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Document 62021CC0556

    Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 17. November 2022.
    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid gegen E.N. u. a.
    Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Art. 27 – Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einem Asylbewerber ergangene Überstellungsentscheidung – Art. 29 – Überstellungsfrist – Aussetzung dieser Frist im Berufungsverfahren – Von der Verwaltung beantragte einstweilige Anordnung.
    Rechtssache C-556/21.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:901

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    JEAN RICHARD DE LA TOUR

    vom 17. November 2022 ( 1 )

    Rechtssache C‑556/21

    Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid,

    Beteiligte:

    E. N.,

    S. S.,

    J. Y.

    (Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Staatsrat, Niederlande])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Asylpolitik – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Mitgliedstaat, der für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung – Rechtsbehelf gegen eine gegenüber einem Asylbewerber ergangene Überstellungsentscheidung – Überstellungsfrist – Aussetzung der Frist zur Durchführung der Überstellung“

    I. Einleitung

    1.

    Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist ( 2 ).

    2.

    Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen E. N., S. S. und J. Y., die internationalen Schutz beantragt haben, auf der einen und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssecretaris) auf der anderen Seite wegen dessen Entscheidungen, die Anträge von E. N., S. S. und J. Y. auf internationalen Schutz ohne Prüfung abzulehnen und sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen. Diese Entscheidungen wurden von den zuständigen erstinstanzlichen Gerichten für nichtig erklärt. Der Staatssecretaris legte gegen diese Urteile Berufung ein und beantragte u. a., im Wege von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Frist für die Überstellung dieser Antragsteller auszusetzen, was ihm gewährt wurde.

    3.

    Die vorliegende Rechtssache bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, die Modalitäten für die Berechnung der Frist zu klären, über die der ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um einen Antragsteller auf internationalen Schutz in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen.

    4.

    Sie weist einen Zusammenhang mit der anhängigen Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Überstellungsfrist – Menschenhandel) (C‑338/21) auf, in der es um die Frage geht, ob die in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehene Überstellungsfrist (im Folgenden: Überstellungsfrist) ausgesetzt wird, wenn die betroffene Person gleichzeitig mit ihrem Antrag auf internationalen Schutz einen Widerspruch gegen die Entscheidung eingelegt hat, mit der die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels gemäß Art. 8 der Richtlinie 2004/81 ( 3 ) abgelehnt wurde.

    5.

    Obgleich der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in beiden Rechtssachen wissen möchte, welche Folgen die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung für die Berechnung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist als solche hat, sind die jeweils aufgeworfenen spezifischen Fragen unterschiedlich. Deshalb sind diese Rechtssachen Gegenstand getrennter Schlussanträge vom selben Tag.

    6.

    In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof nach Abschluss meiner Analyse vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass es, wenn sich der ersuchende Mitgliedstaat dafür entschieden hat, Art. 27 Abs. 3 Buchst. c dieser Verordnung anzuwenden, und die um internationalen Schutz nachsuchende Person nicht beantragt hat, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nach dieser Bestimmung auszusetzen, dem Berufungsgericht nicht möglich ist, bei der Prüfung der Rechtssache auf Antrag der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats eine Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes zu treffen, die die Aussetzung der Überstellungsfrist bewirkt.

    II. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    7.

    Nach ihrem Art. 1 legt die Dublin‑III‑Verordnung die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen. In den Erwägungsgründen 4, 5 und 19 dieser Verordnung heißt es hierzu:

    „(4)

    Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

    (5)

    Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

    (19)

    Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der Charta … Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

    8.

    Art. 27 Abs. 3 und 4 der Dublin‑III‑Verordnung bestimmt:

    „(3)   Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

    a)

    dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

    b)

    dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder

    c)

    die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.

    (4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.“

    9.

    Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 und Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung sieht vor:

    „(1)   Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme – oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

    (2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

    B.   Niederländisches Recht

    10.

    Art. 8:81 Abs. 1 der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsgesetz) ( 4 ) vom 4. Juni 1992 bestimmt:

    „Wird gegen eine Entscheidung Klage beim Verwaltungsgericht erhoben oder, vor einer etwaigen Klage beim Verwaltungsgericht, Widerspruch eingelegt …, kann der für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständige Richter des Verwaltungsgerichts, das in der Hauptsache zuständig ist oder werden kann, auf Antrag Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes treffen, wenn die Dringlichkeit dies unter Berücksichtigung der betroffenen Interessen erfordert.“

    11.

