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Document 62021CJ0568

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 21. September 2023.
    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen E. und S.
    Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat – Art. 2 Buchst. l – Begriff ‚Aufenthaltstitel‘ – Von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen.
    Rechtssache C-568/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:683

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    21. September 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin-System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der dem Antragsteller einen Aufenthaltstitel ausgestellt hat – Art. 2 Buchst. l – Begriff ‚Aufenthaltstitel‘ – Von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellter Diplomatenausweis – Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen“

    In der Rechtssache C‑568/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 25. August 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. September 2021, in dem Verfahren

    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

    gegen

    E.,

    S.

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz und A. Kumin (Berichterstatter) sowie der Richterin I. Ziemele,

    Generalanwalt: A. M. Collins,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von E. und S., vertreten durch F. Wijngaarden, Advocaat,

    der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,

    der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und V. Strasser als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Grønfeldt und W. Wils, dann durch W. Wils als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. März 2023

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) und E. und S., die im eigenen Namen und im Namen ihrer minderjährigen Kinder handeln, wegen der Ablehnung ihrer Anträge auf internationalen Schutz.

    Rechtlicher Rahmen

    Völkerrecht

    3

    Art. 2 des am 18. April 1961 in Wien geschlossenen und am 24. April 1964 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (United Nations Treaty Series, Bd. 500, S. 95, im Folgenden: Wiener Übereinkommen) lautet:

    „Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Staaten und die Einrichtung ständiger diplomatischer Missionen erfolgen in gegenseitigem Einvernehmen.“

    4

    Art. 4 dieses Übereinkommens bestimmt:

    „(1)   Der Entsendestaat hat sich zu vergewissern, dass die Person, die er als Missionschef bei dem Empfangsstaat zu beglaubigen beabsichtigt, dessen Agrément erhalten hat.

    (2)   Der Empfangsstaat ist nicht verpflichtet, dem Entsendestaat die Gründe für eine Verweigerung des Agréments mitzuteilen.“

    5

    Art. 5 Abs. 1 des Übereinkommens lautet:

    „Der Entsendestaat kann nach einer Notifikation an die beteiligten Empfangsstaaten die Beglaubigungen eines Missionschefs oder gegebenenfalls die Bestellung eines Mitglieds des diplomatischen Personals für mehrere Staaten vornehmen, es sei denn, dass einer der Empfangsstaaten ausdrücklich Einspruch erhebt.“

    6

    Art. 9 des Übereinkommens lautet:

    „(1)   Der Empfangsstaat kann dem Entsendestaat jederzeit ohne Angabe von Gründen notifizieren, dass der Missionschef oder ein Mitglied des diplomatischen Personals der Mission persona non grata oder dass ein anderes Mitglied des Personals der Mission ihm nicht genehm ist. In diesen Fällen hat der Entsendestaat die betreffende Person entweder abzuberufen oder ihre Tätigkeit bei der Mission zu beenden. Eine Person kann als non grata oder nicht genehm erklärt werden, bevor sie im Hoheitsgebiet des Empfangsstaats eintrifft.

    (2)   Weigert sich der Entsendestaat oder unterlässt er es innerhalb einer angemessenen Frist, seinen Verpflichtungen auf Grund des Absatzes 1 nachzukommen, so kann der Empfangsstaat es ablehnen, die betreffende Person als Mitglied der Mission anzuerkennen.“

    7

    Art. 10 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens sieht vor:

    „Dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten oder einem anderen in gegenseitigem Einvernehmen bestimmten Ministerium des Empfangsstaats ist folgendes zu notifizieren:

    a)

    die Ernennung von Mitgliedern der Mission, ihre Ankunft und ihre endgültige Abreise oder die Beendigung ihrer dienstlichen Tätigkeit bei der Mission;

    b)

    die Ankunft und die endgültige Abreise eines Familienangehörigen eines Mitglieds der Mission und gegebenenfalls die Tatsache, dass eine Person Familienangehöriger eines Mitglieds der Mission wird oder diese Eigenschaft verliert;

    …“

    Unionsrecht

    8

    Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

    „(4)

    Entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

    (5)

    Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“

    9

    Art. 2 („Definitionen“) dieser Verordnung bestimmt:

