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Document 62021CJ0700

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 6. Juni 2023.
    O. G.
    Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 6 – Ziel der Resozialisierung – Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben – Gleichbehandlung – Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
    Rechtssache C-700/21.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:444

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    6. Juni 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann – Art. 4 Nr. 6 – Ziel der Resozialisierung – Drittstaatsangehörige, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben – Gleichbehandlung – Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

    In der Rechtssache C‑700/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 18. November 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 22. November 2021, in einem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

    O. G.,

    Beteiligter:

    Presidente del Consiglio dei Ministri,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos und E. Regan, der Kammerpräsidentinnen L. S. Rossi und M. L. Arastey Sahún sowie der Richter J.‑C. Bonichot, S. Rodin, I. Jarukaitis, N. Jääskinen, M. Gavalec und Z. Csehi,

    Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

    Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Oktober 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Faraci, Avvocato dello Stato,

    der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

    der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Werni als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2022

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) sowie von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen O. G. zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellt wurde.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Rahmenbeschluss 2002/584

    3

    Der sechste Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

    „(6)

    Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.“

    4

    Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

    „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

    (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

    (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

    5

    Art. 4 („Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann“) dieses Rahmenbeschlusses sieht in Nr. 6 vor:

    „Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,

    6.

    wenn der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken“.

    Die Richtlinie 2003/109/EG

    6

    Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) lautet:

    „Um ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, darzustellen, sollten langfristig Aufenthaltsberechtigte nach Maßgabe der entsprechenden, in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen, in vielen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen wie die Bürger des Mitgliedstaats behandelt werden.“

    7

    Art. 12 dieser Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten können nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

    (2)   Die Verfügung nach Absatz 1 darf nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen.

    (3)   Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

    a)

    Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet,

    b)

    Alter der betreffenden Person,

    c)

    Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen,

    d)

    Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

    …“

    Rahmenbeschluss 2008/909/JI

    8

    Der neunte Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27) lautet:

    „Die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsstaat sollte die Resozialisierung der verurteilten Person begünstigen. Wenn sich die zuständige Behörde des Ausstellungsstaats vergewissert, ob die Vollstreckung der Sanktion durch den Vollstreckungsstaat der Verwirklichung des Ziels der Resozialisierung der verurteilten Person dient, sollte sie dabei Aspekten wie beispielsweise der Bindung der verurteilten Person an den Vollstreckungsstaat Rechnung tragen und berücksichtigen, ob sie diesen als den Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen zum Vollstreckungsstaat ansieht.“

    9

    Art. 3 Abs. 1 bis 3 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

    „(1)   Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt.

    (2)   Dieser Rahmenbeschluss gilt, wenn sich die verurteilte Person im Ausstellungsstaat oder im Vollstreckungsstaat aufhält.

    (3)   Dieser Rahmenbeschluss gilt nur für die Anerkennung von Urteilen und die Vollstreckung von Sanktionen im Sinne des Rahmenbeschlusses. …“

    10

    Art. 25 („Vollstreckung von Sanktionen aufgrund eines Europäischen Haftbefehls“) dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

    „Zwecks Vermeidung der Straflosigkeit der betreffenden Person gelten die Bestimmungen des vorliegenden Rahmenbeschlusses, unbeschadet des Rahmenbeschlusses [2002/584] und soweit sie mit diesem vereinbar sind, sinngemäß für die Vollstreckung von Sanktionen in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat sich zur Vollstreckung der Sanktion in Fällen gemäß Artikel 4 [Nummer] 6 jenes Rahmenbeschlusses verpflichtet, oder in denen er gemäß Artikel 5 [Nummer] 3 jenes Rahmenbeschlusses die Bedingung gestellt hat, dass die betreffende Person zur Verbüßung der Sanktion in den betreffenden Mitgliedstaat rücküberstellt wird.“

