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Document 62021CJ0554

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 11. Juli 2024.
Financijska agencija und UDRUGA KHL MEDVEŠČAK ZAGREB gegen HANN-INVEST d.o.o. und MINERAL-SEKULINE d.o.o.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Richterliche Unabhängigkeit – Zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Faires Verfahren – Stelle für die Registrierung von Gerichtsentscheidungen – Nationale Regelung, nach der bei den zweitinstanzlichen Gerichten ein Evidenzrichter vorgesehen ist, der in der Praxis über die Befugnis verfügt, die Verkündung eines Urteils auszusetzen, den Spruchkörpern Weisungen zu erteilen und die Einberufung einer Abteilungssitzung zu beantragen – Nationale Regelung, nach der in den Sitzungen einer Abteilung oder aller Richter eines Gerichts ‚Rechtsauffassungen‘ festgelegt werden können, die auch für Rechtssachen, über die bereits beraten wurde, verbindlich sind.
Verbundene Rechtssachen C-554/21, C-622/21 und C-727/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:594

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

11. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen – Richterliche Unabhängigkeit – Zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Faires Verfahren – Stelle für die Registrierung von Gerichtsentscheidungen – Nationale Regelung, nach der bei den zweitinstanzlichen Gerichten ein Evidenzrichter vorgesehen ist, der in der Praxis über die Befugnis verfügt, die Verkündung eines Urteils auszusetzen, den Spruchkörpern Weisungen zu erteilen und die Einberufung einer Abteilungssitzung zu beantragen – Nationale Regelung, nach der in den Sitzungen einer Abteilung oder aller Richter eines Gerichts ‚Rechtsauffassungen‘ festgelegt werden können, die auch für Rechtssachen, über die bereits beraten wurde, verbindlich sind“

In den verbundenen Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21

betreffend drei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Visoki trgovački sud (Hohes Handelsgericht, Kroatien) mit Entscheidungen vom 3. August 2021 (C‑554/21), 21. September 2021 (C‑622/21) und 10. November 2021 (C‑727/21), beim Gerichtshof eingegangen am 8. September 2021, 7. Oktober 2021 und 30. November 2021, in den Verfahren

Financijska agencija

gegen

HANNINVEST d.o.o. (Rechtssache C‑554/21),

MINERAL-SEKULINE d.o.o. (Rechtssache C‑622/21)

und

UDRUGA KHL MEDVEŠČAK ZAGREB (C‑727/21)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, F. Biltgen und N. Piçarra, der Richter S. Rodin, I. Jarukaitis (Berichterstatter), N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele, der Richter J. Passer und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: M. Longar, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juni 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Financijska agencija, vertreten durch die Sachverständige S. Pejaković,

–        der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, M. Mataija und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Oktober 2023

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Sie ergehen im Rahmen von drei Rechtsstreitigkeiten, und zwar zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Financijska agencija (Finanzagentur, Kroatien) auf der einen und der HANN‑INVEST d.o.o. (C‑554/21) und der MINERAL-SEKULINE d.o.o. (C‑622/21) auf der anderen Seite, in denen es um die Erstattung von Kosten geht, die der Finanzagentur im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in einem Insolvenzverfahren entstanden sind, und einem Rechtsstreit, in dem es um einen Antrag der UDRUGA KHL MEDVEŠČAK ZAGREB auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens geht (C‑727/21).

 Rechtlicher Rahmen

 Gerichtsorganisationsgesetz

3        Art. 14 des Zakon o sudovima (Gerichtsorganisationsgesetz, Narodne novine, Nrn. 28/13, 33/15, 82/15, 82/16, 67/18, 126/19 und 130/20) sieht vor:

„1.      In Kroatien wird die rechtsprechende Gewalt von ordentlichen Gerichten, von Fachgerichten und vom Vrhovni sud [(Oberster Gerichtshof, Kroatien)] ausgeübt.

3.      Fachgerichte sind die Trgovački sudovi [(Handelsgerichte, Kroatien)], die Upravni sudovi [(Verwaltungsgerichte, Kroatien)], das Visoki trgovački sud [(Hohes Handelsgericht, Kroatien)], der Visoki upravni sud [(Hohes Verwaltungsgericht, Kroatien)], der Visoki prekršajni sud [(Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen, Kroatien)] und der Visoki kazneni sud [(Hohes Strafgericht, Kroatien)].

4.      Das höchste Gericht Kroatiens ist der Vrhovni sud [(Oberster Gerichtshof)].

…“

4        Art. 24 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der Visoki trgovački sud [(Hohes Handelsgericht)]

1.      entscheidet über Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Trgovački sudovi [(Handelsgerichte)],

2.      entscheidet bei Konflikten zwischen den Trgovački sudovi [(Handelsgerichte)] über ihre örtliche Zuständigkeit und über die Übertragung der Zuständigkeit zwischen diesen Gerichten,

…“

5        Art. 38 des Gesetzes bestimmt:

„1.      In den Sitzungen einer Abteilung werden Fragen erörtert, die für die Arbeit der Abteilung von Interesse sind, d. h. insbesondere die Organisation der internen Tätigkeit, umstrittene Rechtsfragen, die Vereinheitlichung der Rechtsprechung und Fragen, die für die Anwendung der Vorschriften in den einzelnen Rechtsgebieten relevant sind, sowie die Begleitung der Arbeit und Ausbildung der der Abteilung zugewiesenen Richter, Richteramtsanwärter mit abgelegter Anwalts- und Richteramtsprüfung und Referendare.

2.      In den Sitzungen der Abteilungen eines Županijski sud [(Gespanschaftsgericht, Kroatien)], des Visoki trgovački sud [(Hohes Handelsgericht)], des Visoki upravni sud [(Hohes Verwaltungsgericht)], des Visoki kazneni sud [(Hohes Strafgericht)] und des Visoki prekršajni sud [(Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen)] werden auch Fragen erörtert, die für die untergeordneten Gerichte im Zuständigkeitsbereich dieser Gerichte von gemeinsamem Interesse sind.