    In Art. 8:108 Abs. 1 des Allgemeinen Verwaltungsrechtsgesetzes heißt es:

    „Soweit in diesem Titel nicht anders bestimmt, gelten die Titel 8.1 bis 8.3 für die Berufung sinngemäß …“.

    III. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

    12.

    Am 12. Juli bzw. 7. Oktober 2019 und 22. November 2020 stellten E. N., S. S. und J. Y. einen Antrag auf internationalen Schutz in den Niederlanden. Der Staatssecretaris ersuchte die Behörden anderer Mitgliedstaaten, sie aufzunehmen bzw. wieder aufzunehmen. Am 27. Oktober bzw. 20. November 2019 und 19. Januar 2021 stimmten diese Behörden den (Wieder‑)Aufnahmegesuchen ausdrücklich oder stillschweigend zu.

    13.

    Am 9. Januar bzw. 8. Februar 2020 und 16. Februar 2021 lehnte der Staatssecretaris die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz mit der Begründung ab, dass die Behörden anderer Mitgliedstaaten für die Prüfung dieser Anträge zuständig seien und dass E. N., S. S. sowie J. Y. an diese Behörden überstellt werden müssten. E. N., S. S. et J. Y. erhoben Klagen auf Nichtigerklärung dieser Entscheidungen. Aus den Erklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass sie nicht beantragt haben, die Durchführung dieser Entscheidungen bis zur Entscheidung über ihre Klagen auszusetzen ( 5 ).

    14.

    Am 25. Februar bzw. 16. September 2020 ( 6 ) und 1. April 2021 erklärten die erstinstanzlichen Gerichte die Entscheidungen, mit denen die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz abgelehnt wurde, sowie die Überstellungsentscheidungen für nichtig und wiesen den Staatssecretaris an, neue Entscheidungen über die von E. N., S. S. und J. Y. gestellten Anträge auf internationalen Schutz zu erlassen.

    15.

    Der Staatssecretaris legte gegen diese Urteile Berufung beim Raad van State (Staatsrat) ein. Er verband diese Berufungen mit Anträgen auf Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, die darauf gerichtet waren, dass er vor der Entscheidung über die Berufung keine neue Entscheidung über die Anträge auf internationalen Schutz treffen müsse und dass die Überstellungsfrist ausgesetzt werde. Das vorlegende Gericht gab diesen Anträgen am 17. März bzw. 16. November 2020 und 28. Mai 2021 statt.

    16.

    Es weist darauf hin, dass es feststellen müsse, dass die Überstellungsfrist abgelaufen und das Königreich der Niederlande somit für die Prüfung der von E. N., S. S. und J. Y. gestellten Anträge auf internationalen Schutz zuständig geworden sei, falls davon auszugehen sei, dass Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dem entgegenstünden, dass in der Berufungsinstanz einem Antrag des Staatssecretaris auf Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben werde, der darauf gerichtet sei, dass die Überstellungsfrist ausgesetzt werde.

    17.

    Das Königreich der Niederlande habe sich für die Umsetzung von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung entschieden, wonach die betreffende Person das Recht habe, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen.

    18.

    Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass die Lösung, nach der die Art. 27 und 29 der Dublin‑III-Verordnung dem entgegenstünden, dass in der Berufungsinstanz einem auf die Aussetzung der Überstellungsfrist gerichteten Antrag des Staatssecretaris auf Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben werde, zum einen durch die Definition des Begriffs „betreffende Person“ im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c dieser Verordnung und zum anderen durch das Ziel einer raschen Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats gerechtfertigt sein könnte.

    19.

    Allerdings gebe es auch Gesichtspunkte, die dafür sprächen, dass diese Verordnung dem nicht entgegenstehe, dass in der Berufungsinstanz einem auf die Aussetzung der Überstellungsfrist gerichteten Antrag des Staatssecretaris auf Erlass von Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes stattgegeben werde.

    20.