    „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

    c)

    ‚Antragsteller‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, über den noch nicht endgültig entschieden wurde;

    l)

    ‚Aufenthaltstitel‘ jede von den Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Erlaubnis, mit der der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gestattet wird, einschließlich der Dokumente, mit denen die Genehmigung des Aufenthalts im Hoheitsgebiet im Rahmen einer Regelung des vorübergehenden Schutzes oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die eine Ausweisung verhindernden Umstände nicht mehr gegeben sind, nachgewiesen werden kann; ausgenommen sind Visa und Aufenthaltstitel, die während der zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats entsprechend dieser Verordnung erforderlichen Frist oder während der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz oder eines Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltstitels erteilt wurden;

    …“

    10

    Die Art. 7 bis 15 bilden Kapitel III („Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats“) dieser Verordnung. Art. 7 („Rangfolge der Kriterien“) Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

    „Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.“

    11

    Art. 12 („Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa“) Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

    „Besitzt der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel, so ist der Mitgliedstaat, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“

    12

    In Art. 21 („Aufnahmegesuch“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung heißt es:

    „Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.“

    13

    Art. 29 („Modalitäten und Fristen“) Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung bestimmt:

    „Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    14

    E. und S. sowie ihre minderjährigen Kinder sind Drittstaatsangehörige. Der Vater war Mitglied der diplomatischen Mission seines Landes im Mitgliedstaat X und wohnte dort mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern. Während dieses Aufenthalts stellte ihnen das Außenministerium dieses Mitgliedstaats Diplomatenausweise aus.

    15

    Nachdem sie den Mitgliedstaat X verlassen hatten, beantragten E. und S. in den Niederlanden internationalen Schutz.

    16

    Am 31. Juli 2019 stellte der Staatssekretär fest, dass der Mitgliedstaat X gemäß Art. 12 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung dieser Anträge zuständig sei, da es sich bei den von den Behörden dieses Mitgliedstaats ausgestellten Diplomatenausweisen um Aufenthaltstitel handele. Der Mitgliedstaat X gab den Aufnahmegesuchen am 25. September 2019 statt.

    17

    Mit Bescheiden vom 29. Januar 2020 lehnte der Staatssekretär die Prüfung der von E. und S. gestellten Anträge auf internationalen Schutz ab, weil der Mitgliedstaat X für deren Prüfung zuständig sei.

    18

    Gegen diese Bescheide klagten E. und S. bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande). Zur Begründung ihrer Klage machten sie geltend, dass der Mitgliedstaat X für die Prüfung ihrer Anträge nicht zuständig sei, da die Behörden dieses Mitgliedstaats ihnen nie einen Aufenthaltstitel ausgestellt hätten. Sie hätten aufgrund ihres Diplomatenstatus ein Aufenthaltsrecht gehabt, das sich unmittelbar aus dem Wiener Übereinkommen ergeben habe.

    19

    Mit Urteil vom 20. März 2020 gab die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag) der Klage statt und stellte fest, dass der Staatsekretär zu Unrecht den Mitgliedstaat X für zuständig halte, die Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen. Die von den Behörden dieses Mitgliedstaats ausgestellten Diplomatenausweise seien nicht als Aufenthaltstitel anzusehen, da E. und S. bereits aufgrund des Wiener Übereinkommens ein Aufenthaltsrecht in diesem Mitgliedstaat gehabt hätten.

    20

    Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein und machte geltend, dass die vom Mitgliedstaat X für E. und S. ausgestellten Diplomatenausweise unter den Begriff „Aufenthaltstitel“ im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung fielen.

    21

    Der Raad van State (Staatsrat) weist darauf hin, dass nicht bestritten werde, dass die Behörden des Mitgliedstaats X zugunsten von E. und S. Diplomatenausweise ausgestellt hätten und dass diese Ausweise zum Zeitpunkt der Beantragung von internationalem Schutz in den Niederlanden noch gültig gewesen seien. Außerdem habe der Mitgliedstaat X diese Diplomatenausweise gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellt, wobei das Königreich der Niederlande und der Mitgliedstaat X Vertragsstaaten dieses Übereinkommens seien.