3.      In den Sitzungen einer Abteilung des Vrhovni sud [(Oberster Gerichtshof)] werden Fragen erörtert, die für einige oder alle Gerichte im Hoheitsgebiet der Republik Kroatien von gemeinsamem Interesse sind; außerdem werden Entwürfe für Vorschriften, die ein bestimmtes Rechtsgebiet betreffen, geprüft und Stellungnahmen dazu abgegeben.“

6        In Art. 39 des Gesetzes heißt es:

„1.      Der Abteilungsvorsitzende bzw. der Gerichtspräsident beruft bei Bedarf, mindestens jedoch einmal pro Quartal, eine Abteilungssitzung ein und leitet deren Arbeit. Nimmt der Gerichtspräsident an der Arbeit der Abteilungssitzung teil, leitet er diese und beteiligt sich am Entscheidungsprozess.

2.      Eine Sitzung aller Richter des Gerichts muss einberufen werden, wenn eine Abteilung des Gerichts oder ein Viertel aller Richter dies verlangen.

3.      In den Sitzungen der Richter des Gerichts bzw. einer Abteilung werden Entscheidungen mit der Mehrheit der Stimmen der Richter bzw. Abteilungsrichter getroffen.

4.      Über die Arbeit der Sitzung wird ein Protokoll angefertigt.

5.      Der Gerichtspräsident bzw. der Abteilungsvorsitzende kann darüber hinaus ausgewiesene Wissenschaftler und Fachleute auf einem bestimmten Rechtsgebiet zur Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung einladen.“

7        Art. 40 des Gerichtsorganisationsgesetzes bestimmt:

1.      Die Sitzung einer Abteilung oder der Richter wird auch dann einberufen, wenn festgestellt wird, dass zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern bestehen oder wenn innerhalb einer Abteilung ein Spruchkörper oder Richter von der früher anerkannten Rechtsauffassung abweicht.

2.      Die Rechtsauffassung, zu der man in der Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung des Vrhovni sud [(Oberster Gerichtshof)], des Visoki trgovački sud [(Hohes Handelsgericht)], des Visoki upravni sud [(Hohes Verwaltungsgericht)], des Visoki kazneni sud [(Hohes Strafgericht)], des Visoki prekršajni sud [(Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen)] und in der Sitzung einer Abteilung eines Županijski sud [(Gespanschaftsgericht)] gelangt, ist für alle zweitinstanzlichen Spruchkörper oder Einzelrichter dieser Abteilung bzw. dieses Gerichts verbindlich.

3.      Der Vorsitzende einer Abteilung kann gegebenenfalls Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultät, ausgewiesene Wissenschaftler oder Fachleute auf einem bestimmten Rechtsgebiet zur Abteilungssitzung einladen.“

 Geschäftsordnung der Gerichte

8        Art. 177 Abs. 3 des Sudski poslovnik (Geschäftsordnung der Gerichte) (Narodne novine, Nrn. 37/14, 49/14, 8/15, 35/15, 123/15, 45/16, 29/17, 33/17, 34/17, 57/17, 101/18, 119/18, 81/19, 128/19, 39/20, 47/20, 138/20, 147/20, 70/21, 99/21 und 145/21) sieht vor:

„Bei einem zweitinstanzlichen Gericht gilt die Rechtssache zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, zu dem die Entscheidung durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter ausgefertigt wird, nachdem die Rechtssache aus der Evidenzstelle zurückgelangt ist. Die Evidenzstelle ist verpflichtet, die Akte nach deren Erhalt so schnell wie möglich dem nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter wieder vorzulegen. Die Gerichtskanzlei hat die Entscheidung innerhalb von weiteren acht Tagen zu versenden.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Beim Visoki trgovački sud (Hohes Handelsgericht), dem vorlegenden Gericht, sind drei Rechtsmittel anhängig. In den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21 richten sich die Rechtsmittel gegen Beschlüsse, mit denen Anträge der Finanzagentur auf Erstattung der Kosten im Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit in einem Insolvenzverfahren abgelehnt wurden. In der Rechtssache C‑727/21 betrifft das Rechtsmittel einen Beschluss, mit dem ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens abgelehnt wurde.

10      Das vorlegende Gericht, das in Spruchkörpern mit drei Richtern tagte, prüfte diese drei Rechtsmittel und wies sie einstimmig zurück, womit es die erstinstanzlichen Entscheidungen bestätigte. Diese Urteile wurden von den Richtern dieses Gerichts unterzeichnet und anschließend gemäß Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte an die Evidenzstelle zur Registrierung weitergeleitet.

11      Der Richter der Evidenzstelle (im Folgenden: Evidenzrichter) lehnte es jedoch ab, diese gerichtlichen Entscheidungen einzutragen, und schickte sie zusammen mit einem Schreiben, in dem er ausführte, dass er die in diesen Entscheidungen vertretene Auffassung nicht teile, an die jeweiligen Spruchkörper zurück.

12      In der Rechtssache C‑554/21 wird in diesem Schreiben auf Rechtssachen hingewiesen, in denen das vorlegende Gericht unter ähnlichen Umständen anders entschieden habe, aber auch auf eine andere Rechtssache, in der es ebenso entschieden habe wie der Spruchkörper, der im Ausgangsverfahren entschieden habe. Der Evidenzrichter zog daraus den Schluss, dass die Sache an den betreffenden Spruchkörper zurückzuverweisen sei und, wenn dieser seine Entscheidung aufrechterhalte, bei einer „Abteilungssitzung“ zu prüfen sei. Damit wurde die Registrierung der gerichtlichen Entscheidung im Ausgangsverfahren davon abhängig gemacht, dass eine andere Entscheidung ergeht, und einer der beiden unterschiedlichen Tendenzen in der Rechtsprechung dieses Gerichts der Vorzug gegeben, indem klargestellt wurde, dass diese gerichtliche Entscheidung, wenn der Spruchkörper die betreffende Rechtssache nicht erneut prüfe und die erlassene Entscheidung nicht abändere, zur Prüfung an die Abteilung für Handelsstreitsachen und andere Rechtsstreitigkeiten dieses Gerichts weitergeleitet werde, um eine „Rechtsauffassung“ dazu festlegen, wie über derartige Rechtssachen zu entscheiden sei.