    Denn erstens sei dem Urteil vom 26. September 2018, Staatssecretaris van Veiligheid en justitie (Aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels) ( 7 ) zu entnehmen, dass, wenn eine Richtlinie eine Verpflichtung vorsehe, dafür zu sorgen, dass ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf in erster Instanz bestehe, diese Verpflichtung nicht ausschließe, dass ein Verfahren in zweiter Instanz oder in Berufungsinstanz vorgesehen werde.

    21.

    Zweitens müsse, auch wenn eines der Ziele der Dublin‑III-Verordnung darin bestehe, den für den Antrag auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat rasch zu bestimmen, ein wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelf gegen Entscheidungen über die Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat gewährleistet werden. Die betreffende Person könnte insoweit einem zusätzlichen Rechtsschutz gegenüber einer raschen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats den Vorzug geben.

    22.

    Mit einer solchen Auslegung ließen sich zwei unerwünschte Situationen vermeiden, nämlich zum einen, dass die betreffende Person, während die Berufung anhängig sei, in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werde, um dann bei erfolgreicher Berufung in den ersuchenden Mitgliedstaat rücküberstellt zu werden, und zum anderen, dass die betreffende Person nicht in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt werden könne und die Überstellungsfrist in der Berufungsinstanz ablaufe, so dass der Antrag auf internationalen Schutz, selbst wenn die Berufung der betreffenden Person erfolglos sein sollte, vom ersuchenden Mitgliedstaat bearbeitet werden müsste.

    23.

    Drittens habe auch der Staatssecretaris die Möglichkeit, in der Berufungsinstanz die Aussetzung der Überstellungsfrist zu beantragen. Wäre dies nicht der Fall, würde ihm faktisch jede Möglichkeit genommen, Berufung einzulegen, da die Überstellungsfrist nicht immer ausreiche, um dem angerufenen Gericht eine Entscheidung zu ermöglichen.

    24.

    Der Raad van State (Staatsrat) hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    Sind Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen, dass sie dem nicht entgegenstehen, dass, wenn die Rechtsordnung des Mitgliedstaats für Rechtssachen wie die vorliegende einen zweiten Rechtszug vorsieht, der Berufungsrichter bei der Prüfung der Rechtssache auf Antrag der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats eine Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes trifft, die die Aussetzung der Überstellungsfrist bewirkt?

    25.

    E. N., S. S. und J. Y., die niederländische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

    26.

    Am 14. Juli 2022 hat in dieser und der anhängigen Rechtssache C‑338/21 eine gemeinsame mündliche Verhandlung stattgefunden, in der E. N., S. S. und J. Y. sowie die niederländische Regierung und die Kommission angehört und u. a. aufgefordert wurden, auf Fragen des Gerichtshofs zur mündlichen Beantwortung einzugehen.

    IV. Würdigung

    27.

    Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Praxis nicht entgegenstehen, nach der ein Berufungsgericht, wenn die Rechtsordnung eines Mitgliedstaats für den Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung oder die Überprüfung einer Überstellungsentscheidung, die in diesem Art. 27 Abs. 3 vorgesehen sind, einen zweiten Rechtszug vorsieht, bei der Prüfung der Rechtssache auf Antrag der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats eine Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes treffen kann, die die Aussetzung der Überstellungsfrist bewirkt.

    28.

    Zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Dublin‑III-Verordnung als solche nicht vorsieht, dass ein nationales Gericht die Frist von sechs Monaten aussetzen kann, über die der ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um die Überstellung der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in den zuständigen Mitgliedstaat vorzunehmen.

    29.

    Dagegen sieht Art. 27 Abs. 3 der Verordnung vor, dass ein nationales Gericht die Durchführung der Überstellungsentscheidung von Amts wegen ( 8 ) oder auf Antrag der betreffenden Person ( 9 ) aussetzen kann. Diese Aussetzung hat Folgen für die Berechnung der Überstellungsfrist.

    30.

    Nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung beginnt die Überstellungsfrist nämlich grundsätzlich mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat zu laufen. Hat die betreffende Person jedoch einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegt oder deren Überprüfung beantragt, beginnt diese Frist mit der endgültigen Entscheidung über den Rechtsbehelf oder die Überprüfung, wenn gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verordnung aufschiebende Wirkung gewährt wurde.

