage der betreffenden Regionen eine Höchstgarantiemenge fest. Die Höchstmenge für die Gemeinschaft beträgt für die Ernten 1988, 1989 und 1990 jeweils 385000 Tonnen Tabakblätter.

…“

Verordnung Nr. 1726/70

8

Die Voraussetzungen und Anforderungen im Zusammenhang mit den Anbauverträgen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 727/70 wurden mit der Verordnung (EWG) Nr. 1726/70 der Kommission vom 25. August 1970 über Durchführungsbestimmungen für die Gewährung der Prämie für Tabakblätter (ABl. 1970, L 191, S. 1) festgelegt.

9

Art. 2b Abs. 1, 3 und 4 der Verordnung Nr. 1726/70 in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 1413/91 der Kommission vom 29. Mai 1991 (ABl. 1991, L 135, S. 15) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1726/70) sah vor:

„(1)   Der Anbauvertrag …, der mindestens die Angaben gemäß den Punkten 1 bis 12 im Anhang enthalten muss, wird zwischen folgenden Parteien geschlossen:

a)

einem Käufer von Tabakblättern, der den Tabak der ersten Bearbeitung und Aufbereitung unterzieht, nachstehend ‚Käufer‘ genannt,

und

b)

einem Erzeuger oder Erzeugerzusammenschluss nachstehend ‚Verkäufer‘ genannt.

(3)   Der Anbauvertrag kann für ein oder mehrere Jahre geschlossen werden. Er ist, außer im Falle höherer Gewalt, vor dem 1. Juni des Jahres seiner ersten Anwendung zu schließen. …

(4)   Der Anbauvertrag muss folgende obligatorischen Angaben enthalten:

a)

den vertraglich festgesetzten Grundpreis;

b)

die Kriterien für die Festlegung des endgültigen Kaufpreises, insbesondere

den für die betreffende Ernte festgesetzten Zielpreis,

die Höhe der entsprechenden Prämie.

…“

10

Der Anhang der Verordnung Nr. 1726/70 enthielt ein Muster für den Europäischen Anbauvertrag, dessen Punkte 1, 4, 5 und 8 sich wie folgt darstellten:

„1.

Der Verkäufer verpflichtet sich, 19 … Tabak wie folgt anzubauen:

Höchstertrag: … kg/ha.

Der Verkäufer verpflichtet sich ferner, die Trocknung gemäß den besonderen Anforderungen für die betreffende Sorte durchzuführen.

4.

Der Verkäufer verpflichtet sich, dem Käufer im Rahmen des unter Punkt 1 genannten Maximalertrags die Gesamtmenge des Tabaks zu liefern, die auf der vertragsgebundenen Anbaufläche geerntet wird.

5.

Der Käufer verpflichtet sich, im Rahmen des unter Punkt 1 genannten Maximalertrags die gesamte Menge des auf der vertragsgebundenen Anbaufläche geernteten und den Mindestqualitätsmerkmalen gemäß Artikel 6 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1727/70 der Kommission [vom 25. August 1970 über Durchführungsbestimmungen für die Intervention bei Rohtabak (ABl. 1970, L 191, S. 5)] entsprechenden Tabaks abzunehmen.

8.

Der Vertragspreis für die Bezugsqualität beläuft sich auf …/kg. …

Unbeschadet des vorstehenden Unterabsatzes handeln der Käufer und Verkäufer den Vertragspreis erneut aus, wenn der Preis oder die Prämie, der/die für die unter Punkt 1 dieses Vertrages genannte Tabaksorte gilt, durch Gemeinschaftsverordnung geändert wird. Ändert sich dieser Preis oder diese Prämie in Anwendung von Artikel 4 Absatz 5 der [Verordnung Nr. 727/70], so wird der Vertragspreis entsprechend der genannten Änderung berichtigt.“

Verordnung Nr. 2062/92

11

Die Erwägungsgründe 1, 3 und 7 der Verordnung Nr. 2062/92 lauteten:

„Die [Europäische] Kommission hat vorgeschlagen, die gemeinsame Marktorganisation für Tabak ab der Ernte 1993 zu reformieren. Für die Ernte 1992 sollten deshalb weiterhin die Bestimmungen gelten, die bereits für die vorherige Ernte angewandt wurden, vorbehaltlich jedoch der für den Übergang auf die Neuregelung notwendigen Änderungen. Für die Ernte 1993 ist deshalb eine Festsetzung von garantierten Höchstmengen je Sorte und Sortengruppe gemäß Artikel 4 Absatz 5 Unterabsatz 1 der [Verordnung Nr. 727/70] nicht mehr erforderlich.