13      In der Rechtssache C‑622/21 wird die Zurückverweisung der Rechtssache an den Spruchkörper im Schreiben des Evidenzrichters mit zwei Entscheidungen des vorlegenden Gerichts gerechtfertigt, in denen Auffassungen vertreten worden seien, die der im Ausgangsverfahren vertretenen entgegenstünden. Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass diese Entscheidungen erst nach Erlass der Entscheidung im Ausgangsverfahren erlassen worden seien. In Wirklichkeit sei das Verfahren zur Eintragung der letzteren Entscheidung blockiert worden und diese sei nicht versandt worden, solange diese späteren Entscheidungen, die eine andere Rechtsauffassung widerspiegelten, nicht versandt worden seien.

14      In der Rechtssache C‑727/21 geht aus dem Schreiben des Evidenzrichters hervor, dass dieser mit der Rechtsauslegung durch den Spruchkörper, der im Ausgangsverfahren entschieden hat, nicht einverstanden ist. In diesem Schreiben wird jedoch keine andere Entscheidung erwähnt, in der anders entschieden worden sein soll als durch diesen Spruchkörper.

15      In diesem Ausgangsverfahren trat der Spruchkörper, nachdem die Registrierung seiner ersten gerichtlichen Entscheidung abgelehnt worden war, erneut zu Beratungen zusammen, um das Rechtsmittel und die Stellungnahme des Evidenzrichters zu überprüfen, und beschloss dann, an der von ihm vertretenen Auffassung festzuhalten. Er erließ daher eine neue gerichtliche Entscheidung und leitete sie an die Evidenzstelle weiter.

16      Da der Evidenzrichter einer anderen rechtlichen Lösung den Vorzug gab, übermittelte er die Rechtssache an die Abteilung für Handelsstreitigkeiten und andere Rechtsstreitigkeiten des vorlegenden Gerichts zur Prüfung der streitigen Rechtsfrage in einer Abteilungssitzung.

17      In dieser Sitzung nahm die Abteilung eine „Rechtsauffassung“ an, die der vom Evidenzrichter bevorzugten Ansicht entsprach. Daraufhin wurde die Ausgangsrechtssache an den betreffenden Spruchkörper zur Entscheidung entsprechend dieser „Rechtsauffassung“ zurückverwiesen.

18      In den drei Rechtssachen führt das vorlegende Gericht aus, dass nach Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte die richterliche Arbeit in einer in zweiter Instanz entschiedenen Rechtssache erst dann als abgeschlossen gelte, wenn die betreffende gerichtliche Entscheidung von der Evidenzstelle registriert worden sei. Erst nach dieser Registrierung und der anschließenden Versendung der Entscheidung an die Parteien werde die Rechtssache als abgeschlossen angesehen. Daher gelte die gerichtliche Entscheidung, obwohl sie von einem Spruchkörper als Kollegialorgan erlassen worden sei, nur dann als endgültig ergangen, wenn sie vom Evidenzrichter bestätigt werde, der vom Präsidenten des betreffenden Gerichts als Organ der Justizverwaltung im Rahmen des jährlichen Geschäftsverteilungsplans benannt werde. Das vorlegende Gericht weist ferner darauf hin, dass die Parteien weder von der Beteiligung des Evidenzrichters wüssten noch dessen Namen kennen und dass das Registrierungsverfahren nicht gesetzlich als Voraussetzung für den Erlass einer gerichtlichen Entscheidung vorgesehen sei, sondern sich aus einer auf die Geschäftsordnung der Gerichte gestützten Praxis der zweitinstanzlichen Gerichte ergebe.

19      Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass es erhebliche Auswirkungen auf die richterliche Unabhängigkeit haben könne, wenn ein Richter wie der Evidenzrichter, von dem die Parteien nichts wüssten, dessen Rolle in den für Rechtsmittel geltenden Verfahrensvorschriften nicht vorgesehen sei und der kein übergeordnetes Gericht sei, den mit der Rechtssache befassten Spruchkörper veranlassen könne, seine Entscheidung abzuändern.

20      In der Rechtssache C‑554/21 führt das vorlegende Gericht weiter aus, dass der Evidenzrichter, obwohl einer der Spruchkörper dieses Gerichts in einer früheren Entscheidung die Rechtsprechung zur selben Rechtsfrage geändert habe, im Zusammenhang mit dieser Änderung nicht wie im Ausgangsverfahren gehandelt habe, sondern die Entscheidung, mit der diese Änderung vorgenommen worden sei, gebilligt und registriert und damit ihre Versendung an die Parteien ermöglicht habe, was zeige, dass der Evidenzrichter einen wesentlichen Einfluss auf die Unabhängigkeit der Richter ausübe, aus denen sich der zuständige Spruchkörper zusammensetze.

21      In der Rechtssache C‑622/21 stellt das vorlegende Gericht fest, dass dieser Einfluss dadurch belegt werde, dass der Evidenzrichter, ohne die Frage der betreffenden Abteilung zur Sitzung vorzulegen, die Registrierung und Zustellung von gerichtlichen Entscheidungen anderer Spruchkörper, die nach der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Entscheidung erlassen worden seien, zugelassen, die Eintragung der gerichtlichen Entscheidung im Ausgangsverfahren jedoch hinausgeschoben und die Entscheidung nur deshalb an den betreffenden Spruchkörper zurückverwiesen habe, weil er mit der darin gewählten Lösung nicht einverstanden gewesen sei.