    22

    Zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung der von E. und S. gestellten Anträge auf internationalen Schutz sei zu klären, ob ein von einem Mitgliedstaat gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellter Diplomatenausweis ein Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung sei.

    23

    Die Beantwortung dieser Frage lasse sich jedoch weder unmittelbar aus dieser Bestimmung noch aus der Systematik dieser Verordnung, noch aus den einschlägigen Regeln des Völkerrechts herleiten. Auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu dieser Verordnung schaffe insoweit keine Klarheit, und in den Mitgliedstaaten bestünden in diesem Punkt offenbar unterschiedliche Praktiken.

    24

    Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen, dass ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Wiener Übereinkommens ausgestellter Diplomatenausweis ein Aufenthaltstitel im Sinne dieser Bestimmung ist?

    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    25

    Die österreichische Regierung zweifelt an der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, da die erbetene Auslegung der Dublin‑III-Verordnung für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht wirklich zweckdienlich sei. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz sei im vorliegenden Fall nämlich auf das Königreich der Niederlande übergegangen, weil der Mitgliedstaat X den Gesuchen um Aufnahme der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens zwar stattgegeben habe, eine Überstellung der Antragsteller in diesen Mitgliedstaat aber nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Frist von sechs Monaten erfolgt sei.

    26

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs allein das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen hat, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 12. Januar 2023, DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    27

    Daraus folgt, dass für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit spricht. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 12. Januar 2023, DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    28

    Weiter ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung die Überstellung des Antragstellers aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten erfolgt, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung aufschiebende Wirkung hat.

    29

    Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Staatssekretär im Rahmen seines beim vorlegenden Gericht eingelegten Rechtsmittels gegen das erstinstanzliche Urteil in Anbetracht des bevorstehenden Ablaufs der Überstellungsfrist den Erlass vorläufiger Maßnahmen beantragt hat und dass diesem Antrag stattgegeben wurde.

    30

    Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vom Staatssekretär eingelegte Rechtsmittel aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III-Verordnung hat, so dass die in dieser Bestimmung genannte Frist von sechs Monaten erst anläuft, wenn das vorlegende Gericht endgültig über dieses Rechtsmittel entschieden hat.

    31

    Folglich ist nicht offensichtlich, dass das vorlegende Gericht die von ihm erbetene Auslegung des Unionsrechts für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht benötigt. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

    Zur Vorlagefrage

    32

    Im Hinblick auf die Beantwortung der Vorlagefrage ist zunächst darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele zu berücksichtigen sind, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 22. Juni 2023, Pankki S, C‑579/21, EU:C:2023:501, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Was den Wortlaut von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung angeht, so wird der Begriff „Aufenthaltstitel“ definiert als „jede von den Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Erlaubnis, mit der der Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats gestattet wird“. Nach derselben Bestimmung umfasst dieser Begriff zwar die „Dokumente, mit denen die Genehmigung des Aufenthalts im Hoheitsgebiet im Rahmen einer Regelung des vorübergehenden Schutzes oder bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die eine Ausweisung verhindernden Umstände nicht mehr gegeben sind, nachgewiesen werden kann“, hiervon ausgenommen sind aber „Visa und Aufenthaltstitel, die während der zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats entsprechend dieser Verordnung erforderlichen Frist oder während der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz oder eines Antrags auf Gewährung eines Aufenthaltstitels erteilt wurden“.

    34

    Die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens und die österreichische Regierung schließen aus dem vom Unionsgesetzgeber verwendeten Wortlaut im Wesentlichen, dass der Begriff „Aufenthaltstitel“ nur die von einer nationalen Verwaltung förmlich erlassenen Rechtsakte umfasse, mit denen einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen – konstitutiv – die Erlaubnis erteilt werde, sich im betreffenden Mitgliedstaat aufzuhalten. Umgekehrt könnten Diplomatenausweise wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, auch wenn sie von einer nationalen Verwaltung förmlich ausgestellte Dokumente seien, grundsätzlich nur die ihren Inhabern gemäß dem Wiener Übereinkommen zustehenden Rechte und Privilegien widerspiegeln. Somit hätten sie rein deklaratorischen Charakter und fielen nicht unter den Begriff „Aufenthaltstitel“ im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung.