Die Ziel- und die Interventionspreise für Tabakblätter sind nach den in Artikel 2 Absatz 2 der [Verordnung Nr. 727/70] genannten Regeln festzusetzen, damit die Ausrichtung der Erzeugung insbesondere im Sinne der Umstellung des Anbaus auf die meistgefragten, wettbewerbsfähigsten und am wenigsten gesundheitsschädlichen Sorten gefördert wird.

Für den gesamten Tabak der betreffenden Sorte wird unabhängig von seiner Qualität eine bestimmte Prämie gewährt. Dies hat jedoch zur Erzeugung geringerwertigen Tabaks angereizt. Für den Ankauf von Tabak schlechterer Qualität durch einen Verarbeiter muss deshalb die Prämie entsprechend der Menge gekürzt werden, um welche die im Verhältnis zur Gesamtmenge der Ernte normale Menge dieses Tabaks überschritten wird.“

12

In Art. 3 dieser Verordnung hieß es:

„(1)   Für die Ernte 1992 werden die in den Artikeln 2 und 3 der [Verordnung Nr. 727/70] genannten Ziel- und Interventionspreise und Beträge der den Käufern von Tabakblättern gewährten Prämie sowie die in Artikel 6 derselben Verordnung genannten abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen in Anhang IV der vorliegenden Verordnung festgesetzt.

(3)   Überschreitet die von einem Käufer erworbene Menge Tabak niedrigerer Klasse, Güte und Qualität, gemessen an der von derselben Sorte gekauften Gesamtmenge, den in Anhang IV genannten Prozentsatz, wird die Prämie für die Menge um 30 % gesenkt, um die der betreffende Prozentsatz überschritten wird.“

13

Anhang IV der Verordnung sah unter der laufenden Nummer 18 vor, dass für Grad IV der Sorte „Katerini und ähnliche Sorten“ der Prozentsatz im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der Verordnung 20 % betrug.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

14

Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens schloss vor dem 1. Juni 1992 mit Tabakerzeugern Verträge über den Kauf von Tabak der Sorte Katerini für die Ernte 1992. Anschließend erhielt sie im Voraus die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 727/70 vorgesehene Prämie.

15

Mit Entscheidung vom 22. September 1995 forderte das Ethnikos Organismos Kapnou (Nationales Tabakamt) die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens auf, einen Teil der ihr gewährten Prämie in Höhe von 51564843 griechischen Drachmen (GRD) (etwa 151327 Euro) gemäß Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 als zu Unrecht erhaltenen Betrag rückzuerstatten, weil der Vorschuss, den sie auf diese Prämie erhalten habe, höher gewesen sei als die ihr zustehende Prämie. Die von ihr erworbene Menge Tabak niedrigerer Güte mache einen Prozentsatz aus, der 20 % der von ihr gekauften Gesamtmenge überschreite.

16

Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens begehrte die Nichtigerklärung dieser Entscheidung beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat, Griechenland), dem vorlegenden Gericht, das die Klage zur Urteilsfindung mit unbeschränkter Nachprüfungsbefugnis an das Dioikitiko Protodikeio Athinon (Verwaltungsgericht Athen, Griechenland) verwies. Vor diesem Gericht machte die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens u. a. die Ungültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 wegen der Rückwirkung dieser Bestimmung und wegen Verstoßes gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes geltend. Das Dioikitiko Protodikeio Athinon (Verwaltungsgericht Athen) wies die Klage im Urteilsweg als unbegründet ab.

17

Die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens legte gegen das Urteil Berufung beim Dioikitiko Efeteio Athinon (Verwaltungsberufungsgericht Athen, Griechenland) ein, das die Berufung im Urteilsweg mit der Begründung zurückwies, dass zum einen Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92, da sich diese Bestimmung nicht auf den Zeitpunkt des Abschlusses der fraglichen Anbauverträge, sondern auf die Qualität des Tabaks beziehe, keine Rückwirkung habe und dass zum anderen diese Verordnung nicht gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoße.

18

Gegen das Berufungsurteil legte die Rechtsmittelführerin des Ausgangsverfahrens Rechtsmittel beim Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) ein. Dieser sieht sich insoweit vor die Frage nach der Gültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 gestellt, als diese Bestimmung gegen das Verbot der Rückwirkung von Rechtsnormen und den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen könnte.

19

Genauer ist das vorlegende Gericht der Ansicht, Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 komme Rückwirkung zu, da diese Verordnung am 30. Juli 1992 veröffentlicht worden sei, d. h. nach Ablauf der Frist, die in der Verordnung Nr. 1726/70 für den Abschluss von Anbauverträgen zwischen Erzeugern und Verarbeitern über die Ernte 1992 vorgesehen sei. Auch wenn die in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 vorgesehene Prämienkürzung die Qualität der angebauten Tabaksorten und damit ihre Wettbewerbsfähigkeit habe verbessern sollen, habe insoweit dieses Ziel, das den Zielen der gemeinsamen Marktorganisation für Tabak entsprochen habe, zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 2062/92 nicht erreicht werden können, da die besagte Frist zu diesem Zeitpunkt abgelaufen gewesen sei und die Entscheidung der Wirtschaftsteilnehmer auf dem betreffenden Markt über die Ausrichtung der Erzeugung bereits gefallen gewesen sei, ohne dass es möglich gewesen wäre, dieses Ziel bei der Ernte des Jahres 1992 zu erreichen. Deshalb stelle sich die Frage nach der Gültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92.