    Italienisches Recht

    11

    Die Legge n. 69 – Disposizioni per conformare il diritto interno alla decisione quadro 2002/584/GAI del Consiglio, del 13 giugno 2002, relativa al mandato d’arresto europeo e alle procedure di consegna tra Stati membri (Gesetz Nr. 69 mit Bestimmungen zur Anpassung des nationalen Rechts an den Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten) vom 22. April 2005 (GURI Nr. 98 vom 29. April 2005) in ihrer auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 69 von 2005) sieht in Art. 18bis („Fakultative Gründe für die Ablehnung der Übergabe“) vor, dass die Corte d’appello (Berufungsgericht, Italien) die von der ausländischen Behörde beantragte Übergabe u. a. dann ablehnen kann, „wenn der Europäische Haftbefehl zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt wurde, sofern die gesuchte Person italienischer Staatsangehöriger oder Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats der [Europäischen] Union ist und rechtmäßig und tatsächlich in Italien wohnt oder sich dort aufhält, sofern [die Corte d’appello (Berufungsgericht)] anordnet, dass die Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Sicherung in Italien nach nationalem Recht vollstreckt wird“.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    12

    Am 13. Februar 2012 stellte die Judecătoria Brașov (Gericht erster Instanz Brașov [Kronstadt], Rumänien) gegen O. G., einen moldauischen Staatsangehörigen, einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe aus. Er wurde in Rumänien wegen der Delikte der Steuerhinterziehung und der Veruntreuung von Einkommens- und Mehrwertsteuerbeträgen, die er in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung zwischen September 2003 und April 2004 begangen hatte, rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.

    13

    Am 7. Juli 2020 ordnete die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna, Italien) mit einem ersten Urteil die Übergabe von O. G. an die ausstellende Justizbehörde an. O. G. legte Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) ein, die dieses Urteil aufhob und die Rechtssache an die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) zurückverwies und sie aufforderte, zu prüfen, ob die Verfassungsmäßigkeit von Art. 18bis des Gesetzes Nr. 69 von 2005 fraglich sein könnte.

    14

    Dieses Gericht stellte fest, dass die Verteidigung von O. G. rechtlich hinreichend nachgewiesen habe, dass O. G. stabile familiäre und berufliche Wurzeln in Italien habe, und befasste die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien), das vorlegende Gericht in der vorliegenden Rechtssache, mit Fragen zur Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung.

    15

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) u. a. ausgeführt habe, dass mit dem in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden könne, sichergestellt werden solle, dass der Strafe eine echte Resozialisierungsfunktion zukomme. Die Resozialisierung setze die Aufrechterhaltung familiärer und sozialer Bindungen des Verurteilten voraus, damit er sich nach Verbüßung seiner Strafe wieder ordnungsgemäß in die Gesellschaft eingliedern könne. Art. 18bis des Gesetzes Nr. 69 von 2005 habe aber den Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 unzulässig eingeschränkt, da die Möglichkeit, die Übergabe im Fall eines Europäischen Haftbefehls zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung abzulehnen, auf italienische Staatsangehörige und Angehörige anderer Mitgliedstaaten der Union beschränkt sei und Drittstaatsangehörige ausschließe, und zwar auch dann, wenn Letztere nachwiesen, dass sie in Italien starke wirtschaftliche, berufliche oder emotionale Bindungen aufgebaut hätten. Indem Art. 18bis des Gesetzes Nr. 69 von 2005 die Übergabe von Drittstaatsangehörigen, die ihren ständigen Wohnsitz in Italien hätten, zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im Ausland vorschreibe, stehe er im Widerspruch zum erzieherischen Zweck der Strafe sowie zu dem in Art. 7 der Charta verankerten Recht des Betroffenen auf Familienleben.

    16

    Das vorlegende Gericht weist außerdem darauf hin, dass die Corte d’appello di Bologna (Berufungsgericht Bologna) es für ungerechtfertigt erachtet habe, dass, wie in der nationalen Regelung vorgesehen, ein Drittstaatsangehöriger, der seinen ständigen Wohnsitz in Italien habe, gegen den ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden sei und der eine solche Strafe in Italien nicht verbüßen könne, anders behandelt werde als ein Drittstaatsangehöriger, der ebenfalls seinen ständigen Wohnsitz in Italien habe, gegen den aber ein Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung ergangen sei und der die vom Ausstellungsstaat nach Abschluss des Verfahrens verhängte Strafe dagegen in Italien verbüßen könne.