22      Das vorlegende Gericht weist in diesen beiden Rechtssachen darauf hin, dass das Bestehen eines Mechanismus zur Registrierung gerichtlicher Entscheidungen bisher damit gerechtfertigt worden sei, dass die Kohärenz der Rechtsprechung gewährleistet werden müsse. Die Art und Weise, in der die Evidenzstelle vorgehe, nachdem eine gerichtliche Entscheidung erlassen worden sei, stehe jedoch im Widerspruch zur Unabhängigkeit der Justiz. Wie die Umstände der Ausgangsverfahren zeigten, entscheide die Evidenzstelle, welche Entscheidungen von einem zweitinstanzlichen Gericht versandt würden und in welchen Fällen eine von der Rechtsprechung abweichende Entscheidung zu veröffentlichen sei.

23      In der Rechtssache C‑727/21 führt das vorlegende Gericht zu den Abteilungssitzungen aus, dass diese in der Geschäftsordnung der Gerichte nicht vorgesehen seien und dass nur die Evidenzrichter, die Abteilungsvorsitzenden oder die Gerichtspräsidenten darüber entschieden, welche Punkte auf die Tagesordnung einer solchen Sitzung gesetzt würden. Die Verfahrensbeteiligten wüssten nicht, welche Bedeutung diese Sitzung habe, und könnten nicht daran teilnehmen. Die „Rechtsauffassungen“, die in einer Abteilungssitzung eines Obergerichts angenommen würden, seien aber nach Art. 40 des Gerichtsorganisationsgesetzes für alle Richter und Spruchkörper dieser Abteilung in den besonderen Verfahren, mit denen sie befasst seien, verbindlich. Diese quasilegislative Rolle der Gerichtsabteilungen verstoße gegen die dreigliedrige Gewaltenteilung und die Rechtsstaatlichkeit sowie gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Die in der Sitzung der Richter der zweitinstanzlichen Gerichte festgelegten „Rechtsauffassungen“ seien allerdings nicht für die übergeordneten Gerichte verbindlich, und die obersten Gerichte hätten in vielen Fällen im Rahmen von bei ihnen anhängigen Verfahren andere „Rechtsauffassungen“ vertreten als die zweitinstanzlichen Gerichte.

24      Unter diesen Umständen hat der Visoki trgovački sud (Hohes Handelsgericht) beschlossen, die Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende, in den Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21 gleichlautende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist davon auszugehen, dass die Vorschrift im Sinne von Art. 177 Abs. 3 Satz 1 zweiter Satzteil und Satz 2 der Geschäftsordnung der Gerichte mit dem Wortlaut: „Bei einem zweitinstanzlichen Gericht gilt die Rechtssache zu dem Zeitpunkt als abgeschlossen, zu dem die Entscheidung durch den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter ausgefertigt wird, nachdem die Rechtssache aus der Evidenzstelle zurückgelangt ist[; d]ie Evidenzstelle ist verpflichtet, die Akte nach deren Erhalt so schnell wie möglich dem nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Richter wieder vorzulegen[; d]ie Gerichtskanzlei hat die Entscheidung innerhalb von weiteren acht Tagen zu versenden“ im Einklang mit Art. 19 Abs. 1 EUV und mit Art. 47 der Charta steht?

25      Außerdem hat er in der Rechtssache C‑727/21 beschlossen, dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht die Bestimmung von Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes („Die Rechtsauffassung, zu der man in der Sitzung aller Richter bzw. einer Abteilung des Vrhovni sud [Oberster Gerichtshof], des Visoki trgovački sud [Hohes Handelsgericht], des Visoki upravni sud [Hohes Verwaltungsgericht], des Visoki kazneni sud [Hohes Strafgericht], des Visoki prekršajni sud [Hohes Gericht für Verwaltungsstrafsachen] und in der Sitzung einer Abteilung eines Županijski sud [Gespanschaftsgericht] gelangt, ist für alle zweitinstanzlichen Spruchkörper oder Einzelrichter dieser Abteilung bzw. dieses Gerichts verbindlich“) mit Art. 19 Abs. 1 EUV und mit Art. 47 der Charta in Einklang?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

26      Mit Entscheidungen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. November und 15. November 2021 ist das Verfahren in den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21 bis zu der das Verfahren beendenden Entscheidung in der Rechtssache C‑361/21, PET‑PROM, ausgesetzt worden.

27      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 4. Februar 2022 ist das Verfahren in der Rechtssache C‑727/21 bis zum Eingang der Antwort des vorlegenden Gerichts in der Rechtssache C‑361/21, PET‑PROM, auf die Frage nach dem Stand des Ausgangsverfahrens in dieser Rechtssache ausgesetzt worden.

28      Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 14. März 2022 ist das Verfahren in den Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21 wieder aufgenommen worden, da Zweifel an der Existenz des der Rechtssache C‑361/21 zugrunde liegenden Ausgangsrechtsstreits bestanden. Mit Entscheidung des Präsidenten des Gerichtshofs vom 10. August 2022 sind die Rechtssachen C‑554/21, C‑622/21 und C‑727/21 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren sowie zu gemeinsamem Urteil verbunden worden.

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

29      Zunächst ist daran zu erinnern, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs selbst ist, die Umstände, unter denen er vom nationalen Gericht angerufen wurde, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit oder die Zulässigkeit des ihm vorgelegten Ersuchens zu überprüfen (Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV das Unionsrecht nur in den Grenzen der ihm übertragenen Zuständigkeiten prüfen kann (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Der Anwendungsbereich der Charta ist, was das Handeln der Mitgliedstaaten betrifft, in ihrem Art. 51 Abs. 1 definiert. Danach gilt sie für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union; diese Bestimmung bestätigt die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht insbesondere im Hinblick auf Art. 47 der Charta keine Angaben dazu gemacht, wie die Ausgangsrechtsstreitigkeiten die Auslegung oder Anwendung einer auf nationaler Ebene umgesetzten Vorschrift des Unionsrechts betreffen könnten.

33      Daher ist der Gerichtshof in den vorliegenden Rechtssachen nicht für die Auslegung von Art. 47 der Charta als solchem zuständig.

