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Document 62022CC0305

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 13. Juni 2024.


ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:508

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 13. Juni 2024(1)

Rechtssache C305/22

C. J.,

Strafverfahren

(Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti [Berufungsgericht Bukarest, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Verpflichtung des Vollstreckungsmitgliedstaats, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken – Rahmenbeschluss 2008/909/JI – Gegenseitige Anerkennung von Urteilen in Strafsachen für die Zwecke ihrer Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat – Fehlende Zustimmung des Ausstellungsmitgliedstaats – Recht des Ausstellungsmitgliedstaats, die Strafe selbst zu vollstrecken – Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken“






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nrn. 5 und 6 sowie Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten(2) sowie von Art. 4 Abs. 2, Art. 22 Abs. 1 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union(3).

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines nationalen Verfahrens, in dem die Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) über die Gültigkeit eines nationalen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Haftstrafe, die gegen C. J., der seinen Wohnsitz in Italien hat, verhängt wurde, sowie die Gültigkeit eines Europäischen Haftbefehls, der gegen C. J. erlassen wurde, zu entscheiden hat. Die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls wurde von den italienischen Justizbehörden auf der Grundlage des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584(4) vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes verweigert. Zugleich haben diese Behörden trotz der Erklärung der rumänischen Justizbehörden, mit der Vollstreckung dieser Verurteilung in Italien nicht einverstanden zu sein, eine Entscheidung über die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der gegen C. J. verhängten strafrechtlichen Sanktion erlassen.

3.        Die vorliegende Rechtssache veranschaulicht ein Problem des Zusammenspiels zwischen diesem Rahmenbeschluss und dem Rahmenbeschluss 2008/909, die zwei grundlegende Instrumente der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellen.

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen, in denen der Bitte des Gerichtshofs entsprechend die ersten drei Vorlagefragen behandelt werden, werde ich die Auffassung vertreten, dass eine Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassen wurde, nicht unter Berufung auf den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten fakultativen Ablehnungsgrund verweigern kann, wenn bei der Anerkennung und Vollstreckung des die Verurteilung aussprechenden Urteils das Verfahren und die Bedingungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 missachtet wurden. In dieser Situation behält der Ausstellungsmitgliedstaat(5) das Recht, diese Strafe zu vollstrecken, und die vollstreckende Justizbehörde hat folglich den Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, indem sie diesem Mitgliedstaat die gesuchte Person übergibt.

II.    Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

5.        Mit Urteil der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) vom 27. Juni 2017, abgeändert und rechtskräftig geworden durch das Urteil der Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) vom 10. November 2020, wurde C. J. wegen mehrerer Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und zwei Monaten sowie einem dreijährigen Verbot der Ausübung bestimmter Rechte verurteilt (im Folgenden: die Verurteilung aussprechendes Urteil).

6.        Am 20. November 2020 ordnete die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) die Vollstreckung der gegen C. J. verhängten Freiheitsstrafe an. Am 25. November 2020 erließ dieses Gericht einen Europäischen Haftbefehl gegen C. J.

7.        Am 31. Dezember 2020 informierte das Ministero della Giustizia (Justizministerium, Italien) die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) über die Festnahme von C. J. und bat um Übersendung des Europäischen Haftbefehls in italienischer Sprache. Dieser Europäische Haftbefehl wurde ihm übermittelt.

8.        Auf das Ersuchen der italienischen Justizbehörden übermittelte die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) ihnen am 14. Januar 2021 das die Verurteilung aussprechende Urteil. Bei dieser Gelegenheit erklärte dieses Gericht, dass es nicht mit einer etwaigen Anerkennung dieses Urteils durch die italienischen Justizbehörden zum Zweck der Vollstreckung in Italien einverstanden sei.

9.        Auf Bitte der italienischen Justizbehörden stellte die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) am 20. Januar 2021 klar, dass sie im Fall einer Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 der inzidenten Anerkennung des Urteils und der Übernahme der Vollstreckung der Strafe durch die Italienische Republik im Rahmen dieses Verfahrens nicht zustimmen und sodann ein Ersuchen um die Urteilsanerkennung und Vollstreckungsübernahme auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909 stellen werde.

10.      Danach ersuchten die rumänischen Behörden die italienischen Justizbehörden gemäß Art. 22 des Rahmenbeschlusses 2002/584 um Informationen über die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.

11.      Mit Urteil vom 6. Mai 2021 lehnte die Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) die Übergabe von C. J. ab, erkannte das die Verurteilung aussprechende Urteil an und ordnete dessen Vollstreckung in Italien an. Dieses Gericht war der Ansicht, da sich C. J. rechtmäßig und tatsächlich in Italien aufhalte, könne nicht verlangt werden, dass er seine Strafe in Rumänien verbüße, denn die Vollstreckung dieser Strafe in Italien werde dem Ziel, seine Resozialisierung zu erleichtern, eher gerecht. Unter Anrechnung der bereits verbüßten Haftzeiträume betrage die noch zu verbüßende Reststrafe insgesamt drei Jahre, sechs Monate und 21 Tage.

12.      Am 20. Mai 2021 wurde dieses Urteil der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom) der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) übermittelt. Anschließend erhielten die rumänischen Behörden eine Bescheinigung der Strafvollstreckungsstelle der Staatsanwaltschaft Rom vom 11. Juni 2021, aus der hervorgeht, dass sich C. J. im Hausarrest nach italienischem Recht befindet. Aus dieser Bescheinigung ergibt sich ferner hinsichtlich des Vollstreckungsstands, dass es sich um eine Vollstreckungsanordnung mit gleichzeitiger AussetzungHausarrest – handelt, und dass die zu verbüßende Reststrafe auf drei Jahre und elf Monate Freiheitsstrafe mit Strafbeginn am 29. Dezember 2020 und Strafende am 28. November 2024 lautet(6).

13.      Mit Schreiben vom 28. Juni 2021 wiederholten die rumänischen Justizbehörden ihren in Nr. 9 der vorliegenden Schlussanträge dargestellten Standpunkt und stellten klar, dass sie, solange sie keine Mitteilung über den Beginn der Vollstreckung der Freiheitsstrafe durch Inhaftierung von C. J. erhielten, davon ausgingen, gemäß Art. 22 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 das Recht zu behalten, das die Verurteilung aussprechende Urteil vom 27. Juni 2017 zu vollstrecken. Überdies seien die nationale Anordnung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe und die internationale Fahndungsausschreibung nicht aufgehoben und weiterhin gültig.

14.      Am 15. Oktober 2021 legte die Strafvollstreckungsstelle der Zweiten Strafkammer der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) bei dem vorlegenden Gericht Beschwerde gegen die Vollstreckung des die Verurteilung aussprechenden Urteils ein.

15.      Dieses Gericht gibt an, dass es angesichts der divergierenden Auslegung durch die rumänischen und italienischen Justizbehörden insbesondere in Bezug auf das Zusammenspiel zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 über die Gültigkeit des nationalen Haftbefehls zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe und über die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls zu entscheiden habe. Dieses Gericht muss somit entscheiden, ob diese von den rumänischen Behörden erlassene nationale Vollstreckungsanordnung für nichtig zu erklären ist, wenn man der Auffassung ist, dass die Entscheidung, mit der die Verurteilung ausgesprochen wurde, von den italienischen Behörden umgesetzt wurde und dass sie derzeit vollstreckt wird.