    17

    Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Presidente del Consiglio dei ministri (Präsident des Ministerrats, Italien), vertreten durch die Avvocatura Generale dello Stato (Generalstaatsanwaltschaft, Italien), dem Ausgangsverfahren als Streithelfer beigetreten ist, um zu beantragen, dass die Fragen zur Verfassungsmäßigkeit von Art. 18bis des Gesetzes Nr. 69 von 2005 für unzulässig erklärt werden oder die Rechtmäßigkeit dieser Bestimmung bestätigt wird, und dabei u. a. geltend macht, dass das Ziel der Resozialisierung der betroffenen Person die Tragweite des allgemeinen Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen nicht einschränken könne, der verlange, dass die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls als Ausnahme von der allgemeinen Regel der Vollstreckung dieses Haftbefehls anzusehen sei, und dass diese Bestimmung nicht gegen verschiedene Bestimmungen des Primärrechts der Union verstoße, die die Unionsbürger vor Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit schützten. Im Übrigen sei die Wiedereingliederung der verurteilten Person nicht das spezifische Ziel des Rahmenbeschlusses 2002/584.

    18

    In der Vorlageentscheidung meint die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), dass vor der Prüfung der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit der italienischen Verfassung die Vereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht und insbesondere mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Licht von Art. 7 der Charta zu prüfen sei. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs sei bereits anerkannt worden, dass bestimmte Einschränkungen der Ablehnungsgründe durch die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gerechtfertigt seien, sofern sie zur Verstärkung des mit diesem Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichteten Systems der Übergabe beitrügen.

    19

    Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses sei jedoch im Einklang mit den in Art. 6 EUV anerkannten Grundrechten und Grundprinzipien des Unionsrechts auszulegen, deren Einhaltung eine Gültigkeitsvoraussetzung für jeden Unionsrechtsakt sei. Somit dürfe die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht zu einer Verletzung der Grundrechte der betroffenen Person führen.

    20

    Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) weist ferner darauf hin, dass es den Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verwehrt sei, die Anwendung des Unionsrechts in vollständig harmonisierten Bereichen wie dem durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten Europäischen Haftbefehl von der Einhaltung nationaler Schutzstandards für die Grundrechte abhängig zu machen, wenn dies den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen könnte. Allerdings bestünden Zweifel daran, ob ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen, der rechtmäßig und tatsächlich im italienischen Hoheitsgebiet wohne oder sich aufhalte und gegen den ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ergangen sei, von der Anwendung einer Bestimmung zur Umsetzung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung absolut und automatisch ausschließen könne, da sich ein solcher Drittstaatsangehöriger im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit berufen könne.

    21

    Schließlich weist sie darauf hin, dass das Interesse eines Drittstaatsangehörigen, der rechtmäßig in einem Mitgliedstaat wohne oder sich dort aufhalte, nicht aus seinem familiären und sozialen Umfeld gerissen zu werden, durch das Unionsrecht sowie durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt werde.

    22

    Unter diesen Umständen hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Steht Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, ausgelegt im Licht von Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses und Art. 7 der Charta, einer Regelung wie der italienischen entgegen, wonach es den vollstreckenden Justizbehörden – im Rahmen eines Verfahrens über einen Europäischen Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer Maßregel der Sicherung – absolut und automatisch verwehrt ist, die Übergabe von Drittstaatsangehörigen, die sich im italienischen Hoheitsgebiet aufhalten oder dort wohnen, unabhängig von den Verbindungen, die sie zu diesem Gebiet haben, abzulehnen?

    2.

    Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Anhand welcher Kriterien und Bedingungen sind diese Verbindungen als so erheblich anzusehen, dass die vollstreckende Justizbehörde die Übergabe ablehnen muss?

    Zum Antrag auf Durchführung eines beschleunigten Verfahrens

    23

    Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

    24

    Es räumt zwar ein, dass O. G., gegen den der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Haftbefehl ausgestellt worden sei, keiner freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen sei, macht aber geltend, dass erstens die vorliegende Rechtssache Auslegungsfragen aufwerfe, die zentrale Aspekte des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beträfen, und zweitens die erbetene Auslegung sowohl für die Behörden, die im Rahmen des Europäischen Haftbefehls zusammenzuarbeiten hätten, als auch für die Rechte der gesuchten Personen von allgemeiner Bedeutung sein könne.

    25

    Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung sieht vor, dass der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden kann, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

    26

    Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 20. Dezember 2021 nach Anhörung der Berichterstatterin und des Generalanwalts entschieden, den oben in Rn. 23 angeführten Antrag des vorlegenden Gerichts zurückzuweisen.

    27

    Nach ständiger Rechtsprechung hängt die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nämlich nicht von der Art des Rechtsstreits als solcher ab, sondern von den der betreffenden Rechtssache eigenen besonderen Umständen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über diese Fragen ergeben muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 27).

    28

    Der Umstand, dass die Rechtssache einen oder mehrere wichtige Aspekte des durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten Übergabemechanismus betrifft, stellt als solcher keinen Grund dar, aus dem sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergibt, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen. Dasselbe gilt für den Umstand, dass von den Vorlagefragen potenziell eine große Zahl von Personen betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 39).

    29

    Allerdings hat der Präsident des Gerichtshofs in Anbetracht der Natur und der Bedeutung der Vorlagefragen der vorliegenden Rechtssache gemäß Art. 53 Abs. 3 der Verfahrensordnung eine vorrangige Behandlung gewährt.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    30

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung dieser Bestimmung entgegensteht, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann.

    31

    Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf abzielt, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Krankheit als Ablehnungsgrund], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    32

    Im Regelungsbereich des Rahmenbeschlusses kommt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der, wie sich namentlich aus dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ergibt, den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen darstellt, in dessen Art. 1 Abs. 2 zum Ausdruck, der die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vollstrecken müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Krankheit als Ablehnungsgrund], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls demnach nur aus den Gründen verweigern, die im Rahmenbeschluss 2002/584, wie er vom Gerichtshof ausgelegt wird, genannt sind. Außerdem stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 18. April 2023, E. D. L. [Krankheit als Ablehnungsgrund], C‑699/21, EU:C:2023:295, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    34

    Der Rahmenbeschluss nennt die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3) oder abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a) (Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    35

    Zu den in Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgeführten fakultativen Gründen für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in ihr innerstaatliches Recht über ein Ermessen verfügen. Somit steht es ihnen frei, diese Gründe in ihr innerstaatliches Recht zu übernehmen. Ferner können sie sich dafür entscheiden, die Fälle zu begrenzen, in denen die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern kann, und damit die Übergabe gesuchter Personen im Einklang mit dem in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erleichtern (Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36

    Dies gilt insbesondere für Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, wonach die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern kann, wenn dieser zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

    37

    In Anbetracht des Ermessens, auf das in Rn. 35 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, können die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses die Fälle, in denen die Übergabe einer vom Anwendungsbereich von Art. 4 Nr. 6 erfassten Person abgelehnt werden kann, im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundregel begrenzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    38

    Das Ermessen, über das ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, verfügt, kann jedoch nicht unbegrenzt sein.

    39

    Erstens ist ein Mitgliedstaat, wenn er sich dafür entscheidet, diesen Grund für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls umzusetzen, nach Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses verpflichtet, die in Art. 6 EUV genannten Grundrechte und ‑prinzipien zu achten.

