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Document 62021CC0472

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Szpunar vom 8. September 2022.
    Monz Handelsgesellschaft lnternational mbH & Co. KG gegen Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG.
    Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Muster – Richtlinie 98/71/EG – Art. 3 Abs. 3 und 4 – Voraussetzungen für die Erlangung des Schutzes für ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses – Begriffe ‚Sichtbarkeit‘ und ‚bestimmungsgemäße Verwendung‘ – Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses durch den Endbenutzer.
    Rechtssache C-472/21.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:656

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MACIEJ SZPUNAR

    vom 8. September 2022 ( 1 )

    Rechtssache C‑472/21

    Monz Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG

    gegen

    Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Eingetragenes Design – Richtlinie 98/71/EG – Art. 3 Abs. 3 und 4 – Schutzvoraussetzungen für ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses – Begriffe ‚Sichtbarkeit‘ und ‚bestimmungsgemäße Verwendung‘ – Neuheit und Eigenart – Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei bestimmungsgemäßer Verwendung dieses Erzeugnisses“

    Einleitung

    1.

    Die unionsrechtlichen Voraussetzungen für den Schutz eines Musters oder Modells (im Folgenden: Muster) sind dessen Neuheit und Eigenart. Komplizierter wird es jedoch, wenn das Erzeugnis, bei dem das fragliche Muster benutzt wird, Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist. In einem solchen Fall wird der Schutz nur dann gewährt, wenn zum einen dieses Bauelement nach seiner Einfügung bei der Verwendung des komplexen Erzeugnisses, dessen Bestandteil es ist, sichtbar bleibt und zum anderen seine sichtbaren Teile die erforderlichen Merkmale der Neuheit und Eigenart aufweisen. Diese zusätzlichen Voraussetzungen wurden eingeführt, um zu verhindern, dass Herstellung und Vertrieb von Ersatzteilen komplexer Erzeugnisse mittels des Musterrechts monopolisiert werden, und zwar insbesondere im Automobilsektor ( 2 ).

    2.

    Allerdings gelten die Voraussetzungen für den Schutz von Mustern, die bei Bauelementen komplexer Erzeugnisse benutzt werden, für alle Sektoren, und in der Praxis erweist es sich oft als schwierig, die Begriffe „Sichtbarkeit“ und „bestimmungsgemäße Verwendung“ des Erzeugnisses zutreffend auszulegen. Um diese Auslegung geht es in der vorliegenden Rechtssache.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3.

    Art. 1 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ( 3 ) lautet:

    „Im Sinne dieser Richtlinie

    a)

    ist ein ‚Muster oder Modell‘ (nachstehend ‚Muster‘ genannt) die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt;

    b)

    ist ein ‚Erzeugnis‘ jeder industrielle oder handwerkliche Gegenstand, einschließlich – unter anderem – von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen, Verpackung, Ausstattung, graphischen Symbolen und typographischen Schriftbildern; ein Computerprogramm gilt jedoch nicht als ‚Erzeugnis‘;

    c)

    ist ein ‚komplexes Erzeugnis‘ ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann.“

    4.

    In Art. 3 Abs. 3 und 4 dieser Richtlinie heißt es:

    „(3)   Das Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisse[s] ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt nur dann als neu und hat nur dann Eigenart,

    a)

    wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und

    b)

    soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen.

    (4)   ‚Bestimmungsgemäße Verwendung‘ im Sinne des Absatzes 3 Buchstabe a) bedeutet die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.“

    Deutsches Recht

    5.

    § 1 Nr. 4 und § 4 des Gesetzes über den rechtlichen Schutz von Design vom 24. Februar 2014 ( 4 ) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: DesignG) setzen Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 nahezu wortgleich um. Allerdings scheint der in der deutschen Sprachfassung dieser Richtlinie und dementsprechend auch im DesignG verwendete Ausdruck „bestimmungsgemäße Verwendung“ zu einer Auslegung zu führen, die enger ausfällt als die Auslegung, die durch andere Sprachfassungen dieser Richtlinie nahegelegt wird.

    Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    6.

    Die Monz Handelsgesellschaft International mbH & Co. KG (im Folgenden: Monz), eine Gesellschaft deutschen Rechts, ist Inhaberin des Designs Nr. 40 2011 004 383-0001, das seit dem 3. November 2011 beim Deutschen Patent- und Markenamt (im Folgenden: DPMA) für die Erzeugnisse „Sättel für Fahrräder oder Motorräder“ eingetragen ist. Das Design ist mit einer einzigen Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels wie folgt zeigt:

    Image

    7.