20

Im Übrigen könne die Verordnung Nr. 2062/92 dadurch, dass sie eine Kürzung der Prämie für Tabak niedrigerer Qualität vorsehe, gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen, da nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 727/70 der für die Ernte des betreffenden Jahres geltende Prämienbetrag vor dem 1. November des Vorjahres festzusetzen gewesen sei und jedenfalls die Anbauverträge alljährlich vor dem 1. Juni hätten geschlossen werden müssen.

21

Daher hat der Symvoulio tis Epikrateias (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Verstößt Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92, wonach die Prämie, wenn die von einem Käufer erworbene Menge Tabak niedrigerer Qualität, gemessen an der von derselben Sorte gekauften Gesamtmenge, den in Anhang IV dieser Verordnung genannten Prozentsatz überschreitet, für die Menge um 30 % gesenkt wird, um die der betreffende Prozentsatz überschritten wird, gegen das Verbot der Rückwirkung von Rechtsnormen und den Grundsatz des Vertrauensschutzes?

Zur Vorlagefrage

22

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 im Hinblick auf das Verbot der Rückwirkung von Rechtsnormen und den Grundsatz des Vertrauensschutzes gültig ist.

23

Vorab ist daran zu erinnern, dass es der Grundsatz der Rechtssicherheit zwar im Allgemeinen verbietet, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Union auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen, dass es sich aber ausnahmsweise dann anders verhalten kann, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist oder wenn aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Vorschriften eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (Urteil vom 30. April 2019, Italien/Rat [Fangquoten für Schwertfisch im Mittelmeer], C‑611/17, EU:C:2019:332, Rn. 106 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Vor diesem Hintergrund ist im ersten Schritt die Frage der Rückwirkung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 zu klären, nach dem dann, wenn die von einem Käufer erworbene Menge Tabak niedrigerer Klasse, Güte und Qualität, gemessen an der von derselben Sorte gekauften Gesamtmenge, den in Anhang IV dieser Verordnung genannten Prozentsatz überschreitet, die Prämie für die Menge um 30 % gesenkt wird, um die der betreffende Prozentsatz überschritten wird. Bejahendenfalls wird in einem zweiten Schritt zu prüfen sein, ob die rückwirkende Anwendung dieser Bestimmung nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung zulässig ist.

25

Als Erstes ist bei der Beurteilung der Rückwirkung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 festzustellen, dass diese Verordnung am 30. Juli 1992 veröffentlicht wurde. Aus Art. 2b Abs. 3 der Verordnung Nr. 1726/70 ergibt sich aber, dass natürliche oder juristische Personen, die Tabakblätter von den Erzeugern kauften, mit Letzteren, außer im Fall höherer Gewalt, vor dem 1. Juni 1992 Anbauverträge schließen mussten, damit sie für die Ernte 1992 Anspruch auf die Prämie gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 727/70 hatten.

26

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 2062/92 einschließlich ihres Art. 3 Abs. 3 Rückwirkung entfaltete, da sie zu einem Zeitpunkt erlassen wurde, zu dem die natürlichen oder juristischen Personen, die Tabakblätter von den Erzeugern kauften, Letzteren gegenüber bereits verbindliche vertragliche Zusagen über den Ankauf ihrer Erzeugung abgegeben haben mussten (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juli 1991, Crispoltoni, C‑368/89, EU:C:1991:307, Rn. 14 bis 16).

27

Außerdem ergab sich diese Rückwirkung daraus, dass kraft dieser Bestimmung die Jahresfestsetzung des Prämienbetrags für die Ernte 1992 im Juni 1992 stattfand, während sie nach Art. 4 Abs. 4 der Verordnung Nr. 727/70 vor dem 1. November 1991 hätte erfolgen müssen.

28

Als Zweites ist zu der Frage, ob die rückwirkende Anwendung von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 durch ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel, das sie verlangen würde, gerechtfertigt werden kann, festzustellen, dass sich die rückwirkende Anwendung dieser Verordnung einschließlich ihres Art. 3 Abs. 3 zwingend aus der Notwendigkeit ergibt, das mit der gemeinsamen Marktorganisation für Tabak für das Jahr 1992 verfolgte grundlegende Ziel zu erreichen, eine finanzielle Unterstützung für die Tabakerzeuger und ‑verarbeiter bereitzustellen.