34      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen haben, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Sie müssen daher ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in diesen Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Was den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV angeht, so betrifft diese Bestimmung die „vom Unionsrecht erfassten Bereiche“, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses, C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 29, und vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist daher u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar, die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Dies trifft auf das vorlegende Gericht zu, das zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein kann und als „Gericht“ im unionsrechtlichen Sinne Bestandteil des kroatischen Rechtsbehelfssystems in den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ist, so dass es den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden muss (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Folglich ist der Gerichtshof für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in den vorliegenden Rechtssachen zuständig.

 Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen

39      Nach ständiger Rechtsprechung ist das durch Art. 267 AEUV geschaffene Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten benötigen. Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass es für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Wie sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, muss die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen (Urteil vom 22. März 2022, Prokurator Generalny [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, dass die drei mit den Ausgangsverfahren befassten Spruchkörper in den Rechtssachen C‑554/21 und C‑622/21 mit Weisungen des Evidenzrichters und in der Rechtssache C‑727/21 mit der Verpflichtung konfrontiert seien, entsprechend der in der Sitzung der Abteilung für Handelsstreitsachen und anderer Rechtsstreitigkeiten dieses Gerichts angenommenen „Rechtsauffassung“ zu entscheiden. Die Weisungen und die „Rechtsauffassung“ bezögen sich auf den Inhalt der von diesen drei Spruchkörpern bereits getroffenen Entscheidungen, und ihre Beachtung sei Voraussetzung für den endgültigen Abschluss der Ausgangsrechtssachen sowie die Registrierung der Entscheidungen und deren Versendung an die Parteien. Mit seinen Vorlagefragen möchte es aber gerade wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer „Beteiligung“ anderer Personen, die innerhalb eines Gerichts ein Amt ausüben, an der Rechtsprechungstätigkeit eines Spruchkörpers dieses Gerichts, wie sie in den Ausgangsverfahren fraglich ist, entgegensteht. Folglich ist die Antwort des Gerichtshofs auf diese Vorlagefragen erforderlich, damit das vorlegende Gericht die drei Ausgangsrechtssachen endgültig abschließen kann.

42      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist festzustellen, dass die Vorabentscheidungsersuchen zulässig sind.

 Zu den Vorlagefragen

43      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass das nationale Recht für ein nationales Gericht einen internen Mechanismus vorsieht, nach dem zum einen eine gerichtliche Entscheidung nur dann zum Zweck des Abschlusses der betreffenden Rechtssache an die Parteien versandt werden darf, wenn ein Evidenzrichter, der nicht dem Spruchkörper angehört, der diese Entscheidung erlassen hat, deren Inhalt billigt, und zum anderen eine Abteilungssitzung dieses nationalen Gerichts befugt ist, „Rechtsauffassungen“ anzunehmen, die für alle Spruchkörper und Richter dieses Gerichts verbindlich sind.

44      Vorab ist daran zu erinnern, dass die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten, u. a. die Errichtung, die Besetzung, die Zuständigkeiten und die Arbeitsweise der nationalen Gerichte, zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, dass diese bei der Ausübung dieser Zuständigkeit aber die Verpflichtungen einzuhalten haben, die sich für sie aus dem Unionsrecht, insbesondere aus Art. 19 EUV, ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2023, Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern], C‑204/21, EU:C:2023:442, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Insoweit stellt der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der insbesondere in Art. 6 Abs. 1 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) verankert ist, dem Art. 47 Abs. 2 der Charta entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese letztere Bestimmung ist daher bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichtshofs – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 102 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Da ferner die in der Charta enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, soll mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den durch die EMRK gewährleisteten entsprechenden Rechten geschaffen werden, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts berührt wird. Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) entspricht Art. 47 Abs. 2 der Charta Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung in den vorliegenden Rechtssachen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 Abs. 1 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichtshofs – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47      Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass jeder Mitgliedstaat nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dafür zu sorgen hat, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im unionsrechtlichen Sinne dazu berufen sind, über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden, und damit Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz, u. a. dem Erfordernis der Unabhängigkeit, gerecht werden (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Daher muss jede nationale Maßnahme oder Praxis, die darauf abzielt, Divergenzen in der Rechtsprechung zu verhindern oder auszuräumen und so die dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit inhärente Rechtssicherheit zu gewährleisten, den Anforderungen entsprechen, die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben.

49      Insoweit ist erstens festzustellen, dass das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das dem Auftrag des Richters inhärent ist, zum Wesensgehalt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz und des Grundrechts auf ein faires Verfahren gehört, dem als Garant für den Schutz sämtlicher dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsender Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Wertes der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zukommt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Nach ständiger Rechtsprechung umfasst dieses Erfordernis der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 121).

51      Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 122).

52      Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsuchenden jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit dieser Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 123).

53      Insoweit sind die Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsuchenden schaffen muss (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Zwar zielt der „externe“ Aspekt der Unabhängigkeit in erster Linie darauf ab, die Unabhängigkeit der Gerichte gemäß dem für einen Rechtsstaat kennzeichnenden Grundsatz der Gewaltenteilung gegenüber der Legislative und der Exekutive zu wahren, er ist jedoch so zu verstehen, dass er auch den Schutz der Richter vor unzulässigen Einflüssen innerhalb des betreffenden Gerichts umfasst (vgl. in diesem Sinne EGMR, 22. Dezember 2009, Parlov-Tkalčić/Kroatien, CE:ECHR:2009:1222JUD002481006, § 86.

55      Zweitens ist nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Anbetracht des untrennbaren Zusammenhangs, der zwischen den Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter sowie des Zugangs zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2023, Krajowa Rada Sądownictwa [Verbleib eines Richters im Amt], C‑718/21, EU:C:2023:1015, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung), außerdem erforderlich, dass es sich um ein Gericht handelt, das „zuvor durch Gesetz errichtet“ wurde. Dieser Ausdruck spiegelt insbesondere den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit wider und umfasst nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des betreffenden Gerichts, sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission, C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, Rn. 73, und vom 22. März 2022, Prokurator Generalny [Disziplinarkammer des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑508/19, EU:C:2022:201, Rn. 73). Aus diesem Grundsatz folgt insbesondere, dass der mit der Rechtssache befasste Spruchkörper allein die das Verfahren beendende Entscheidung trifft.