16.      Folglich stellen sich die Fragen, ob die Anerkennung eines Urteils in einem Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, in dem die vollstreckende Justizbehörde dessen Vollstreckung nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigert hat, der Zustimmung des Ausstellungsmitgliedstaats nach Art. 4 Abs. 2 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 bedarf sowie ob die Übermittlung des die Verurteilung aussprechenden Urteils durch den Ausstellungsmitgliedstaat an den Vollstreckungsmitgliedstaat als Zustimmung gelten kann. Ferner stellt sich die Frage, ob ein solches Verfahren, das unter Verstoß gegen Art. 4 Abs. 2 und Art. 25 dieses Rahmenbeschlusses durchgeführt wurde, Rechtswirkungen in Bezug auf die Vollstreckung der Sanktion im Hoheitsgebiet Rumäniens entfalten kann. Außerdem wird zu entscheiden sein, ob, solange nicht der Beginn der Vollstreckung der Freiheitsstrafe durch Inhaftierung der verurteilten Person mitgeteilt wurde, der Ausstellungsmitgliedstaat gemäß Art. 22 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 uneingeschränkt das Recht behält, die in seinem Hoheitsgebiet ergangenen Urteile zu vollstrecken.

17.      Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass das Gericht, das einen Europäischen Haftbefehl vollstreckt, wenn es beabsichtigt, für die Anerkennung des die Verurteilung aussprechenden Urteils Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anzuwenden, verpflichtet ist, das Urteil und die gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909 ausgestellte Bescheinigung anzufordern und die Zustimmung des Urteilsstaats nach Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 einzuholen?

2.      Ist Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 25 und Art. 4 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls und die Anerkennung des die Verurteilung aussprechenden Urteils ohne tatsächliche Vollstreckung durch Inhaftierung der verurteilten Person infolge Begnadigung und Aussetzung der Vollstreckung der Strafe gemäß dem Recht des Vollstreckungsstaats und ohne Einholung der Zustimmung des Urteilsstaats im Anerkennungsverfahren zum Verlust des Rechts des Urteilsstaats auf Vollstreckung der Strafe nach Art. 22 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 führen?

3.      Ist Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass ein Urteil, mit dem eine Freiheitsstrafe verhängt wird und auf dessen Grundlage ein Europäischer Haftbefehl erlassen wird, dessen Vollstreckung nach Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses abgelehnt wird, seine Vollstreckbarkeit verliert, wenn es zwar anerkannt wird, aber infolge Begnadigung und Aussetzung der Vollstreckung der Strafe gemäß dem Recht des Vollstreckungsstaats nicht tatsächlich durch Inhaftierung der verurteilten Person vollstreckt wird und im Anerkennungsverfahren nicht die Zustimmung des Urteilsstaats eingeholt wird?

4.      Ist Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass eine Gerichtsentscheidung, mit der die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird und mit der das die Verurteilung aussprechende Urteil nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar anerkannt wird, aber infolge Begnadigung und Aussetzung der Vollstreckung der Strafe gemäß dem Recht des Vollstreckungsstaats (Mitgliedstaat der Europäischen Union) nicht tatsächlich durch Inhaftierung der verurteilten Person vollstreckt wird, und ohne dass im Anerkennungsverfahren die Zustimmung des Urteilsstaats eingeholt wird, eine Verurteilung „wegen derselben Handlung durch einen Drittstaat“ darstellt?

5.      Falls die vierte Frage bejaht wird: Ist Art. 4 Nr. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass eine Gerichtsentscheidung, mit der die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls abgelehnt und das die Verurteilung aussprechende Urteil nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 anerkannt wird, wobei die Vollstreckung der Strafe gemäß dem Recht des Vollstreckungsstaats ausgesetzt wird, ein Urteil darstellt, das „gerade vollstreckt wird“, wenn die Überwachung der verurteilten Person noch nicht begonnen hat?

18.      C. J., die rumänische, die tschechische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme von C. J. haben dieselben Parteien, wie auch die französische Regierung, an der mündlichen Verhandlung vom 13. März 2024 teilgenommen, in der sie insbesondere die vom Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellten Fragen beantwortet haben.

III. Würdigung

A.      Vorbemerkungen

19.      Den schriftlichen Erklärungen von C. J. zufolge hat das Tribunale di sorveglianza di Roma (Strafvollstreckungsgericht Rom, Italien) am 7. Februar 2023 die Vollstreckung der Reststrafe in Form von Hausarrest angeordnet. Der Gerichtshof hat daher das vorlegende Gericht um eine Klarstellung ersucht, ob diese Information für seine Vorlagefragen relevant ist.

20.      Dieses Gericht antwortete am 22. November 2023, dass es diese Information nicht bestätigen könne, weil die italienischen Justizbehörden seit dem Jahr 2021 keine Unterlagen betreffend C. J. übermittelt hätten. Zudem stellte es klar, dass eine Antwort auf die ersten vier Vorlagefragen, falls sich die Information über die Entwicklungen des italienischen Verfahrens bewahrheite, sachdienlich bleibe. Allenfalls die fünfte Frage könne als überholt angesehen werden.

21.      In Anbetracht dessen ist meines Erachtens im Folgenden von dem Sachverhalt auszugehen, wie er in der Vorlageentscheidung dargestellt ist(7), d. h., dass sich die Vollstreckung der gegen C. J. verhängten Freiheitsstrafe auf dem Stand befindet, dass eine Vollstreckungsanordnung mit gleichzeitiger Aussetzung – Hausarrest – ergangen ist und eine Entscheidung der italienischen Justizbehörden über eine alternative Maßnahme zur Haft noch aussteht.

B.      Zu den ersten drei Vorlagefragen

22.      Mit seinen ersten drei Vorlagefragen, deren gemeinsame Prüfung ich vorschlage, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um eine Entscheidung, ob Art. 4 Nr. 6 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowie Art. 4 Abs. 2 und 5, Art. 8 Abs. 1, Art. 22 Abs. 1 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen sind, dass eine Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf den in der erstgenannten Bestimmung angeführten fakultativen Ablehnungsgrund rechtswirksam verweigern kann, wenn bei der Anerkennung und Vollstreckung des die Verurteilung aussprechenden Urteils das Verfahren und die Bedingungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 missachtet wurden. Ferner möchte dieses Gericht wissen, ob der Ausstellungsmitgliedstaat unter diesen Umständen das Recht behält, diese Strafe zu vollstrecken, und die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, den Europäischen Haftbefehl durch die Übergabe der gesuchten Person an diesen Mitgliedstaat zu vollstrecken.

23.      Zur Beantwortung dieser Fragen stehen sich zwei Auffassungen diametral gegenüber. Während die niederländische Regierung auf dem Standpunkt steht, von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten fakultativen Ablehnungsgrund könne außerhalb des durch den Rahmenbeschluss 2008/909 festgelegten Rahmens Gebrauch gemacht werden, vertreten die anderen Verfahrensbeteiligten die gegenteilige Auffassung. Der letztgenannten Auffassung schließe ich mich an.