    40

    Zu diesen Grundprinzipien gehört der Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz, der durch Art. 20 der Charta garantiert wird. Diese Bestimmung ist von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta bei der Durchführung des Unionsrechts zu beachten, was bei der Umsetzung des in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, der Fall ist.

    41

    Im Gegensatz zu Art. 18 Abs. 1 AEUV, der im Fall einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen keine Anwendung findet, sieht Art. 20 der Charta jedoch keine Begrenzung seines Anwendungsbereichs vor und findet daher in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/17 [CETA EU-Kanada] vom 30. April 2019, EU:C:2019:341, Rn. 169 und 171 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    42

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die in Art. 20 der Charta niedergelegte Gleichheit vor dem Gesetz ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, nach dem vergleichbare Situationen nicht unterschiedlich und unterschiedliche Situationen nicht gleich behandelt werden dürfen, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, État belge [Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt], C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    43

    Das für die Feststellung einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes geltende Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen ist anhand aller die betreffenden Situationen kennzeichnenden Faktoren zu beurteilen, insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel des Rechtsakts, mit dem die Unterscheidung vorgenommen wird; dabei sind die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den der Rechtsakt fällt. Soweit sich die Situationen nicht miteinander vergleichen lassen, verstößt ihre unterschiedliche Behandlung nicht gegen die in Art. 20 der Charta garantierte Gleichheit vor dem Gesetz (Urteil vom 2. September 2021, État belge [Aufenthaltsrecht im Fall von häuslicher Gewalt], C‑930/19, EU:C:2021:657, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    44

    Insoweit ist zu prüfen, ob im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Situation eines Drittstaatsangehörigen, gegen den zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist und der sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, mit der eines Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats oder der eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der sich in diesem Mitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat und gegen den ein solcher Haftbefehl ergangen ist, vergleichbar ist.

    45

    Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die sich aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung ergebende Ungleichbehandlung von italienischen Staatsangehörigen und Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einerseits und Drittstaatsangehörigen andererseits im Rahmen der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 eingeführt wurde, da der italienische Gesetzgeber davon ausgegangen ist, dass diese Bestimmung nur Angehörige des Vollstreckungsmitgliedstaats und Unionsbürger betrifft.

    46

    Aus ihrem Wortlaut geht aber hervor, dass sie nicht danach unterscheidet, ob die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl vorliegt, Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, wenn sie kein Angehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats ist. Die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen Grundes, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, hängt dagegen von zwei Voraussetzungen ab, nämlich zum einen, dass sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat, und zum anderen, dass sich dieser Staat verpflichtet, die Strafe oder die Maßregel der Sicherung, für die der Europäische Haftbefehl ausgestellt worden ist, nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken.

    47

    Was die erste Voraussetzung anbelangt, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine gesuchte Person „ihren Wohnsitz“ im Vollstreckungsmitgliedstaat hat, wenn sie dort ihren tatsächlichen Wohnsitz begründet hat, und sich dort „aufhält“, wenn sie infolge eines beständigen Verweilens von gewisser Dauer in diesem Mitgliedstaat Bindungen zu diesem Staat von ähnlicher Intensität aufgebaut hat, wie sie sich aus einem Wohnsitz ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung). Daraus folgt, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist und der sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, im Hinblick auf diese erste Voraussetzung in einer Situation befindet, die mit der eines Angehörigen dieses Mitgliedstaats oder eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der sich in diesem Mitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat und gegen den ein solcher Haftbefehl ergangen ist, vergleichbar ist.

    48

    Was die zweite Voraussetzung betrifft, geht aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls voraussetzt, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat tatsächlich verpflichtet, die gegen die gesuchte Person verhängte Freiheitsstrafe zu vollstrecken (Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese zweite Voraussetzung enthält somit nichts, was eine Unterscheidung zwischen der Situation eines Drittstaatsangehörigen und der eines Unionsbürgers begründen könnte, wenn gegen beide ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung vorliegt, während sie sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben.