    35

    Insoweit ist zu betonen, dass der Begriff „Aufenthaltstitel“ im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung, wie sich aus der in dieser Bestimmung verwendeten Formulierung „jede … Erlaubnis“ ergibt, weit gefasst ist. Insbesondere nimmt die in dieser Bestimmung enthaltene Definition jenes Begriffs, wie auch der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 46 seiner Schlussanträge ausführt, weder auf einen konstitutiven oder deklaratorischen Charakter der Erlaubnis Bezug noch schließt sie gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellte Diplomatenausweise ausdrücklich aus.

    36

    Was den Zusammenhang angeht, in dem diese Bestimmung steht, so ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Aufenthaltstitel“ entscheidend für die Anwendung von Art. 12 der Dublin‑III-Verordnung ist, der in Abs. 1 vorsieht, dass für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz, wenn der Antragsteller einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt, der Mitgliedstaat zuständig ist, der den Aufenthaltstitel ausgestellt hat.

    37

    Art. 12 gehört zu Kapitel III der Dublin‑III-Verordnung, das die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats betrifft. Nach der Rechtsprechung soll die Anwendung der verschiedenen in den Art. 12 bis 14 dieser Verordnung aufgestellten Kriterien es im Allgemeinen ermöglichen, dem Mitgliedstaat, der die Einreise eines Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder dessen Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet zu verantworten hat, die Zuständigkeit für die Prüfung eines von diesem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuzuweisen, und zwar unter Berücksichtigung der Rolle des Mitgliedstaats dabei, dass sich der Drittstaatsangehörige im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Jafari, C‑646/16, EU:C:2017:586, Rn. 87 und 91).

    38

    Im vorliegenden Fall machen die Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens geltend, dass die Rolle, die der Mitgliedstaat X dabei spiele, dass sie sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befänden, vernachlässigbar sei, da es einem Empfangsstaat gemäß dem Wiener Übereinkommen von bestimmten Ausnahmefällen abgesehen nicht freistehe, den vom Entsendestaat ernannten Mitgliedern einer diplomatischen Mission die Einreise und den Aufenthalt in sein Hoheitsgebiet zu verweigern.

    39

    Insoweit trifft es zwar zu, dass gemäß Art. 2 des Wiener Übereinkommens die Entsendung ständiger diplomatischer Missionen im gegenseitigen Einvernehmen erfolgt, doch werden dem Empfangsstaat in Bezug auf die Zulassung der Einreise von Personen als Mitglieder des diplomatischen Personals einer Mission bestimmte Vorrechte zuerkannt.

    40

    Insbesondere kann nach Art. 9 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens der Empfangsstaat dem Entsendestaat jederzeit ohne Angabe von Gründen notifizieren, dass der Missionschef oder ein Mitglied des diplomatischen Personals der Mission persona non grata oder dass ein anderes Mitglied des Personals der Mission ihm nicht genehm ist, wobei eine Person als non grata oder nicht genehm erklärt werden kann, noch bevor sie im Hoheitsgebiet des Empfangsstaats eintrifft. Nach Art. 9 Abs. 2 kann der Empfangsstaat ferner, wenn der Entsendestaat sich weigert oder es innerhalb einer angemessenen Frist unterlässt, seinen Verpflichtungen auf Grund des Abs. 1 nachzukommen, es ablehnen, die betreffende Person als Mitglied der Mission anzuerkennen.

    41

    Weiter geht aus Art. 4 Abs. 1 und 2 des Wiener Übereinkommens hervor, dass der Entsendestaat sich zu vergewissern hat, dass die Person, die er als Missionschef bei dem Empfangsstaat zu beglaubigen beabsichtigt, dessen Agrément erhalten hat, wobei der Empfangsstaat nicht verpflichtet ist, dem Entsendestaat die Gründe für eine Verweigerung des Agréments mitzuteilen.

    42

    Außerdem kann der Entsendestaat zwar gemäß Art. 5 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens nach einer Notifikation an die beteiligten Empfangsstaaten die Beglaubigungen eines Missionschefs oder gegebenenfalls die Bestellung eines Mitglieds des diplomatischen Personals für mehrere Staaten vornehmen, doch ein Empfangsstaat darf hiergegen ausdrücklich Einspruch erheben.