24.      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln(8).

25.      Im Regelungsbereich dieses Rahmenbeschlusses kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses ergibt, den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt, in dessen Art. 1 Abs. 2 zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen(9).

26.      Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls demnach nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind. Außerdem stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist(10).

27.      Dieser Rahmenbeschluss nennt die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a)(11).

28.      Auch wenn der Systematik des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegt, bedeutet dies folglich dennoch keine uneingeschränkte Verpflichtung zur Vollstreckung des ausgestellten Haftbefehls(12). Dieser Rahmenbeschluss erlaubt nämlich den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen, zu entscheiden, dass eine im Ausstellungsstaat verhängte Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat vollstreckt werden muss(13).

29.      Was die in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgeführten fakultativen Gründe für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls anbelangt, geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in ihr innerstaatliches Recht über ein Ermessen verfügen. Somit steht es ihnen frei, diese Gründe in ihr innerstaatliches Recht zu übernehmen. Ferner können sie sich dafür entscheiden, die Fälle zu begrenzen, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, und damit die Übergabe gesuchter Personen im Einklang mit dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erleichtern(14).

30.      Ich weise darauf hin, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als einen fakultativen Ablehnungsgrund, nennt, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn dieser zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

31.      Somit hängt die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, von zwei Voraussetzungen ab, nämlich zum einen, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, und zum anderen, dass sich dieser Staat verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung, für die der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken(15).

32.      Was die erste Voraussetzung anbelangt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine gesuchte Person „ihren Wohnsitz“ im Vollstreckungsmitgliedstaat hat, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort „aufhält“, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben(16).

33.      Was die zweite Voraussetzung betrifft, geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls voraussetzt, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat tatsächlich verpflichtet, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken(17). Daher kann der bloße Umstand, dass dieser Staat seine „Bereitschaft“ erklärt, die Strafe vollstrecken zu lassen, zur Rechtfertigung einer solchen Verweigerung nicht ausreichen. Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde vor jeder Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls prüfen, ob es nach ihrem innerstaatlichen Recht überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken(18).

34.      Demnach ist zu gewährleisten, dass die vollstreckende Justizbehörde von ihrer Befugnis, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu verweigern, nur dann Gebrauch macht, wenn die wirksame Vollstreckung der gegen die gesuchte Person verhängten Freiheitsstrafe im Vollstreckungsmitgliedstaat sichergestellt ist, so dass man zu einem Ergebnis gelangt, das mit dem vom Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgten Ziel im Einklang steht(19).

35.      Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass beide zuvor genannten Voraussetzungen erfüllt sind, muss sie noch beurteilen, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird. Bei dieser Beurteilung kann diese Behörde das mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte Ziel berücksichtigen, das nach gefestigter Rechtsprechung darin besteht, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen(20). Daher muss die vollstreckende Justizbehörde über das erforderliche Ermessen verfügen, um zu entscheiden, ob im Hinblick auf das Ziel der Resozialisierung die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder nicht(21).

36.      Die von der vollstreckenden Justizbehörde vorzunehmende Prüfung, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe oder Maßregel der Sicherung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird, muss anhand einer Gesamtwürdigung aller konkreten die Situation der gesuchten Person kennzeichnenden Faktoren erfolgen, die darauf hinweisen können, ob zwischen dieser Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die die Feststellung ermöglichen, dass diese Person hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verwirklichung des mit Art. 4 Nr. 6 verfolgten Ziels der Resozialisierung beitragen wird(22).

37.      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof ausgeführt, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 zu berücksichtigen ist. Insbesondere enthält der neunte Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses eine beispielhafte Liste der Faktoren, die es einer Justizbehörde ermöglichen können, sich zu vergewissern, dass die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verwirklichung des Ziels der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören im Wesentlichen die Bindung der Person an den Vollstreckungsmitgliedstaat sowie der Umstand, dass dieser Mitgliedstaat insbesondere unter Berücksichtigung ihrer familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen zu diesem Staat den Mittelpunkt ihres Familienlebens und ihrer Interessen bildet(23).

38.      Mithin besteht zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 eine Wechselwirkung. Der Gerichtshof hat auf das Bestehen einer solchen Wechselwirkung hingewiesen und ausgeführt, dass diese Faktoren, da das mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte Ziel mit demjenigen übereinstimmt, das im neunten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannt und mit dessen Art. 25 verfolgt wird, der sich auf den in vorgenanntem Art. 4 Nr. 6 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund bezieht, auch im Rahmen der Gesamtschau relevant sind, die die vollstreckende Justizbehörde bei der Anwendung dieses Grundes vorzunehmen hat(24).

39.      Die Wechselwirkung zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 beschränkt sich jedoch nicht auf die Würdigung in Bezug auf ein legitimes Interesse, das es rechtfertigt, die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe oder Maßregel der Sicherung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats zu vollstrecken. Vielmehr sieht Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 dessen Anwendung viel allgemeiner auf die Vollstreckung von Sanktionen vor, wenn ein Mitgliedstaat die Entscheidung trifft, von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund Gebrauch zu machen.

40.      So heißt es in Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909: „Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses [2002/584] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet oder in denen er gemäß Artikel 5 Absatz 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“

41.      Nach meinem Verständnis ergibt sich aus Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909, dass die vollstreckende Behörde von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen kann, dass das in dem Rahmenbeschluss 2008/909 festgelegte Verfahren und die dort festgelegten Bedingungen für die Anerkennung und Vollstreckung eines Urteils in Strafsachen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Urteilsmitgliedstaat eingehalten werden(25). Hierfür sprechen mehrere Gesichtspunkte.

42.      Erstens ist der zwölfte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909 anzuführen, wonach dieser „sinngemäß auch für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 und Artikel 5 Absatz 3 des Rahmenbeschlusses [2002/584] gelten [sollte]. Dies bedeutet unter anderem, dass der Vollstreckungsstaat unbeschadet des genannten Rahmenbeschlusses als Voraussetzung für die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils im Hinblick auf die Prüfung, ob die Person übergeben oder die Strafe vollstreckt wird[,] in Fällen gemäß Artikel 4 Absatz 6 des … Rahmenbeschlusses [2002/584] prüfen könnte, ob Gründe für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung gemäß Artikel 9 dieses Rahmenbeschlusses vorliegen, was auch die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit einschließt, soweit der Vollstreckungsstaat eine Erklärung gemäß Artikel 7 Absatz 4 dieses Rahmenbeschlusses abgibt.“ Zwar hebt der Unionsgesetzgeber als Beispiel die vom Vollstreckungsmitgliedstaat vorzunehmende Prüfung hervor, ob in Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vorgesehene Gründe für die Nichtanerkennung und Nichtvollstreckung vorliegen, doch schließt dies meines Erachtens keineswegs die Prüfung anderer Voraussetzungen aus.