56      Der Ausdruck „zuvor durch Gesetz errichtet“ soll insbesondere verhindern, dass die Organisation des Justizsystems in das Ermessen der Exekutive gestellt wird, und dafür sorgen, dass dieser Bereich durch ein Gesetz geregelt wird. In Ländern mit kodifiziertem Recht kann die Ausgestaltung des Justizsystems auch nicht in das Ermessen der Justizbehörden gestellt werden, wobei dies jedoch nicht bedeutet, dass den Gerichten nicht ein gewisser Spielraum bei der Auslegung der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften zukäme (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 168 und die dort angeführte Rechtsprechung).

57      Ein „zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht“ ist durch seine Rechtsprechungstätigkeit gekennzeichnet, d. h. dadurch, dass es auf der Grundlage von Rechtsnormen und nach Durchführung eines geordneten Verfahrens über alle in seine Zuständigkeit fallenden Fragen entscheidet. Es muss daher über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit seiner Mitglieder hinaus weitere Voraussetzungen erfüllen, zu denen insbesondere gehört, dass das vor ihm durchgeführte Verfahren bestimmte Garantien bietet (vgl. in diesem Sinne EGMR, 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien, CE:ECHR:2000:0622JUD003249296, § 99).

58      Zu diesen Garantien gehört drittens der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der integrierender Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren und wirksamen Rechtsschutz ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA, C‑197/09 RX‑II, EU:C:2009:804, Rn. 59, vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 61, vom 29. April 2021, Bank BPH, C‑19/20, EU:C:2021:341, Rn. 92, und vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Verjährungsfrist], C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 46). Dieser Grundsatz bedeutet insbesondere, dass die Parteien alle tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind, kontradiktorisch erörtern können (Urteile vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a., C‑89/08 P, EU:C:2009:742, Rn. 56, und vom 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA, C‑197/09 RX‑II, EU:C:2009:804, Rn. 41).

59      Die in den Rn. 47 bis 58 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse setzen somit u. a. voraus, dass es transparente und den Rechtsuchenden bekannte Vorschriften über die Besetzung der Spruchkörper gibt, mit denen sich ausschließen lässt, dass Personen, die nicht dem mit einer bestimmten Rechtssache befassten Spruchkörper angehören und vor denen die Parteien nicht Stellung nehmen konnten, in den diese Rechtssache betreffenden Entscheidungsprozess unzulässigerweise eingreifen.

60      Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die angeführten Grundsätze anzuwenden, doch kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten unter Berücksichtigung der Akten auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (Urteil vom 6. Oktober 2021, W. Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichtshofs – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 133 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Was die Beteiligung des in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Evidenzrichters betrifft, ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass Art. 177 Abs. 3 der Geschäftsordnung der Gerichte nicht vorsieht, dass dieser Richter dafür zuständig ist, eine gerichtliche Entscheidung auf irgendeine Art und Weise inhaltlich zu überprüfen und zu verhindern, dass diese Entscheidung förmlich ergeht und den Parteien zugestellt wird, wenn er mit ihrem Inhalt nicht einverstanden ist.

62      Aus den Akten geht außerdem hervor, dass eine solche Zuständigkeit auch nicht im Gerichtsorganisationsgesetz vorgesehen ist, insbesondere nicht in dessen Art. 40 Abs. 2, der die Verbindlichkeit der in den Abteilungssitzungen angenommenen „Rechtsauffassungen“ betrifft.

63      Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts scheinen diese Bestimmungen jedoch, wie der Sachverhalt der drei Ausgangsverfahren veranschaulicht, in der Praxis so angewandt zu werden, dass die Rolle des Evidenzrichters über die Aufgabe der Registrierung hinausgeht.

64      Zwar darf dieser Richter die Beurteilung des für die betreffende Rechtssache zuständigen Spruchkörpers nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen, er kann jedoch faktisch die Registrierung der erlassenen gerichtlichen Entscheidung blockieren und damit verhindern, dass der Entscheidungsprozess abgeschlossen und die Entscheidung den Parteien zugestellt wird, indem er die Rechtssache zur Überprüfung der Entscheidung anhand seiner eigenen Rechtsausführungen an den Spruchkörper zurückverweist und, wenn die Uneinigkeit mit dem Spruchkörper fortbesteht, den Vorsitzenden der betreffenden Abteilung auffordert, eine Abteilungssitzung einzuberufen, damit in dieser Sitzung eine u. a. für den Spruchkörper verbindliche „Rechtsauffassung“ angenommen wird.

65      Eine solche Praxis hat zur Folge, dass der Evidenzrichter in die betreffende Rechtssache eingreifen kann, und dieser Eingriff kann dazu führen, dass er Einfluss auf die in dieser Rechtssache endgültig ergehende Entscheidung nimmt.

66      Erstens scheint die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung, wie sich aus den Rn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils ergibt, aber keine derartige Beteiligung des Evidenzrichters vorzusehen.

67      Zweitens erfolgt diese Beteiligung, nachdem der Spruchkörper, dem die betreffende Rechtssache zugewiesen wurde, nach Abschluss der Beratungen seine gerichtliche Entscheidung erlassen hat, obwohl der Evidenzrichter diesem Spruchkörper nicht angehört und somit nicht an den vorhergehenden Verfahrensabschnitten mitgewirkt hat, die zu dieser Entscheidungsfindung geführt haben. Der Evidenzrichter kann somit Einfluss auf den Inhalt gerichtlicher Entscheidungen nehmen, die von Spruchkörpern erlassen wurden, denen er nicht angehört.