29

Unter diesen Umständen ist als Drittes zu prüfen, ob der Grundsatz des Vertrauensschutzes gebührend beachtet worden ist. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die Wirtschaftsteilnehmer, auch wenn dieser Grundsatz zu den tragenden Grundsätzen der Union zählt, nicht berechtigterweise auf die Beibehaltung einer bestehenden Situation vertrauen dürfen, die die Unionsorgane im Rahmen ihres Ermessens ändern können, was insbesondere auf einem Gebiet wie dem der gemeinsamen Marktorganisationen gilt, deren Zweck eine ständige Anpassung an die Veränderungen der wirtschaftlichen Lage mit sich bringt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 1994, Crispoltoni u. a., C‑133/93, C‑300/93 und C‑362/93, EU:C:1994:364, Rn. 57, vom 17. September 1998, Pontillo, C‑372/96, EU:C:1998:412, Rn. 22, und vom 26. Juni 2012, Polen/Kommission, C‑335/09 P, EU:C:2012:385, Rn. 180 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Daraus folgt, dass sich die Wirtschaftsteilnehmer nicht auf ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines Vorteils berufen können, der sich für sie aus der Einführung der gemeinsamen Marktorganisation ergibt und ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt zugutegekommen ist (Urteile vom 5. Oktober 1994, Crispoltoni u. a., C‑133/93, C‑300/93 und C‑362/93, EU:C:1994:364, Rn. 58, und vom 17. September 1998, Pontillo, C‑372/96, EU:C:1998:412, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Dies gilt erst recht, wenn, wie es im Ausgangsrechtsstreit der Fall ist, die anwendbare Unionsregelung, nämlich die Verordnung Nr. 727/70, den Rat verpflichtete, die Preise und Prämien für die verschiedenen Tabaksorten jährlich nach Maßgabe insbesondere der Marktentwicklung und der Schädlichkeit der Sorten festzusetzen, und ausdrücklich die Möglichkeit einer Kürzung dieser Preise und Prämien vorsah (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 1998, Pontillo, C‑372/96, EU:C:1998:412, Rn. 24).

32

In der Tat war seit der Veröffentlichung der Verordnung Nr. 1114/88 allen betroffenen Wirtschaftsteilnehmern die Ungewissheit bewusst, die sich daraus ergab, dass die jährliche Festsetzung der Preise und Prämien noch nicht erfolgt war. Insbesondere durften diese Wirtschaftsteilnehmer, solange der Unionsgesetzgeber die Preise und Prämien für die Tabakernte 1992 nicht festgesetzt hatte, nicht berechtigterweise auf die Beibehaltung eines bestimmten Niveaus der fraglichen Preise und Prämien vertrauen.

33

Außerdem konnte der Prämienbetrag nach Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 727/70 ausnahmsweise für von der Bezugsqualität abweichende Qualitäten über oder unter dem normalerweise für die gesamte Tabakerzeugung der betreffenden Sorte geltenden Betrag festgesetzt werden. Hinzukommt, dass die Verordnung Nr. 2062/92, wie sich aus ihrem Art. 3 Abs. 3 im Licht ihrer Erwägungsgründe 1, 3 und 7 ergab, von der Erzeugung von schwer absetzbaren Tabaksorten niedrigerer Klasse, Güte oder Qualität abhalten sollte, um die Tabakerzeugung in der Union im Allgemeinen einzudämmen.

34

Im Übrigen ergibt sich aus Art. 2b Abs. 1 der Verordnung Nr. 1726/70 in Verbindung mit Punkt 8 deren Anhangs, dass die Anbauverträge zwischen den Käufern und den Erzeugern eine Klausel enthielten, die eine Neuaushandlung des Vertragspreises im Fall einer Änderung u. a. der Prämie für die Käufer vorsah.

35

Daher ist festzustellen, dass in Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 keine Verletzung eines berechtigten Vertrauens der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer lag.

36

Nach alledem hat die Prüfung der Vorlagefrage nichts ergeben, was im Hinblick auf das Verbot der Rückwirkung von Rechtsnormen und den Grundsatz des Vertrauensschutzes die Gültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2062/92 beeinträchtigen könnte.

Kosten

37

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Prüfung der Vorlagefrage hat nichts ergeben, was im Hinblick auf das Verbot der Rückwirkung von Rechtsnormen und den Grundsatz des Vertrauensschutzes die Gültigkeit von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 2062/92 des Rates vom 30. Juni 1992 zur Festsetzung der für die Ernte 1992 geltenden Zielpreise, der Interventionspreise und der Käufern von Tabakblättern gewährten Prämien sowie der abgeleiteten Interventionspreise für Tabakballen, der Bezugsqualitäten und der Anbaugebiete beeinträchtigen könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Griechisch.

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