    31.

    Letztere Bestimmung sieht drei Modalitäten für die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung vor. Die Mitgliedstaaten haben entweder erstens vorzusehen, dass die betreffende Person aufgrund des Rechtsbehelfs berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, der die Entscheidung getroffen hat, zu bleiben ( 10 ), was zur Folge hat, dass die Überstellung nicht vorgenommen werden kann, oder zweitens, dass die Überstellung nach Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung für eine angemessene Frist, innerhalb deren ein Gericht feststellt, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs gewährt wird, automatisch ausgesetzt wird ( 11 ), oder aber drittens, dass die betreffende Person die Möglichkeit hat, einen Rechtsbehelf einzulegen, um zu erreichen, dass die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, bis über den Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung entschieden ist ( 12 ). Aus dem Zusammenspiel zwischen Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 Dublin‑III‑Verordnung ergibt sich, dass der Beginn der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 der Verordnung nur dann hinausgeschoben werden kann, wenn die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung nach einer der drei in Art. 27 Abs. 3 dieser Verordnung vorgesehenen Modalitäten gewährt wurde.

    32.

    Es ist jedoch zum einen festzustellen, dass Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung nicht vorsieht, dass die zuständige Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragen kann, und zum anderen, dass das Königreich der Niederlande sich dafür entschieden hat, von den drei in dieser Bestimmung vorgesehenen alternativen Modalitäten für eine solche Aussetzung diejenige anzuwenden, nach der die internationalen Schutz beantragende Person einen Rechtsbehelf einlegen kann, um diese Aussetzung zu erreichen ( 13 ).

    33.

    Das niederländische System, wie es im Ausgangsverfahren in Frage steht, sieht vor, dass die zuständige Verwaltungsbehörde, nachdem eine Überstellungsentscheidung in erster Instanz für nichtig erklärt wurde, bei dem für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zuständigen Richter des Berufungsgerichts beantragen kann, festzustellen, dass sie bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf keine neue Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz erlassen muss, und für Recht zu erkennen, dass die Überstellungsfrist ausgesetzt wird, bis das Berufungsgericht über den Rechtsbehelf entschieden hat, und zwar auch dann, wenn die um internationalen Schutz nachsuchende Person in erster Instanz nicht die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragt hat oder ihr eine solche Aussetzung nicht gewährt wurde.

    34.

    Daher ist zu prüfen, ob Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung insoweit, als sich das Königreich der Niederlande für die Anwendung von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung entschieden hat und die um internationalen Schutz nachsuchende Person in erster Instanz nicht die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragt hat, einer solchen Rechtspraxis entgegenstehen.

    35.

    Hierzu weise ich darauf hin, dass die Bestimmungen in Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 der Dublin‑III-Verordnung einen eigenen Zweck verfolgen.

    36.

    Erstens müssen die Verfahren zur Aufnahme und Wiederaufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, unter Beachtung einer Reihe zwingender Fristen durchgeführt werden, zu denen auch die Frist von sechs Monaten gehört, über die der ersuchende Mitgliedstaat verfügt, um die betreffende Person nach Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen ( 14 ).

    37.

    Diese Fristen tragen entscheidend zur Verwirklichung des im fünften Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung genannten Ziels einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz bei, indem sie gewährleisten, dass diese Verfahren ohne unberechtigte Verzögerung durchgeführt werden ( 15 ).

    38.

    Zweitens wollte der Unionsgesetzgeber beim Erlass von Art. 27 Abs. 3 der Verordnung die Verfahrensgarantien, die den Antragstellern gewährt werden ( 16 ), und insbesondere den gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 47 der Grundrechtecharta stärken ( 17 ).

    39.

    Anders ausgedrückt: Um der betreffenden Person einen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz zu verleihen, gibt ihr Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung die Möglichkeit, zu erreichen, dass die zuständigen Behörden des ersuchenden Mitgliedstaats sie nicht in einen anderen Mitgliedstaat überstellen können.

    40.

    Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 29. Januar 2009, Petrosian ( 18 ), festgestellt hat, ergibt sich aus dem Zusammenspiel dieser Ziele, dass es, um die Gewährleistung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die betreffenden Personen mit der Einhaltung der den Mitgliedstaaten auferlegten zwingenden Fristen in Einklang zu bringen, möglich sein muss, die Berechnung der Überstellungsfrist auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung hinauszuschieben, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die der Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht mehr entgegenstehen kann.

    41.

    Seitdem ist es ständige Rechtsprechung, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, den Rechtsschutz von Personen, die internationalen Schutz beantragen, dem Erfordernis einer zügigen Bearbeitung ihres Antrags zu opfern ( 19 ).

    42.

    In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen halte ich es für angebracht, daran zu erinnern, dass das Ziel einer zügigen Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz nur dann durch eine Verzögerung der Berechnung der Überstellungsfrist beeinträchtigt werden kann, wenn die Durchführung der Überstellungsentscheidung unter den in Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Bedingungen ausgesetzt wurde, um der internationalen Schutz beantragenden Person einen ausreichenden gerichtlichen Rechtsschutz zu gewährleisten. Rechtsbehelfe gegen Überstellungsentscheidungen und die Möglichkeit, die Durchführung dieser Entscheidungen auszusetzen, was die Aussetzung der Überstellungsfrist zur Folge hat, bestehen daher ausschließlich zugunsten dieser Person.

    43.

    Ich bin daher der Auffassung, dass die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung durch das Berufungsgericht auf Antrag der zuständigen Behörde des ersuchenden Mitgliedstaats den um internationalen Schutz nachsuchenden Personen keinen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet.

    44.

    Im Ausgangsverfahren hatten E. N., S. S. und J. Y. in der ersten Instanz die Nichtigerklärung der Überstellungsentscheidungen erwirkt, ohne die Aussetzung ihrer Durchführung beantragt zu haben.

    45.

    Hierzu sind zwei Bemerkungen zu machen.

    46.

    Was zum einen die Nichtigerklärung der Überstellungsentscheidungen betrifft, weise ich darauf hin, dass die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung untrennbar damit verbunden ist, dass ein Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung eingelegt wurde, ohne zwangsläufig automatisch zu erfolgen. Gerade weil eine Überstellungsentscheidung vorliegt, kann ihre Durchführung ausgesetzt werden, damit die internationalen Schutz beantragende Person diese Entscheidung in sachdienlicher Weise anfechten kann.

    47.

    Darüber hinaus kann jede Verzögerung bei der Berechnung der für die Durchführung der Überstellung vorgesehenen sechsmonatigen Frist nur durch das Interesse der betroffenen Person an der Klärung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung durch eine Justizbehörde gerechtfertigt werden ( 20 ).

    48.

    Da die Überstellungsentscheidungen von den erstinstanzlichen Gerichten für nichtig erklärt wurden, besteht für E. N., S. S. und J. Y. während des gesamten Berufungsverfahrens somit nicht mehr die Gefahr, in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt zu werden. Es besteht keine Gefahr, dass ihr Rechtsschutz beeinträchtigt wird, da sie im Hoheitsgebiet des ersuchenden Mitgliedstaats verbleiben und ihre Rechte vor dem Berufungsgericht wirksam verteidigen können.

    49.

    Was zum anderen die fehlende aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs betrifft, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass von Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung anerkannt hat, dass sich die Mitgliedstaaten dafür entscheiden können, dass die Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung als solche nicht genügt, um deren Durchführung auszusetzen, die deshalb erfolgen kann, ohne das Ergebnis des Rechtsbehelfs abzuwarten, sofern die Aussetzung nicht beantragt oder der Aussetzungsantrag zurückgewiesen worden ist ( 21 ).

    50.

    Den Ausführungen ihrer Rechtsbeistände in der mündlichen Verhandlung zufolge hatten E. N., J. Y. und S. S. in den erstinstanzlichen Verfahren über ihre Klagen gegen die gegen sie ergangenen Überstellungsentscheidungen keine aufschiebende Wirkung für diese Klagen beantragt ( 22 ).

    51.