    Die Büchel GmbH & Co. Fahrzeugtechnik KG (im Folgenden: Büchel), ebenfalls eine Gesellschaft deutschen Rechts, beantragte am 27. Juli 2016 beim DPMA die Feststellung der Nichtigkeit des angegriffenen Designs und machte zur Begründung geltend, dass dieses Design die für die Erlangung von Schutz erforderlichen Voraussetzungen, nämlich Neuheit und Eigenart, nicht erfülle. Das Design sei nach § 4 DesignG vom Schutz ausgeschlossen, da es als Bauelement eines komplexen Erzeugnisses wie eines „Fahrrads“ oder eines „Motorrads“ bei bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.

    8.

    Mit Entscheidung vom 10. August 2018 wies das DPMA den Nichtigkeitsantrag zurück. Zur Begründung führte es aus, dass für das angegriffene Design kein Schutzausschlussgrund nach § 4 DesignG bestehe. Zwar sei das für „Sättel für Fahrräder [oder] Motorräder“ beanspruchte Design ein „Bauelement eines komplexen Erzeugnisses“, doch bleibe dieses Bauelement bei der bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar. Zur bestimmungsgemäßen Verwendung zähle auch „ein nicht der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur dienendes Ab- und Aufmontieren des Sattels“, zumal § 1 Nr. 4 DesignG „einen als Ausnahme gefassten und damit eng auszulegenden geschlossenen Katalog von nicht bestimmungsgemäßen Verwendungen im Sinne von § 4 DesignG“ enthalte ( 5 ). Danach sei „jede Verwendung durch den Endbenutzer, die keine Maßnahme zur Instandhaltung, Wartung oder Reparatur [darstelle …], somit eine bestimmungsgemäße Verwendung“.

    9.

    Auf eine gegen diese Entscheidung gerichtete Beschwerde von Büchel hin erklärte das Bundespatentgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 27. Februar 2020 das angegriffene Design für nichtig, da es nicht den Erfordernissen der Neuheit und der Eigenart genüge. Nach § 4 DesignG seien von vornherein nur solche Bauelemente einem Designschutz zugänglich, die „nach Einbau/Einfügung in das komplexe Erzeugnis als dessen Bestandteil sichtbar“ blieben. Hingegen könne eine erst durch oder bei Trennung des Bauelements von dem komplexen Erzeugnis sich eröffnende Sicht keine dem Schutzausschluss nach § 4 DesignG entgegenwirkende Sichtbarkeit begründen. Das Bundespatentgericht sah als bestimmungsgemäße Verwendung im Sinne von § 1 Nr. 4 DesignG nur das Fahren mit dem Fahrrad sowie das Auf- und Absteigen an. Im Rahmen dieser Verwendungen sei die Sattelunterseite weder für den Endbenutzer noch für einen Dritten sichtbar. Monz legte gegen diese Entscheidung Rechtsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein.

    10.

    Vor diesem Hintergrund hat der Bundesgerichtshof (Deutschland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann „sichtbar“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71, wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?

    2.

    Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:

    a)

    Kommt es für die Beurteilung der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer an?

    b)

    Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer „bestimmungsgemäß“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 ist?

    11.

    Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 2. August 2021 beim Gerichtshof eingegangen. Die Parteien des Ausgangsverfahrens und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

    Würdigung

    12.

    Wie bereits dargelegt, hat das erstinstanzliche Gericht des Ausgangsverfahrens das in Rede stehende Design für nichtig erklärt, weil es der Ansicht war, dass die bestimmungsgemäße Verwendung eines Fahrrads darin bestehe, mit diesem Fahrrad zu fahren sowie – im Zusammenhang hiermit – es zu besteigen und davon abzusteigen. Hierbei sei die Sattelunterseite normalerweise nicht sichtbar, was nicht dem Erfordernis entspreche, das in den deutschen Rechtsvorschriften zur Umsetzung von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 genannt werde.

    13.

    Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Beurteilung zu verstehen. Das vorlegende Gericht möchte erstens klären, ob das erstinstanzliche Gericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass es nur darauf ankommt, ob ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses in einer Situation der Verwendung eines solchen Erzeugnisses sichtbar ist (erste Frage), und zweitens, ob dieses Gericht zu Recht angenommen hat, dass nur die Verwendung dieses Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion, d. h. im vorliegenden Fall zum Zweck der Fortbewegung auf dem Fahrrad, relevant ist (zweite Frage).

    Zur ersten Vorlagefrage

    14.

    Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, bereits dann schutzfähig ist, wenn dieses Bauelement in abstracto sichtbar ist, oder ob das Bauelement in der Situation der bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar sein muss.