43.      Den Zusammenhang zwischen den im Rahmenbeschluss 2002/584 und im Rahmenbeschluss 2008/909 vorgesehenen Verfahren, wenn von dem in Art. 4 Nr. 6 des erstgenannten Rahmenbeschlusses genannten fakultativen Ablehnungsgrund Gebrauch gemacht wird, bestätigt auch Abschnitt f des in Anhang I des Rahmenbeschlusses 2008/909 wiedergegebenen Standardformulars für die Bescheinigung. Diese Bescheinigung wird für die Zwecke der Anerkennung und Vollstreckung des Urteils zusammen mit diesem übermittelt und muss diesen Grund, wenn er geltend gemacht wird, angeben. Die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus diesem Grund setzt folglich voraus, dass das Urteil vom Urteilsmitgliedstaat zusammen mit der Bescheinigung gemäß den in diesem Rahmenbeschluss aufgestellten Regeln übermittelt wurde.

44.      Zweitens dürfte die Voraussetzung, dass die vollstreckende Justizbehörde vor jeder Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grund prüfen muss, ob die Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach ihrem innerstaatlichen Recht tatsächlich möglich ist, die Vorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats einschließen, die den Rahmenbeschluss 2008/909 umsetzen(26). Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde in Übereinstimmung mit Art. 25 dieses Rahmenbeschlusses und zur Sicherstellung der wirksamen Vollstreckung einer solchen Strafe das in diesem Rahmenbeschluss festgelegte Verfahren und die dort festgelegten Bedingungen für die Anerkennung und Vollstreckung eines im Urteilsmitgliedstaat ergangenen Urteils einhalten.

45.      Drittens sind, worauf die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung zu Recht hingewiesen hat, keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Unionsgesetzgeber abhängig davon, ob ein Europäischer Haftbefehl vorliegt oder nicht, zwei verschiedene Regelungssysteme in Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen vorsehen wollte.

46.      Viertens ergibt sich aus dem Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat)(27), dass dann, wenn eine vollstreckende Justizbehörde eine Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung zu übergeben beabsichtigt und diese Übergabe gemäß Art. 5 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 davon abhängig macht, dass die Person zur Verbüßung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängten Strafe in den Vollstreckungsstaat rücküberstellt wird, die Vollstreckung dieser Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat den Regelungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 unterliegt(28). Entsprechendes muss meines Erachtens gelten, wenn von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund Gebrauch gemacht wird.

47.      Hieraus folgt, dass bei der Anerkennung und Vollstreckung der gegen die gesuchte Person verhängten Sanktion das Verfahren und die Bedingungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 einzuhalten sind, um von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund Gebrauch machen zu können.

48.      Dies führt mich zu der Auffassung, dass die gegen die gesuchte Person verhängte Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat nicht wirksam vollstreckt werden kann, wenn dieses Verfahren und diese Bedingungen von diesem Mitgliedstaat nicht eingehalten werden. Somit muss der Vollstreckungsmitgliedstaat, um sich, wie Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 es verlangt, verpflichten zu können, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken, wobei er prüft, ob es nach seinem innerstaatlichen Recht überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken(29), und so jegliches Risiko von Straflosigkeit zu vermeiden, befugt sein, die Vollstreckung dieser Strafe unter Einhaltung der Regeln, die der Rahmenbeschluss 2008/909 vorsieht, zu übernehmen.

49.      An dieser Stelle ist näher auszuführen, welche Regeln dies sind.

50.      Insoweit weise ich darauf hin, dass der Rahmenbeschluss 2008/909 wie der Rahmenbeschluss 2002/584 im Bereich des Strafrechts die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung konkretisiert. Dieser Rahmenbeschluss entwickelt die justizielle Zusammenarbeit in Bezug auf die Anerkennung und Vollstreckung von Strafurteilen in Fällen weiter, in denen gegen Personen in einem anderen Mitgliedstaat eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wurde, um ihre soziale Wiedereingliederung zu erleichtern(30).

51.      Ausweislich des Wortlauts von Art. 3 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses ist dessen Zweck, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

52.      Zu diesem Zweck sieht Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vor, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats grundsätzlich verpflichtet ist, dem ihr gemäß den Art. 4 und 5 dieses Rahmenbeschlusses übermittelten Antrag auf Anerkennung eines in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Urteils und auf Vollstreckung einer dort ausgesprochenen Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Strafe oder Maßnahme stattzugeben. Sie darf es grundsätzlich nur aus den in Art. 9 dieses Rahmenbeschlusses abschließend aufgeführten Gründen für die Versagung der Anerkennung und der Vollstreckung ablehnen, einem solchen Antrag Folge zu leisten(31).

53.      Außerdem führt Art. 8 Abs. 2 bis 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 strenge Voraussetzungen für die Anpassung der im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Sanktion durch die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats ein, die die einzigen Ausnahmen von der grundsätzlichen Verpflichtung dieser Behörde gemäß Art. 8 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses darstellen, das ihr übermittelte Urteil anzuerkennen und unverzüglich alle für die Vollstreckung der Sanktion erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, die in Dauer und Art denen entsprechen, die in dem im Ausstellungsmitgliedstaat ergangenen Urteil vorgesehen sind(32).

54.      Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sieht die Möglichkeit vor, dass der Urteilsmitgliedstaat, der üblicherweise die Schritte zur Anerkennung und Vollstreckung eines in seinem Hoheitsgebiet ergangenen Urteils in Strafsachen einleitet, diesem anderen Mitgliedstaat ein solches Urteil zusammen mit der Bescheinigung in Form des in Anhang I dieses Rahmenbeschlusses wiedergegebenen Standardformulars übermittelt.

55.      Nach Art. 4 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses „[kann d]ie Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung erfolgen, wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats, gegebenenfalls nach Konsultationen zwischen den zuständigen Behörden des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaats, vergewissert hat, dass die Vollstreckung der verhängten Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person dient“.

56.      Außerdem bestimmt Art. 4 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/909, dass „[d]er Vollstreckungsstaat … den Ausstellungsstaat von sich aus um Übermittlung des Urteils zusammen mit der Bescheinigung ersuchen [kann]. … Ersuchen im Sinne dieses Absatzes begründen keine Verpflichtung für den Ausstellungsstaat, das Urteil zusammen mit der Bescheinigung zu übermitteln.“

57.      Art. 5 dieses Rahmenbeschlusses beschreibt das Verfahren zur Übermittlung des Urteils und der Bescheinigung.

58.      Aus diesen Bestimmungen leite ich zum einen ab, dass die Übermittlung des die Verurteilung aussprechenden Urteils und der in dem Rahmenbeschluss 2008/909 vorgesehenen Bescheinigung durch den Urteilsmitgliedstaat für die Anerkennung dieses Urteils und die Vollstreckung der Sanktion notwendig ist, wobei diese Übermittlung eine Form der Zustimmungserteilung des Urteilsmitgliedstaats zur Übernahme der Strafvollstreckung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat darstellt. Die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion erfolgen dann auf der Grundlage der in der Bescheinigung enthaltenen Informationen. Diese Bescheinigung kann im Übrigen von dem Urteilsmitgliedstaat unter den in Art. 13 dieses Rahmenbeschlusses vorgesehenen Voraussetzungen zurückgezogen werden(33), insbesondere wenn er mit der beabsichtigten Anpassung der Strafe nicht einverstanden ist.