    Insoweit lässt sich daraus ableiten, dass E. N., J. Y. und S. S. der zügigen Bearbeitung ihrer Anträge auf internationalen Schutz den Vorzug geben wollten und dass die in der Berufungsinstanz auf Initiative des Staatssecretaris beantragte Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidungen eher dem Interesse dieser Verwaltungsbehörde entspricht, diese in erster Instanz für nichtig erklärten Überstellungsentscheidungen aufrechtzuerhalten sowie deren Durchführung auszusetzen und damit die Berechnung der Überstellungsfrist hinauszuschieben.

    52.

    Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht nämlich hervor, dass mit den Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, die in der Berufungsinstanz und auf Initiative der zuständigen nationalen Behörde erlassen werden, im Wesentlichen verhindert werden soll, dass die Überstellungsfrist abläuft, bevor die Berufung geprüft wird. Diese Maßnahmen werden daher ausschließlich zugunsten dieser Behörde erlassen.

    53.

    Wie das Königreich der Niederlande in der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, sind die zuständigen nationalen Behörden jedoch durch nichts daran gehindert, eine Person, die internationalen Schutz beantragt, während des erstinstanzlichen Verfahrens an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sofern der von dieser Person in erster Instanz eingelegte Rechtsbehelf nicht mit Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes zur Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung verbunden ist ( 23 ).

    54.

    Es trifft zwar zu, dass ein solches Szenario den ersuchenden Mitgliedstaat dazu veranlassen könnte, eine internationalen Schutz beantragende Person in den Mitgliedstaat, der sich bereit erklärt hat, sie aufzunehmen oder wieder aufzunehmen, zu überstellen, auch wenn die Überstellungsentscheidung in der Folge von den zuständigen Gerichten des ersuchenden Mitgliedstaats für nichtig erklärt werden sollte.

    55.

    Art. 29 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung sieht in einem solchen Fall jedoch vor, dass „der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt hat, die Person unverzüglich wieder auf[nimmt]“ ( 24 ).

    56.

    Da sich der ersuchende Mitgliedstaat für die Anwendung von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung entschieden und die betreffende Person in erster Instanz nicht die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragt hat, besteht daher kein Hindernis für die Durchführung dieser Entscheidung, das die Notwendigkeit einer Aussetzung der Überstellungsfrist begründen würde.

    57.

    Daraus schließe ich, dass es für den ersuchenden Mitgliedstaat keinen Grund gibt, von der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung festgelegten Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt, zu dem der zuständige Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person stattgegeben hat, abzuweichen, wenn diese Person nicht in erster Instanz die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragt hat.

    58.

    Daher kann eine von den zuständigen nationalen Behörden eingelegte Berufung weder die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung, die nur die betreffende Person beantragen kann, noch die Aussetzung der Überstellungsfrist zur Folge haben.

    59.

    Anders verhielte es sich, wenn E. N., J. Y. und S. S. in erster Instanz die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung beantragt und erwirkt hätten. Im Fall einer Berufung mit aufschiebender Wirkung, was vom nationalen Gericht zu überprüfen ist, würde eine solche Aussetzungsentscheidung nämlich bis zur Entscheidung des Berufungsgerichts und bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs, unabhängig von der Anzahl der im nationalen Recht vorgesehenen Instanzen, aufrechterhalten. Nur in diesem Fall könnte die Überstellungsfrist zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnen, zu dem dem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung oder der Überprüfung dieser Entscheidung keine aufschiebende Wirkung mehr zukommt.

    60.

    Diese Auslegung wird durch Art. 27 Abs. 3 der Dublin‑III-Verordnung bestätigt, wonach eine internationalen Schutz beantragende Person die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung „bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung“ beantragen kann, sowie durch Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 dieser Verordnung, wonach die Überstellungsfrist ab der „endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung“ zu laufen beginnt, wenn die Durchführung der Überstellungsentscheidung gemäß Art. 27 Abs. 3 der Verordnung ausgesetzt wurde.

    61.

    In Anbetracht dessen schlage ich dem Gerichtshof vor, für Recht zu erkennen, dass es, wenn sich der ersuchende Mitgliedstaat dafür entschieden hat, Art. 27 Abs. 3 Buchst. c dieser Verordnung anzuwenden, und die um internationalen Schutz nachsuchende Person nicht beantragt hat, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nach dieser Bestimmung auszusetzen, dem Berufungsgericht nicht möglich ist, bei der Prüfung der Rechtssache allein auf Antrag der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats eine Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes zu treffen, die die Aussetzung der Überstellungsfrist bewirkt.