    43

    Schließlich sieht Art. 10 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens u. a. vor, dass die Ernennung von Mitgliedern der Mission, ihre Ankunft und ihre endgültige Abreise oder die Beendigung ihrer dienstlichen Tätigkeit bei der Mission sowie die Ankunft und die endgültige Abreise eines Familienangehörigen eines Mitglieds der Mission dem zuständigen Ministerium des Empfangsstaats zu notifizieren sind.

    44

    Unter diesen Umständen bringt die Ausstellung eines Diplomatenausweises an eine Person durch einen Mitgliedstaat zum Ausdruck, dass er den Aufenthalt dieser Person in seinem Hoheitsgebiet als Mitglied des diplomatischen Personals einer Mission akzeptiert, und zeigt so die Rolle, die der Mitgliedstaat dabei spielt, dass sich die betreffende Person im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten befindet.

    45

    Die Auslegung des Begriffs „Aufenthaltstitel“ in dem Sinne, dass er einen gemäß dem Wiener Übereinkommen ausgestellten Diplomatenausweis umfasst, entspricht auch der allgemeinen Systematik der in den Art. 12 bis 14 der Dublin‑III-Verordnung aufgestellten Kriterien, da gemäß Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung vorrangig Art. 12 anzuwenden ist.

    46

    Was den mit der Dublin‑III-Verordnung verfolgten Zweck angeht, betonen deren Erwägungsgründe 4 und 5 die Bedeutung einer klaren und praktikablen Formel für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basiert und eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglicht.

    47

    Die Berücksichtigung der Ausstellung eines Diplomatenausweises bei der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats trägt zum Ziel der raschen Bearbeitung eines solchen Antrags bei.

    48

    Wie der Generalanwalt sinngemäß in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausführt, würde überdies der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannte Zweck der Dublin‑III-Verordnung in Frage gestellt, wenn Drittstaatsangehörige, die Vorrechte und Immunitäten gemäß dem Wiener Übereinkommen genießen, den Mitgliedstaat wählen könnten, in dem sie einen Antrag auf internationalen Schutz stellen.

    49

    Jedenfalls betrifft die Tatsache, dass ein Diplomatenausweis als „Aufenthaltstitel“ im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung eingestuft wird, lediglich die Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats und wirkt sich nicht auf das diplomatische Aufenthaltsrecht aus. Außerdem greift eine solche Einstufung der späteren Entscheidung über die etwaige Gewährung internationalen Schutzes durch diesen Mitgliedstaat nicht vor.

    50

    Schließlich ist, wie der Generalanwalt in Nr. 51 seiner Schlussanträge ausführt, die Bezugnahme der Rechtsmittelgegner des Ausgangsverfahrens auf den Ausschluss von Personen mit einem Rechtsstatus nach dem Wiener Übereinkommen vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) irrelevant.

    51

    Zum einen sieht nämlich die Dublin‑III-Verordnung weder einen solchen Ausschluss von ihrem Anwendungsbereich vor, noch enthält sie abweichende Regeln zu den Wirkungen, die der Ausstellung eines Diplomatenausweises bei der Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats zukommen.

    52

    Zum anderen betrifft die Richtlinie 2003/109 zwar nicht die Personen, die keinen Daueraufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anstreben, doch hindert dieser Umstand diese Staaten nicht daran, diesen Personen Aufenthaltstitel im Sinne von Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung zu erteilen.

    53

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. l der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen ist, dass ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des Wiener Übereinkommens ausgestellter Diplomatenausweis ein „Aufenthaltstitel“ im Sinne dieser Bestimmung ist.

    Kosten

    54

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 2 Buchst. l der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

     

    ist wie folgt auszulegen:

     

    Ein von einem Mitgliedstaat auf der Grundlage des am 18. April 1961 in Wien geschlossenen und am 24. April 1964 in Kraft getretenen Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen ausgestellter Diplomatenausweis ist ein „Aufenthaltstitel“ im Sinne dieser Bestimmung.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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