59.      Zum anderen ist der Urteilsmitgliedstaat nicht zu einer solchen Übermittlung verpflichtet(34). Wenn er sie vornimmt, ist dies als Zustimmung zur Vollstreckung der in Rede stehenden Sanktion im Vollstreckungsmitgliedstaat zu werten. Hieraus folgt, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat, wenn nicht das Urteil zusammen mit der in diesem Rahmenbeschluss vorgesehenen Bescheinigung übermittelt wird, nicht befugt ist, eine im Urteilsmitgliedstaat verhängte Strafe in seinem Hoheitsgebiet vollstrecken zu lassen, da der Urteilsmitgliedstaat dem nicht zugestimmt hat. Nichts anderes dürfte gelten, wenn von dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund Gebrauch gemacht wird.

60.      Infolgedessen kann die Übernahme der Strafvollstreckung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat nur in dem von dem Rahmenbeschluss 2008/909 festgelegten Rahmen erfolgen, der eine enge und aktive Zusammenarbeit mit dem Urteilsmitgliedstaat und insbesondere das Einverständnis dieses Staats mit der Vollstreckung der Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat verlangt(35). Die Übermittlung des Urteils durch den Urteilsmitgliedstaat an den Vollstreckungsmitgliedstaat im Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfüllt diese Voraussetzung nicht, wenn wie im vorliegenden Fall dem Urteil die in diesem Rahmenbeschluss vorgesehene Bescheinigung nicht beigefügt ist und zudem der erstgenannte Mitgliedstaat unzweideutig erklärt, mit der Vollstreckung der verhängten Strafe im letztgenannten Mitgliedstaat nicht einverstanden zu sein.

61.      Die Durchführung des Verfahrens des Rahmenbeschlusses 2008/909 ist somit geeignet, das gegenseitige Vertrauen der zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Vollstreckungsmitgliedstaats durch Vorabkonsultationen zu stärken, die Ausdruck des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit sind. Wenn der Urteilsmitgliedstaat die Übertragung der Strafvollstreckung ablehnt, kann der Vollstreckungsmitgliedstaat nicht einseitig die Zuständigkeit für die Vollstreckung der Strafe an sich ziehen und sich nicht auf den in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrund berufen.

62.      Entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung im vorliegenden Verfahren bin ich der Ansicht, dass das Erfordernis, die Zustimmung des Urteilsmitgliedstaats einzuholen, die praktische Wirksamkeit des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen fakultativen Ablehnungsgrundes nicht beeinträchtigt. Denn mit diesem Erfordernis wird die in dieser Bestimmung vorgesehene Ablehnung der Vollstreckung lediglich an eine Voraussetzung geknüpft und ist nicht als unanwendbar anzusehen. In diesem Stadium kann nicht vermutet werden, dass der Urteilsmitgliedstaat die Übermittlung des Urteils zusammen mit der Bescheinigung verweigern wird. Dieser Mitgliedstaat kann nämlich wie der Vollstreckungsmitgliedstaat davon überzeugt sein, dass die Vollstreckung der Sanktion im Hoheitsgebiet des letztgenannten Staats dazu beiträgt, das Ziel der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person zu erreichen.

63.      Außerdem hat der Gerichtshof zwar aus Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 abgeleitet, dass sich keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2008/909 auf den Geltungsbereich oder die Modalitäten der Anwendung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Grundes, aus dem die Vollstreckung abgelehnt werden kann, auswirken kann(36). Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen nicht anwendbar sind, wenn von diesem Ablehnungsgrund Gebrauch gemacht wird, sondern vielmehr, dass diese Voraussetzungen nur anwendbar sind, soweit sie mit diesem Rahmenbeschluss vereinbar sind(37). Der Unionsgesetzgeber hat damit seinen Willen zum Ausdruck gebracht, das Ziel dieses Rahmenbeschlusses, die Übergabe von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, nicht zu schwächen.

64.      Eine Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 kann ich darin, dass von dem in Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses genannten fakultativen Ablehnungsgrund nur mit Zustimmung des Urteilsmitgliedstaats Gebrauch gemacht werden kann, nicht erkennen. Im Gegenteil trägt eine solche Voraussetzung insofern, als sie die Möglichkeit einer vollstreckenden Justizbehörde, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, begrenzt, dazu bei, das mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe zu verstärken(38). Insbesondere erfordert die Anwendung dieses Ablehnungsgrundes weiterhin, dass die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe in diesem Mitgliedstaat tatsächlich vollstreckt werden kann(39).

65.      Ferner hat der Gerichtshof zwar darauf hingewiesen, dass das vom Unionsgesetzgeber vorgesehene Zusammenspiel zwischen dem Rahmenbeschluss 2002/584 und dem Rahmenbeschluss 2008/909 dazu beitragen soll, das Ziel zu erreichen, die Resozialisierung des Betroffenen zu erleichtern, und dass diese Resozialisierung nicht nur im Interesse des Verurteilten, sondern auch im Interesse der Europäischen Union insgesamt liegt(40). Allerdings hat der Gerichtshof auch entschieden, dass mit dem fakultativen Ablehnungsgrund in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar insbesondere bezweckt wird, dass der Frage, ob die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe erhöht werden können, besondere Bedeutung beigemessen werden kann, ein solches Ziel – so wichtig es ist – es jedoch nicht ausschließen kann, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieses Rahmenbeschlusses die Fälle, in denen die Übergabe einer vom Anwendungsbereich des Art. 4 Nr. 6 erfassten Person verweigert werden kann, im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundregel begrenzen(41).

66.      Aus dem Vorstehenden folgt, dass das Ziel, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der Strafe, zu der sie verurteilt wurde, zu erhöhen, nicht absolut gilt und dem Ziel, ein wirksames System der Übergabe zwischen den Mitgliedstaaten zu schaffen, nicht vorgehen darf.

67.      Zudem müssen, wie von der französischen Regierung in der mündlichen Verhandlung zu Recht ausgeführt, nach Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sowohl die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats als auch diejenigen des Vollstreckungsmitgliedstaats überzeugt sein, dass das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung im jeweiligen Einzelfall dem Ziel gerecht wird, die Resozialisierung der verurteilten Person zu begünstigen. Dieses Konsenserfordernis steht folglich in direktem Widerspruch zu der Überlegung, Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erlaube es, den Vollstreckungsmitgliedstaat allein entscheiden zu lassen, ob die Vollstreckung der Strafe in seinem Hoheitsgebiet gerechtfertigt ist. Auch der Ausstellungsmitgliedstaat muss der Ansicht sein, dass die Vollstreckung der Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats die Resozialisierung der verurteilten Person erleichtern würde und dass dieses Ziel demjenigen der Vollstreckung der Strafe im Ausstellungsmitgliedstaat vorgeht. Jede andere Beurteilung würde dazu führen, im Widerspruch zu Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 ein duales System gegenseitiger Anerkennung von Entscheidungen über strafrechtliche Verurteilungen zu schaffen. Während außerhalb des Kontexts eines Europäischen Haftbefehls beide Mitgliedstaaten überzeugt sein müssten, dass das Ziel, die Resozialisierung zu begünstigen, erreicht wird, könnte bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls allein der Vollstreckungsmitgliedstaat diese Bewertung vornehmen. Wie bereits ausgeführt, denke ich jedoch nicht, dass der Unionsgesetzgeber ein solches duales System schaffen wollte.