    49

    Stellt die vollstreckende Justizbehörde fest, dass beide in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt sind, muss sie noch beurteilen, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird. Bei dieser Beurteilung kann diese Behörde das mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte Ziel berücksichtigen, das nach gefestigter Rechtsprechung darin besteht, die Resozialisierungschancen der gesuchten Person nach Verbüßung der gegen sie verhängten Strafe zu erhöhen (Urteil vom 13. Dezember 2018, Sut, C‑514/17, EU:C:2018:1016, Rn. 33 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Unionsbürger und Drittstaatsangehörige, die die erste in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung erfüllen, können aber, vorbehaltlich der von der vollstreckenden Justizbehörde vorzunehmenden Prüfungen, vergleichbare Resozialisierungschancen aufweisen, wenn sie in dem Fall, dass gegen sie ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung vorliegt, ihre Strafe oder Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat verbüßen.

    50

    Unter diesen Umständen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 und dem mit dieser Bestimmung verfolgten Ziel, dass nicht vermutet werden kann, dass sich ein Drittstaatsangehöriger, gegen den ein solcher Europäischer Haftbefehl ergangen ist und der sich im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, zwangsläufig in einer anderen Situation befindet als ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats oder ein Angehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der sich in diesem Mitgliedstaat aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat und gegen den ein solcher Haftbefehl vorliegt. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich diese Personen im Hinblick auf die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls in einer vergleichbaren Situation befinden können, wenn sie im Vollstreckungsmitgliedstaat ein gewisses Maß an Integration aufweisen.

    51

    Daraus folgt, dass eine nationale Regelung, mit der Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses umgesetzt werden soll, nicht als mit dem in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz vereinbar angesehen werden kann, wenn sie ihre eigenen Staatsangehörigen und die anderen Unionsbürger anders behandelt als Drittstaatsangehörige, indem sie Letzteren den in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grund für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls absolut und automatisch verwehrt, auch wenn sich diese Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhalten oder dort ihren Wohnsitz haben, ohne dass das Maß an Integration der Drittstaatsangehörigen in die Gesellschaft dieses Mitgliedstaats berücksichtigt wird. Es kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, dass eine solche Ungleichbehandlung im Sinne der in Rn. 42 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung objektiv gerechtfertigt ist.

    52

    Hingegen spricht nichts dagegen, dass ein Mitgliedstaat bei der Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in innerstaatliches Recht bei Drittstaatsangehörigen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls davon abhängig macht, dass sich der Drittstaatsangehörige über einen ununterbrochenen Mindestzeitraum hinweg dort aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Wolzenburg, C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 74), sofern eine solche Bedingung nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um zu gewährleisten, dass die gesuchte Person ein gewisses Maß an Integration im Vollstreckungsmitgliedstaat aufweist.

    53

    Zweitens darf eine Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht dazu führen, dass der vollstreckenden Justizbehörde der Ermessensspielraum genommen wird, der erforderlich ist, damit sie entscheiden kann, ob im Hinblick auf das in Rn. 49 des vorliegenden Urteils genannte Ziel der Resozialisierung die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder nicht.

    54

    Insoweit hat der Gerichtshof, wie in den Rn. 46 bis 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bereits entschieden, dass die vollstreckende Justizbehörde zur Beantwortung der Frage, ob sie in einer konkreten Situation die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen kann, in einem ersten Schritt entscheiden muss, ob sich die gesuchte Person, wenn sie nicht Staatsangehöriger des Vollstreckungsmitgliedstaats ist, im Sinne von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in seiner in nationales Recht umgesetzten Fassung in diesem aufhält oder dort ihren Wohnsitz hat und somit von dessen Anwendungsbereich erfasst ist. Nur, wenn die vollstreckende Justizbehörde feststellt, dass die betreffende Person in diesen Anwendungsbereich fällt, muss sie in einem zweiten Schritt beurteilen können, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe oder Maßregel der Sicherung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juli 2008, Kozłowski, C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 44).