68      Drittens scheint die Interventionsbefugnis des Evidenzrichters nicht einmal durch objektive Kriterien begrenzt zu sein, die klar formuliert sind, eine besondere Rechtfertigung erkennen lassen und verhindern können, dass dieser Richter nach freiem Ermessen handelt. So hat der Evidenzrichter im Ausgangsrechtsstreit, der der Rechtssache C‑554/21 zugrunde liegt, festgestellt, dass die ihm vorgelegte gerichtliche Entscheidung mit einer anderen früheren Entscheidung, nicht aber mit zwei weiteren früheren Entscheidungen im Einklang stand, und einer der beiden unterschiedlichen rechtlichen Lösungen den Vorzug gegeben. Im Ausgangsrechtsstreit, der der Rechtssache C‑622/21 zugrunde liegt, hat er die Zurückverweisung der Rechtssache an den Spruchkörper damit begründet, dass es Entscheidungen gebe, die nach Erlass der in dieser Rechtssache in Rede stehenden Entscheidung ergangen seien und in denen eine andere Auffassung vertreten werde. Im Ausgangsrechtsstreit, der der Rechtssache C‑727/21 zugrunde liegt, hat er die Rechtssache mit der Begründung, dass er die in der betreffenden Entscheidung vertretene Rechtsansicht nicht teile, an den Spruchkörper zurückverwiesen, der sich in dieser Entscheidung jedoch auf eine frühere Entscheidung bezogen hatte, in der eine ähnliche Auffassung vertreten worden war.

69      Nach alledem ist eine Praxis wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende, wonach die gerichtliche Entscheidung des mit der Rechtssache befassten Spruchkörpers nur dann als endgültig ergangen angesehen und an die Parteien versandt werden kann, wenn ihr Inhalt von einem nicht diesem Spruchkörper angehörenden Evidenzrichter gebilligt worden ist, mit den dem Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz inhärenten Anforderungen nicht vereinbar.

70      Hinsichtlich der Beteiligung einer Abteilungssitzung wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt sich aus Art. 40 Abs. 1 und 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes, dass eine Sitzung einer Abteilung oder der Richter eines Gerichts u. a. dann einberufen werden kann, wenn zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern bestehen und dass dann in dieser Sitzung eine für alle Spruchkörper oder Richter dieser Abteilung oder dieses Gerichts verbindliche „Rechtsauffassung“ angenommen wird.

71      Außerdem geht aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts hervor, dass eine solche Abteilungssitzung von einem Abteilungsvorsitzenden auf Antrag des Evidenzrichters einberufen werden kann, wenn dieser der Registrierung der ihm von dem mit der betreffenden Rechtssache befassten Spruchkörper übermittelten gerichtlichen Entscheidung nicht zustimmt, und zwar zumindest dann, wenn dieser Spruchkörper, nachdem er die vom Evidenzrichter geforderte Überprüfung vorgenommen hat, an seiner Entscheidung festhalten will.

72      Nach diesen Erläuterungen können alle Richter der betreffenden Abteilung, einschließlich der Richter, die an der Entscheidung in der betreffenden Rechtssache mitwirken, und des Evidenzrichters, an dieser Sitzung teilnehmen. Hierzu ist festzustellen, dass, wie aus den Akten der Rechtssache C‑727/21 hervorgeht, zwar der oder die Richter des betreffenden Spruchkörpers offenbar an der fraglichen Abteilungssitzung teilgenommen haben, es sich bei der Mehrheit der teilnehmenden Richter jedoch um andere Richter des betreffenden Gerichts handelt, die aber nicht diesem Spruchkörper angehören. Außerdem können nach Art. 40 Abs. 3 des Gerichtsorganisationsgesetzes unter bestimmten Voraussetzungen „Professoren der rechtswissenschaftlichen Fakultät, ausgewiesene Wissenschaftler oder Fachleute auf einem bestimmten Rechtsgebiet“, bei denen es sich um Persönlichkeiten handelt, die außerhalb des betreffenden Gerichts stehen, an einer solchen Abteilungssitzung teilnehmen und damit an einem gerichtlichen Verfahren mitwirken.

73      Aus diesen Erläuterungen ergibt sich außerdem, dass in einer Abteilungssitzung nicht endgültig über die Rechtssache, die ihrer Einberufung zugrunde liegt, entschieden werden oder eine konkrete Lösung in dieser Rechtssache vorgeschlagen werden soll. Gleichwohl wird in dieser Sitzung, auch wenn die „Rechtsauffassung“ mehr oder weniger abstrakt formuliert wird und für alle Richter verbindlich ist, das Recht anhand konkreter Fälle ausgelegt, um zu dieser Rechtsauffassung zu gelangen.

74      Nach Art. 40 Abs. 2 des Gerichtsorganisationsgesetzes ist die in einer Abteilungssitzung angenommene „Rechtsauffassung“ u. a. von dem Spruchkörper, der in der Rechtssache, die zur Einberufung der Sitzung geführt hat, die gerichtliche Entscheidung erlassen hat, zu beachten, wenn diese Entscheidung noch nicht registriert oder versandt worden ist. Der Evidenzrichter, der in der Praxis die Aufgabe hat, über die Beachtung der von der betreffenden Abteilungssitzung angenommenen „Rechtsauffassungen“ zu wachen, kann nämlich die Registrierung der von diesem Spruchkörper erlassenen „neuen“ gerichtlichen Entscheidung ablehnen, wenn sie von der „Rechtsauffassung“ abweicht.

75      Die Beteiligung der Abteilungssitzung ermöglicht faktisch, dass eine Reihe von an dieser Sitzung teilnehmenden Richtern in die endgültige, aber noch nicht registrierte und versandte Entscheidung in einer vom zuständigen Spruchkörper bereits beratenen und entschiedenen Rechtssache eingreift.