68.      Ferner bin ich der Ansicht, dass das Ziel, die Resozialisierungschancen der verurteilten Person zu erhöhen, die legitimen Interessen, die der Mitgliedstaat, in dem die Strafe verhängt wurde, an deren Vollstreckung in seinem Hoheitsgebiet haben kann, nicht verdrängen kann. Angesichts der verschiedenen Funktionen, die der Strafe in der Gesellschaft zukommen, können die jedem Mitgliedstaat eigenen strafpolitischen Erwägungen dem Urteilsmitgliedstaat nämlich Anlass zu dem Wunsch geben, dass die verhängte Strafe in seinem Hoheitsgebiet vollstreckt werde, obschon dem Erwägungen in Bezug auf die Resozialisierung der gesuchten Person entgegenstehen könnten(42). Als Beispiel hierfür lassen sich Verurteilungen im Bereich des Terrorismus anführen.

69.      Ich gehe davon aus, dass ein Mitgliedstaat, wenn er sich entscheidet, einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zu erlassen, wünscht, dass die gesuchte Person ihm übergeben werde, damit sie diese Strafe in seinem Hoheitsgebiet verbüße. Hätte dieser Mitgliedstaat primär die Möglichkeit der Vollstreckung dieser Strafe in einem anderen Mitgliedstaat erstrebt, so hätte er von dem Mechanismus der Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen in Strafsachen nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 Gebrauch gemacht.

70.      Liegt ein solcher Antrag auf Anerkennung eines im Ausstellungsmitgliedstaat ergangenen Urteils und auf Vollstreckung einer dort verhängten strafrechtlichen Sanktion vor, besteht der Zweck dieses Verfahrens gerade darin, dass die betroffene Person nicht an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats übergeben werden muss, sondern im Vollstreckungsmitgliedstaat bleibt, um dort ihre Strafe zu verbüßen(43).

71.      Zieht es der Urteilsmitgliedstaat jedoch vor, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, statt von dem Überstellungsmechanismus nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 Gebrauch zu machen, so ergeben sich aus dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung Folgen anderer Art. Nach diesem Grundsatz ist die vollstreckende Justizbehörde dann verpflichtet, den ihr vorgelegten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken.

72.      Mit der Einholung der Zustimmung des Urteilsmitgliedstaats kann der freien Wahl zwischen den beiden Instrumenten der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, die der Urteilsmitgliedstaat haben muss, Rechnung getragen werden. Wie bereits erläutert, trifft diesen Mitgliedstaat keine Verpflichtung, die Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 auszustellen. Hat dieser Mitgliedstaat die souveräne Entscheidung zugunsten eines Europäischen Haftbefehls getroffen, muss diese Wahl respektiert werden. Folglich kann nicht angenommen werden, dass ebendieser Mitgliedstaat im Fall der Ablehnung der Vollstreckung dieses Haftbefehls bereit wäre, auf die Strafvollstreckung in seinem Hoheitsgebiet zu verzichten. Ganz im Gegenteil zeugt der Erlass eines Europäischen Haftbefehls von seinem Wunsch, dass die Strafe in seinem Hoheitsgebiet vollstreckt werde.

73.      Die Auffassung der niederländischen Regierung, es stehe der Anerkennung des die Verurteilung aussprechenden Urteils gleich, wenn von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 Gebrauch gemacht werde, was den Erhalt der Zustimmung des Urteilsmitgliedstaats entbehrlich mache, führt zu folgendem Paradox: Sie läuft darauf hinaus, im Erlass eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Strafe eine Einwilligung der erlassenden Justizbehörde zu sehen, dass diese Strafe gegebenenfalls in einem anderen Mitgliedstaat vollstreckt werden kann, womit der Ausstellungsmitgliedstaat auf seine eigene Zuständigkeit für die Vollstreckung der Strafe verzichten würde. Der Europäische Haftbefehl bezweckt jedoch vor allem, dass die gesuchte Person der Justizbehörde, die einen solchen Haftbefehl erlässt, übergeben wird. Mit anderen Worten hat der Erlass eines Europäischen Haftbefehls nicht zum Ziel, die Zuständigkeit für die Vollstreckung einer Strafe auf einen anderen Mitgliedstaat zu übertragen.

74.      Möchte der Ausstellungsmitgliedstaat seine Vollstreckungszuständigkeit behalten, missachtet er damit nicht den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Der Vollstreckungsmitgliedstaat ist nämlich grundsätzlich verpflichtet, dem Kooperationsersuchen, das in dem Erlass eines Europäischen Haftbefehls liegt, nachzukommen. Wie die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung zu Recht geltend gemacht hat, kann dieser Grundsatz in einer solchen Konstellation nicht zur Begründung der Anerkennung und Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung durch einen anderen Mitgliedstaat dienen, wenn kein entsprechendes Ersuchen gestellt wurde und diese Anerkennung und Vollstreckung auch nicht erwünscht war.

75.      Die gegenteilige Auslegung hätte zur Folge, dass dem Vollstreckungsmitgliedstaat ermöglicht würde, die Zuständigkeit für die Vollstreckung der Sanktion an sich zu ziehen, obwohl der Mitgliedstaat, in dem die Sanktion verhängt wurde, nicht auf die Ausübung dieser Zuständigkeit verzichtet hat, wie der Umstand, dass ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung dieser Sanktion erlassen wurde, erkennen lässt. Dies liefe dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwider, der unter derartigen Umständen vor allem impliziert, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat den Europäischen Haftbefehl vollstreckt. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, räumt Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 als Ausnahme vom Grundsatz der Übergabe und angesichts des fakultativen Charakters des dort vorgesehenen Ablehnungsgrundes der verurteilten Person keinen Anspruch auf Überstellung ein, sondern eröffnet lediglich eine Möglichkeit. Diese Möglichkeit kann nur unter Einhaltung bestimmter Bedingungen zur Anwendung gelangen.

76.      Folglich ist es nicht möglich, sich dem in dem Rahmenbeschluss 2008/909 festgelegten Rahmen zu entziehen, denn gleich unter welchen Umständen die Anerkennung eines die Verurteilung aussprechenden Strafurteils erwogen wird, kann nur die Einhaltung der in diesem Rahmenbeschluss festgelegten Regeln einen angemessenen Ausgleich herstellen, der die Rechte des Urteilsmitgliedstaats wahrt.

77.      In der vorliegenden Rechtssache steht fest, dass das Verfahren und die Bedingungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 für die Anerkennung und Vollstreckung des Urteils gegen C. J. nicht eingehalten wurden. So haben die italienischen Justizbehörden die Vollstreckung des gegen C. J. erlassenen Europäischen Haftbefehls abgelehnt und zugleich das die Verurteilung aussprechende Urteil anerkannt und seine Vollstreckung in Italien angeordnet, obwohl die rumänischen Justizbehörden ihnen zur Kenntnis gebracht hatten, dass sie mit einer solchen Anerkennung und einer solchen Vollstreckung außerhalb des Hoheitsgebiets Rumäniens nicht einverstanden waren.