    55

    Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Art. 18bis des Gesetzes Nr. 69 von 2005, mit dem Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in italienisches Recht umgesetzt werden soll, die Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf italienische Staatsangehörige und Angehörige anderer Mitgliedstaaten beschränkt. Drittstaatsangehörige sind somit absolut und automatisch von diesem Grund ausgeschlossen, ohne dass der vollstreckenden Justizbehörde insoweit ein Ermessensspielraum eingeräumt wäre, obwohl Art. 4 Nr. 6 den Anwendungsbereich dieses Grundes nicht allein auf Unionsbürger beschränkt.

    56

    Wenn es sich bei der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ergangen ist, um einen Drittstaatsangehörigen handelt, nimmt eine solche nationale Regelung der vollstreckenden Justizbehörde somit die Befugnis, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls zu beurteilen, ob die Bindungen dieser Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat ausreichen, um das mit dieser Bestimmung verfolgte Ziel der Resozialisierung leichter zu erreichen, wenn die betreffende Person ihre Strafe in diesem Mitgliedstaat verbüßt. Dadurch wird die Erreichung dieses Ziels beeinträchtigt.

    57

    Daraus folgt, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auch aus diesem Grund einer solchen nationalen Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung entgegensteht.

    58

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit dem in Art. 20 der Charta verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses entgegensteht, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann.

    Zur zweiten Frage

    59

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde für die Beurteilung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, abzulehnen ist, eine Beurteilung der Faktoren vornehmen muss, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist, und, wenn ja, um welche Faktoren es sich dabei handelt.

    60

    Wie in Rn. 49 des vorliegenden Urteils ausgeführt, muss die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie feststellt, dass die beiden in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, noch prüfen, ob ein berechtigtes Interesse daran besteht, dass die im Ausstellungsmitgliedstaat verhängte Strafe oder Maßregel der Sicherung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats vollstreckt wird.

    61

    Es ist daher Sache der vollstreckenden Justizbehörde, in einer Gesamtschau alle konkreten die Situation der gesuchten Person kennzeichnenden Faktoren zu würdigen, die darauf hinweisen können, ob zwischen dieser Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die die Feststellung ermöglichen, dass diese Person hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verwirklichung des mit Art. 4 Nr. 6 verfolgten Ziels der Resozialisierung beitragen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 43).

    62

    In diesem Zusammenhang ist, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, namentlich der Rahmenbeschluss 2008/909 zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191). Insbesondere enthält der neunte Erwägungsgrund dieses Rahmenbeschlusses eine beispielhafte Liste der Faktoren, die es einer Justizbehörde ermöglichen können, sich zu vergewissern, dass die Vollstreckung der Sanktion im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Verwirklichung des Ziels der Erleichterung der Resozialisierung der verurteilten Person beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören im Wesentlichen die Bindung der Person an den Vollstreckungsmitgliedstaat sowie der Umstand, dass dieser Mitgliedstaat insbesondere unter Berücksichtigung ihrer familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen zu diesem Staat den Mittelpunkt ihres Familienlebens und ihrer Interessen bildet.

    63

    Da das mit Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verfolgte Ziel mit dem in diesem Erwägungsgrund genannten Ziel, das mit Art. 25 des Rahmenbeschlusses 2008/909 verfolgt wird, der sich auf den in diesem Art. 4 Nr. 6 vorgesehenen fakultativen Grund für die Nichtvollstreckung bezieht, übereinstimmt, sind diese Faktoren auch im Rahmen der Gesamtschau relevant, die die vollstreckende Justizbehörde bei der Anwendung dieses Grundes vorzunehmen hat.

    64

    Insbesondere wenn die gesuchte Person den Mittelpunkt ihres Familienlebens und ihrer Interessen im Vollstreckungsmitgliedstaat begründet hat, ist zu berücksichtigen, dass die Resozialisierung dieser Person nach Verbüßung ihrer Strafe dadurch begünstigt wird, dass sie zu ihrer Familie und ihren Angehörigen regelmäßige und häufige Kontakte unterhalten kann.