76      Es kann nämlich den endgültigen Inhalt dieser Entscheidung beeinflussen, wenn der zuständige Spruchkörper für den Fall, dass er an einer Rechtsansicht festhält, die derjenigen des Evidenzrichters widerspricht, damit rechnen muss, dass seine gerichtliche Entscheidung in einer Abteilungssitzung überprüft wird, und wenn er verpflichtet ist, die in dieser Sitzung festgelegte „Rechtsauffassung“ zu beachten, obwohl er seine Beratungen bereits abgeschlossen hat.

77      Erstens ist aber nicht ersichtlich, dass die Interventionsbefugnis der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Abteilungssitzung durch objektive Kriterien, die als solche angewandt werden, hinreichend begrenzt wäre. Zwar sieht Art. 40 Abs. 1 des Gerichtsorganisationsgesetzes die Einberufung einer Abteilungssitzung vor, „wenn festgestellt wird, dass zu Fragen in Bezug auf die Anwendung des Gesetzes Auffassungsunterschiede zwischen einzelnen Abteilungen, Spruchkörpern oder Richtern bestehen oder wenn innerhalb einer Abteilung ein Spruchkörper oder Richter von der früher anerkannten Rechtsauffassung abweicht“, doch geht aus der Darstellung des Sachverhalts in der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑727/21 hervor, dass die betreffende Abteilungssitzung nur deshalb einberufen wurde, weil der Evidenzrichter die Rechtsansicht des zuständigen Spruchkörpers nicht teilt, ohne dass überhaupt eine Entscheidung angeführt worden wäre, die insoweit eine Abweichung von früheren Gerichtsentscheidungen erkennen ließe.

78      Zweitens scheint sich aus den dem Gerichtshof in der Rechtssache C‑727/21 vorliegenden Akten zu ergeben, dass der Umstand, dass eine Abteilungssitzung einberufen wird und diese eine „Rechtsauffassung“ festlegt, die u. a. für den mit dieser Rechtssache befassten Spruchkörper verbindlich ist, ebenso wenig wie die Beteiligung des Evidenzrichters zu irgendeinem Zeitpunkt den Parteien zur Kenntnis gebracht werden. Die Parteien scheinen somit nicht die Möglichkeit zu haben, ihre Verfahrensrechte in Bezug auf eine solche Abteilungssitzung auszuüben.

79      Nach alledem ist eine nationale Regelung, die es einer Abteilungssitzung eines nationalen Gerichts erlaubt, den mit der Rechtssache befassten Spruchkörper durch die Festlegung einer „Rechtsauffassung“ zu zwingen, den Inhalt der von ihm zuvor erlassenen gerichtlichen Entscheidung zu ändern, obwohl diese Abteilungssitzung auch andere Richter als die dieses Spruchkörpers sowie gegebenenfalls außerhalb des betreffenden Gerichts stehende Personen umfasst, vor denen die Parteien ihren Standpunkt nicht geltend machen können, mit den dem Recht auf einen wirksamen Rechtsschutz und auf ein faires Verfahren inhärenten Anforderungen nicht vereinbar.

80      Klarzustellen bleibt noch, dass im Hinblick darauf, Divergenzen in der Rechtsprechung zu vermeiden oder auszuräumen und so die dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit inhärente Rechtssicherheit zu gewährleisten, ein Verfahrensmechanismus, der es einem Richter eines nationalen Gerichts, der nicht dem zuständigen Spruchkörper angehört, ermöglicht, eine Rechtssache an einen erweiterten Spruchkörper dieses Gerichts zu verweisen, dann nicht gegen die sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergebenden Anforderungen verstößt, wenn der ursprünglich benannte Spruchkörper noch nicht in die Beratung der Rechtssache eingetreten ist, wenn die Umstände, unter denen eine solche Verweisung vorgenommen werden kann, in den einschlägigen Rechtsvorschriften klar angegeben sind und wenn diese Verweisung den betroffenen Personen nicht die Möglichkeit nimmt, sich an dem Verfahren vor diesem erweiterten Spruchkörper zu beteiligen. Außerdem kann der ursprünglich benannte Spruchkörper stets eine solche Verweisung beschließen.

81      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass das nationale Recht für ein nationales Gericht einen internen Mechanismus vorsieht, nach dem

–        die gerichtliche Entscheidung des mit einer Rechtssache befassten Spruchkörpers nur dann zum Zweck des Abschlusses der Rechtssache an die Parteien versandt werden darf, wenn ihr Inhalt von einem Evidenzrichter, der nicht diesem Spruchkörper angehört, gebilligt worden ist;

–        eine Abteilungssitzung dieses Gerichts befugt ist, den mit einer Rechtssache befassten Spruchkörper durch Festlegung einer „Rechtsauffassung“ zu zwingen, den Inhalt der von dem Spruchkörper zuvor erlassenen gerichtlichen Entscheidung zu ändern, obwohl diese Abteilungssitzung auch andere Richter als die dieses Spruchkörpers sowie gegebenenfalls außerhalb des betreffenden Gerichts stehende Personen umfasst, vor denen die Parteien ihren Standpunkt nicht geltend machen können.

 Kosten

82      Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

ist dahin auszulegen, dass

er dem entgegensteht, dass das nationale Recht für ein nationales Gericht einen internen Mechanismus vorsieht, nach dem

–        die gerichtliche Entscheidung des mit einer Rechtssache befassten Spruchkörpers nur dann zum Zweck des Abschlusses der Rechtssache an die Parteien versandt werden darf, wenn ihr Inhalt von einem Evidenzrichter, der nicht diesem Spruchkörper angehört, gebilligt worden ist;

–        eine Abteilungssitzung dieses Gerichts befugt ist, den mit einer Rechtssache befassten Spruchkörper durch Festlegung einer „Rechtsauffassung“ zu zwingen, den Inhalt der von dem Spruchkörper zuvor erlassenen gerichtlichen Entscheidung zu ändern, obwohl diese Abteilungssitzung auch andere Richter als die dieses Spruchkörpers sowie gegebenenfalls außerhalb des betreffenden Gerichts stehende Personen umfasst, vor denen die Parteien ihren Standpunkt nicht geltend machen können.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Kroatisch.

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