78.      Die italienischen Justizbehörden haben somit nicht im Einklang mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, wie durch den Rahmenbeschluss 2008/909 konkretisiert, gehandelt und können sich daher gegenüber dem Ausstellungsmitgliedstaat nicht auf diesen Grundsatz berufen. Letzterer behält folglich das Recht, das in Rede stehende Urteil in seinem Hoheitsgebiet vollstrecken zu lassen. Zwar sieht Art. 22 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 vor, dass dieser Mitgliedstaat die Sanktion nicht mehr vollstrecken kann, wenn mit der Vollstreckung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats begonnen wurde, doch müssen bei der Vollstreckung die in diesem Rahmenbeschluss vorgesehenen Regeln eingehalten worden sein. Dies ist nicht der Fall, wenn die Anerkennung eines Urteils in Strafsachen unter Missachtung des Verfahrens und der in diesem Rahmenbeschluss vorgesehenen Bedingungen, insbesondere ohne dass das Urteil vom Ausstellungsmitgliedstaat zusammen mit der Bescheinigung nach dem Rahmenbeschluss übermittelt wurde, erfolgt ist. Ließe man unter solchen Umständen zu, dass der Beginn der Vollstreckung der Strafe im Vollstreckungsmitgliedstaat dem Ausstellungsmitgliedstaat seine Zuständigkeit für die Vollstreckung dieser Strafe entziehen könnte, würde dies einer Umgehung der durch den Rahmenbeschluss 2008/909 festgelegten Regeln Tür und Tor öffnen.

79.      Ich füge hinzu, dass man sich, selbst wenn die Übermittlung des Urteils zusammen mit der in diesem Rahmenbeschluss vorgesehenen Bescheinigung erfolgt wäre, fragen könnte, ob eine nationale Strafvollstreckungsanordnung mit gleichzeitiger Aussetzung – Hausarrest – bei noch ausstehender Entscheidung der italienischen Justizbehörden über eine alternative Maßnahme zur Haft überhaupt als Beginn der Vollstreckung dieser Strafe im Sinne von Art. 22 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses angesehen werden kann. Allerdings erscheint es mir nicht notwendig, diesen Aspekt im Rahmen der vorliegenden Rechtssache zu behandeln, da hier jedenfalls das Verfahren und die Bedingungen dieses Rahmenbeschlusses nicht eingehalten wurden(44).

80.      Da die Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde über die Ablehnung der Vollstreckung des gegen C. J. erlassenen Europäischen Haftbefehls unionsrechtswidrig ist, kann die ausstellende Justizbehörde außerdem das Verfahren zur Übergabe dieser Person durch die Aufrechterhaltung dieses Haftbefehls oder die Ausstellung eines neuen fortsetzen, um die Erreichung des mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgten Ziels der Bekämpfung der Straflosigkeit zu fördern(45). Mit anderen Worten ist der in Rede stehende Europäische Haftbefehl nicht als gegenstands- und wirkungslos anzusehen. Ferner bleibt das im Ausstellungsmitgliedstaat ergangene Urteil, auf das sich dieser Haftbefehl stützt und Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweist, vollstreckbar. Wie die rumänische Regierung in der mündlichen Verhandlung angemerkt hat, ist es nach erfolgter Übergabe Sache des Ausstellungsmitgliedstaats, gegebenenfalls Art. 26 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses Rechnung zu tragen. Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, stellt diese Vorschrift nämlich durch die Verpflichtung, alle Zeiträume zu berücksichtigen, in denen der Verurteilte im Vollstreckungsmitgliedstaat inhaftiert war, sicher, dass diese Person nicht letztlich eine Haft verbüßen muss, deren Gesamtdauer – sowohl im Vollstreckungsmitgliedstaat als auch im Ausstellungsmitgliedstaat – die Dauer der Freiheitsstrafe überschreitet, zu der sie im Ausstellungsmitgliedstaat verurteilt wurde(46).

IV.    Ergebnis

81.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die ersten drei Vorlagefragen der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) wie folgt zu beantworten:

Art. 4 Nr. 6 und Art. 8 Abs. 1 Buchst. c des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten sowie Art. 4 Abs. 2 und 5, Art. 8 Abs. 1, Art. 22 Abs. 1 und Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union

sind dahin auszulegen, dass

eine Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls nicht unter Berufung auf den in der erstgenannten Bestimmung angeführten fakultativen Ablehnungsgrund verweigern kann, wenn bei der Anerkennung und Vollstreckung des die Verurteilung aussprechenden Urteils das Verfahren und die Bedingungen des Rahmenbeschlusses 2008/909 missachtet wurden. Unter diesen Umständen behält der Ausstellungsmitgliedstaat das Recht, diese Strafe zu vollstrecken, und die vollstreckende Justizbehörde ist verpflichtet, den Europäischen Haftbefehl durch die Übergabe der gesuchten Person an diesen Mitgliedstaat zu vollstrecken.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2002, L 190, S. 1.


3      ABl. 2008, L 327, S. 27.


4      Diese Bestimmung sieht vor, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, „wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken“.


5      In den vorliegenden Schlussanträgen wird der Ausstellungsmitgliedstaat auch als Urteilsmitgliedstaat bezeichnet.


6      Diese Bescheinigung wurde durch eine weitere ergänzt, die den rumänischen Justizbehörden am 14. Juli 2021 übermittelt wurde und folgenden Vermerk enthält: „Was den … Hausarrest… betrifft, so steht eine Entscheidung des Strafvollstreckungsgerichts über die alternative Maßnahme noch aus.“


7      Nach ständiger Rechtsprechung liegt es in der Verantwortung des nationalen Gerichts, den rechtlichen und sachlichen Rahmen der Vorlage zur Vorabentscheidung festzulegen: Vgl. insbesondere Urteil vom 30. November 2023, Ministero dell’Istruzione und INPS (C‑270/22, EU:C:2023:933, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Vgl. insbesondere Urteil vom 6. Juni 2023, O. G. (Europäischer Haftbefehl gegen einen Drittstaatsangehörigen) (C‑700/21, im Folgenden: Urteil O. G., EU:C:2023:444, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


9      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Vgl. insbesondere Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Vgl. insbesondere Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Vgl. insbesondere Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Vgl. insbesondere Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie Generalanwalt Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:116) ausgeführt hat, „ist aufgrund der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung und der Notwendigkeit, jegliches Risiko von Straflosigkeit zu vermeiden, anzunehmen, dass der Europäische Haftbefehl vollstreckt werden muss, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung der Strafe aus welchem Grund auch immer nicht übernehmen kann“ (Nr. 57).


20      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Vgl. Urteil O. G. (Rn. 53).


22      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 60 und 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).


23      Vgl. insbesondere Urteil O. G. (Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).


24      Vgl. Urteil O. G. (Rn. 63).


25      Vgl. hierzu auch Bekanntmachung der Kommission – Handbuch zur [A]usstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (ABl. C, C/2023/1270), Abschnitte 2.5.2 und 5.5.2, aus denen sich ergibt, dass in Fällen, die unter Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fallen, der Rahmenbeschluss 2008/909 zur Übertragung der Strafe auf den Mitgliedstaat, in dem die Strafe vollstreckt wird, angewendet werden muss.