    65

    Handelt es sich bei der gesuchten Person um einen Drittstaatsangehörigen, so sollten auch die Art, die Dauer und die Bedingungen des Aufenthalts der gesuchten Person im Vollstreckungsmitgliedstaat berücksichtigt werden.

    66

    Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass diese Faktoren bereits im Stadium der Prüfung der ersten in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Voraussetzung, die u. a. in Rn. 47 des vorliegenden Urteils erwähnt wird, berücksichtigt werden können. Die vollstreckende Justizbehörde muss nämlich für die Feststellung, ob in einer konkreten Situation zwischen der gesuchten Person und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die den Schluss zulassen, dass diese Person sich in diesem Staat im Sinne von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses aufhält oder dort wohnt, mehrere objektive Faktoren, die die Situation dieser Person kennzeichnen und zu denen insbesondere die Dauer, die Art und die Bedingungen des Aufenthalts der gesuchten Person in diesem Staat sowie ihre familiären und wirtschaftlichen Bindungen gehören, in einer Gesamtschau würdigen (Urteil vom 5. September 2012, Lopes Da Silva Jorge, C‑42/11, EU:C:2012:517, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    67

    Diese Faktoren gehören auch zu denen, die ein berechtigtes Interesse an der Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat verhängten Strafe oder Maßregel der Sicherung im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats belegen können. Daraus folgt, dass die vollstreckende Justizbehörde in diesem späteren Stadium der Prüfung der in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Ausnahme von der Übergabe diese Faktoren erneut berücksichtigen kann, insbesondere, wenn sich der Aufenthalt der betreffenden Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aus der in der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen ergibt. Eine solche Rechtsstellung stellt nämlich, wie es im zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt, ein echtes Instrument zur Integration von langfristig Aufenthaltsberechtigten in die Gesellschaft, in der sie leben, dar und ist daher ein starkes Indiz dafür, dass die Bindungen, die die gesuchte Person zum Vollstreckungsmitgliedstaat hergestellt hat, ausreichen, um die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu rechtfertigen.

    68

    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde für die Beurteilung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, abzulehnen ist, in einer Gesamtschau alle konkreten Faktoren zu würdigen hat, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Erhöhung seiner Resozialisierungschancen nach Vollstreckung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

    Kosten

    69

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist in Verbindung mit dem in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz

    wie folgt auszulegen:

    Diese Bestimmung steht einer Regelung eines Mitgliedstaats zur Umsetzung von Art. 4 Nr. 6 dieses Rahmenbeschlusses entgegen, die jeden Drittstaatsangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, absolut und automatisch von der Anwendung des in dieser Bestimmung vorgesehenen fakultativen Grundes für die Nichtvollstreckung des Europäischen Haftbefehls ausschließt, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde die Bindungen des Drittstaatsangehörigen zu diesem Mitgliedstaat beurteilen kann.

     

    2.

    Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584

    ist wie folgt auszulegen:

    Die vollstreckende Justizbehörde hat für die Beurteilung, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der gegen einen Drittstaatsangehörigen ausgestellt wurde, der sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats aufhält oder dort seinen Wohnsitz hat, abzulehnen ist, in einer Gesamtschau alle konkreten Faktoren zu würdigen, die darauf hinweisen können, dass zwischen ihm und dem Vollstreckungsmitgliedstaat Bindungen bestehen, die belegen, dass er hinreichend in diesen Staat integriert ist und dass daher die Vollstreckung der im Ausstellungsmitgliedstaat gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung im Vollstreckungsmitgliedstaat zur Erhöhung seiner Resozialisierungschancen nach Vollstreckung der Strafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung beitragen wird. Zu diesen Faktoren gehören die familiären, sprachlichen, kulturellen, sozialen oder wirtschaftlichen Bindungen des Drittstaatsangehörigen zum Vollstreckungsmitgliedstaat sowie Art, Dauer und Bedingungen seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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