    V. Ergebnis

    62.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Raad van State (Staatsrat, Niederlande) wie folgt zu beantworten:

    Art. 27 Abs. 3 und Art. 29 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,

    sind dahin auszulegen, dass

    sie, wenn sich der ersuchende Mitgliedstaat dafür entschieden hat, Art. 27 Abs. 3 Buchst. c dieser Verordnung anzuwenden, und die um internationalen Schutz nachsuchende Person nicht beantragt hat, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nach dieser Bestimmung auszusetzen, dem entgegenstehen, dass das Berufungsgericht bei der Prüfung der Rechtssache allein auf Antrag der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats eine Maßnahme des vorläufigen Rechtsschutzes trifft, die die Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist bewirkt.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III‑Verordnung.

    ( 3 ) Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. 2004, L 261, S. 19).

    ( 4 ) Stb. 1992, Nr. 315.

    ( 5 ) S. S. hatte die Aussetzung der Durchführung der gegen ihn ergangenen Überstellungsentscheidung beantragt, diesen Antrag später jedoch zurückgenommen, so dass bei keiner Überstellungsentscheidung die Durchführung tatsächlich ausgesetzt wurde.

    ( 6 ) In dem Urteil in der Rechtssache betreffend S. S., der auch Beteiligter in der anhängigen Rechtssache C‑338/21 ist, stellte das erstinstanzliche Gericht fest, dass die dem Königreich der Niederlande für die Überstellung dieser Person zur Verfügung stehende Frist bereits abgelaufen sei.

    ( 7 ) C‑180/17, EU:C:2018:775.

    ( 8 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. a und b der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 9 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 10 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. a der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 11 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. b der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 12 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 13 ) Gemäß Art. 27 Abs. 3 Buchst. c der Dublin‑III-Verordnung.

    ( 14 ) Vgl. Urteil vom 13. November 2018, X und X (C‑47/17 und C‑48/17, EU:C:2018:900, Rn. 57).

    ( 15 ) Vgl. Urteil vom 13. November 2018, X und X (C‑47/17 und C‑48/17, EU:C:2018:900, Rn. 69).

    ( 16 ) Vgl. insoweit Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 57). Vgl. auch Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (KOM[2008] 820 endgültig), vorgelegt von der Kommission am 3. Dezember 2008, insbesondere Nr. 3, S. 5, 7 und 11.

    ( 17 ) Vgl. insoweit Urteil vom 31. Mai 2018, Hassan (C‑647/16, EU:C:2018:368, Rn. 57 und 58).

    ( 18 ) C‑19/08, EU:C:2009:41. Dieses Urteil betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1), die durch die Dublin‑III-Verordnung aufgehoben wurde (vgl. Art. 48 der letzteren Verordnung).

    ( 19 ) Vgl. Urteil vom 14. Januar 2021, The International Protection Appeals Tribunal u. a. (C‑322/19 und C‑385/19, EU:C:2021:11, Rn. 88 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 20 ) Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Pikamäe in den verbundenen Rechtssachen Bundesrepublik Deutschland (Behördliche Aussetzung der Überstellungsentscheidung) (C‑245/21 und C‑248/21, EU:C:2022:433, Nr. 58).

    ( 21 ) Vgl. Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 59).

    ( 22 ) Siehe Fn. 5 der vorliegenden Schlussanträge.

    ( 23 ) Mit Ausnahme von S. S., der auch Beteiligter in der anhängigen Rechtssache C‑338/21 ist. Ihm wurde nämlich im Rahmen eines Widerspruchs gegen die Entscheidung, mit der die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels nach Art. 8 der Richtlinie 2004/81 abgelehnt wurde, die Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung gewährt.

    ( 24 ) Obwohl ich mit Generalanwältin Sharpston in ihren Schlussanträgen in der Rechtssache Shiri (C‑201/16, EU:C:2017:579, Fn. 47) übereinstimme, dass diese Bestimmung als Ausnahme und nicht als Regel anzuwenden ist.

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