26      Vgl. in diesem Sinne Bekanntmachung der Kommission – Handbuch zur Überstellung verurteilter Personen und zur Übertragung freiheitsentziehender Strafen oder Maßnahmen innerhalb der Europäischen Union (ABl. 2019, C 403, S. 2), in dem es unter Abschnitt 11.1 heißt, dass „[g]emäß Artikel 25 und Erwägungsgrund 12 des Rahmenbeschlusses [2008/909] in Fällen, in denen Artikel 4 Nummer 6 und Artikel 5 Nummer 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zur Anwendung kommen, der Rahmenbeschluss [2008/909] (bzw. die innerstaatliche Rechtsvorschrift zu seiner Umsetzung) sinngemäß und soweit er mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 vereinbar ist, für die Vollstreckung der Sanktion [gilt]“. Unter selbigem Abschnitt wird ferner klargestellt, dass „[d]ie Verbindung zwischen dem Rahmenbeschluss [2008/909] und dem Rahmenbeschluss 2002/584 … in Artikel 25 und Erwägungsgrund 12 des erstgenannten Rahmenbeschlusses hergestellt [wird]“ und „die vollstreckende Justizbehörde vor jeder Ablehnung der Vollstreckung eines [Europäischen Haftbefehls] gemäß Artikel 4 Nummer 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 prüfen [muss], ob es nach ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses [2008/909] überhaupt möglich ist, die Strafe tatsächlich zu vollstrecken“ (Hervorhebung nur hier).


27      C‑314/18, EU:C:2020:191.


28      Vgl. Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 49 f.).


29      Vgl. insbesondere Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Vgl. Urteil vom 9. November 2023, Staatsanwaltschaft Aachen (C‑819/21, EU:C:2023:841, Rn. 19).


31      Vgl. Urteil vom 9. November 2023, Staatsanwaltschaft Aachen (C‑819/21, EU:C:2023:841, Rn. 20).


32      Vgl. insbesondere Urteil vom 15. April 2021, AV (Gesamturteil) (C‑221/19, EU:C:2021:278, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Diese Bestimmung hat folgenden Wortlaut: „Solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Sanktion begonnen wurde, kann der Ausstellungsstaat die Bescheinigung aus diesem Staat unter Angabe von Gründen zurückziehen. Nach Zurückziehung der Bescheinigung wird der Vollstreckungsstaat die Sanktion nicht länger vollstrecken.“


34      Vgl. hierzu das in Fn. 26 der vorliegenden Schlussanträge zitierte Handbuch, in dem unter Abschnitt 1.1 ausgeführt wird, dass nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 „[d]er Ausstellungsstaat … nicht verpflichtet [ist], ein Urteil zwecks Anerkennung und Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat zu übermitteln“ und „[d]er Ausstellungsstaat … das letzte Wort bezüglich der Überstellung [hat], nachdem er sich von der Anpassung der Sanktion und den Vollstreckungsmodalitäten überzeugt hat“. Ferner wird unter Abschnitt 3.1 dieses Handbuchs klargestellt, dass in beiden Fällen des Art. 4 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/909, „für den Ausstellungsstaat keine Verpflichtung [besteht], das Urteil tatsächlich zu übermitteln. Das ergibt sich folgerichtig aus der Tatsache, dass allein der Ausstellungsstaat nach einer Straftat ein Urteil verhängt hat, wozu er berechtigt war. Damit steht es im Ermessen des Ausstellungsstaats, das Ersuchen des Vollstreckungsstaats und/oder der verurteilten Person zu beurteilen.“


35      Insbesondere ist der Vollstreckungsmitgliedstaat verpflichtet, dem Urteilsmitgliedstaat eine Reihe von Informationen, wie die in den Art. 12 und 21 des Rahmenbeschlusses 2008/909 genannten, zu liefern.


36      Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 48).


37      Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 48).


38      Vgl. insbesondere Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Vgl. insbesondere Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 49).


40      Vgl. Urteil vom 11. März 2020, SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Vgl. insbesondere Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut (C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie der Generalanwalt Pikamäe zu Art. 5 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache SF (Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat) (C‑314/18, EU:C:2019:427) ausgeführt hat, „[gilt d]er Zweck der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person nicht absolut und ist gegen andere Erfordernisse abzuwägen“ (Nr. 61).


42      Vgl. hierzu das in Fn. 26 der vorliegenden Schlussanträge zitierte Handbuch, in dem es unter Abschnitt 3.1 heißt, dass „[m]öglicherweise … der Ausstellungsstaat nicht bereit [ist], die verurteilte Person zu überstellen, wenn im Vollstreckungsstaat in Anbetracht der dort geltenden Bestimmungen über die vorzeitige und bedingte Entlassung eine kürzere Haftdauer zu erwarten ist. Auch den Interessen der Opfer kann bei der Entscheidung, wo der Täter seine Strafe am besten verbüßen sollte, Rechnung getragen werden. Ein Mitgliedstaat könnte zögern, ob er der Übermittlung einer verurteilten Person zustimmen soll, wenn dies die Rückkehr in das kriminelle Umfeld in seinem Heimatland nach sich ziehen würde, statt seine Resozialisierung zu begünstigen.“ Unter selbigem Abschnitt wird ausgeführt, dass „[d]ie volle Entscheidungsbefugnis des Ausstellungsstaats … auch durch Artikel 13 des Rahmenbeschlusses bestätigt [wird]; darin heißt es, dass der Ausstellungsstaat, solange im Vollstreckungsstaat noch nicht mit der Vollstreckung der Strafe begonnen wurde, die Bescheinigung unter Angabe von Gründen zurückziehen kann. Siehe dazu auch Artikel 17 Absatz 3.“ Ferner wird festgestellt, dass „[sich i]n den Mitgliedstaaten … zunehmend die Erkenntnis durch[setzt], dass im Zusammenhang mit der Vollstreckung von gegen verurteilte Straftäter verhängten Sanktionen und der grenzüberschreitenden Überstellung inhaftierter Straftäter auch die Opfer angehört werden sollten. Opfer kann es sowohl im Vollstreckungsstaat als auch im Ausstellungsstaat geben. Viele Mitgliedstaaten haben ein Verfahren eingeführt, bei dem die Opfer zu Überstellungen konsultiert werden können und ihre Meinung berücksichtigt wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass Opfer das Recht haben, sich einer Überstellung zu widersetzen.“


43      Vgl. Urteil vom 9. November 2023, Staatsanwaltschaft Aachen (C‑819/21, EU:C:2023:841, Rn. 39).


44      Ich weise insoweit darauf hin, dass die Rechtssache Fira (C‑215/24) insbesondere die Frage aufwirft, ob der Vollstreckungsmitgliedstaat, nachdem er die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verweigert hat, die Vollstreckung dieser Strafe aussetzen kann.


45      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a. (C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 141).


46      Vgl. hierzu Urteil vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 43).

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