    15.

    Art. 3 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 98/71 verlangt auch, dass die sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Dieser Aspekt wird in den Vorlagefragen zwar nicht explizit angesprochen, aber stillschweigend vorausgesetzt. Im Ausgangsverfahren ist nämlich klar, dass es um die Sichtbarkeit der Unterseite eines Sattels geht, d. h. um die Sichtbarkeit der Stelle, an der das fragliche Muster verwendet wird. Im Übrigen begründen nach Art. 7 der Richtlinie 98/71 Muster, deren Erscheinungsform ausschließlich durch die technische Funktion bedingt ist, keine Rechte. Ein solcher Fall scheint hier jedoch nicht vorzuliegen. Jedenfalls ist in Bezug auf das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Muster offenbar kein derartiger Einwand erhoben worden.

    16.

    Zunächst ist dem vorlegenden Gericht darin beizupflichten, dass das erstinstanzliche Gericht die Sättel für Fahrräder und Motorräder zutreffend als „Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 eingestuft hat.

    17.

    Außerdem hat das erstinstanzliche Gericht die Entscheidung des DPMA zu Recht kritisiert, soweit das DPMA angenommen hatte, es reiche aus, dass die Unterseite eines Sattels bei dessen Auf- und Abmontieren an einem Fahrrad sichtbar sei. In Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71 heißt es nämlich eindeutig, dass das Bauelement, „das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist“, sichtbar bleiben muss. Damit ist ausgeschlossen, dass die Sichtbarkeit des Bauelements bei dessen Auf- oder Abmontieren Berücksichtigung findet, unabhängig davon, ob diese Handlungen im Rahmen der Verwendung eines Erzeugnisses üblich sind.

    18.

    Was nun die Vorlagefrage betrifft, ist der Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71 nicht so klar, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Wie Monz in ihren Erklärungen hervorhebt, verlangt diese Bestimmung nämlich, dass das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar „bleibt“ ( 6 ). Diese Formulierung könnte man so verstehen, dass es genügt, wenn das fragliche Bauelement nach seinem Einbau in das komplexe Erzeugnis nicht vollständig verdeckt ist, so dass es noch, wenn auch nur theoretisch, wahrgenommen werden kann, selbst wenn hierfür möglicherweise ein ungewöhnlicher Blickwinkel eingenommen werden muss. Dann wären vom Schutz nach der Richtlinie 98/71 nur Muster ausgeschlossen, die für Bauelemente verwendet werden, deren Sichtbarkeit von Maßnahmen abhängt, die nicht zur bestimmungsgemäßen Verwendung eines Erzeugnisses gehören, insbesondere dessen Zerlegung.

    19.

    Dieser Auslegung steht jedoch der Wortlaut des zweiten Teils von Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 98/71 entgegen, wonach das betreffende Bauelement „bei“ ( 7 ) der bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar sein muss. Wie sowohl das vorlegende Gericht als auch die Kommission meines Erachtens zu Recht ausführen, schließt dieser Ausdruck die Fälle aus, in denen das Bauelement nur in Situationen sichtbar ist, die bei bestimmungsgemäßer Verwendung des fraglichen Erzeugnisses nicht eintreten.

    20.

    Im Übrigen bezieht sich, wie die Kommission der Sache nach ausführt, gemäß Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/71 der durch diese Richtlinie gewährte Musterschutz auf die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses oder eines Teils davon. Auch wenn Einzelteile, die in ein komplexes Erzeugnis eingefügt werden sollen, gemäß Art. 1 Buchst. b dieser Richtlinie selbst Erzeugnisse darstellen, genießen sie nur dann Schutz, wenn sie nach dieser Einfügung sichtbar sind. Gegenstand des Schutzes ist also die Erscheinungsform des Bauelements im komplexen Erzeugnis. Es erscheint mir aber schwierig, von der Erscheinungsform eines Erzeugnisses zu sprechen, wenn dieses Erzeugnis nach seiner Einfügung in ein komplexes Erzeugnis, auch wenn es nicht vollkommen blickdicht verdeckt ist, nur in Situationen sichtbar ist, die in Anbetracht der bestimmungsgemäßen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses selten und ungewöhnlich sind.

    21.

    Aufgrund dieser Erwägungen schlage ich vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann nach dieser Richtlinie schutzfähig ist, wenn das fragliche Bauelement in der Situation der bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar ist.

    22.

    Folglich kommt es in der vorliegenden Rechtssache entscheidend auf die Auslegung des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 an, die Gegenstand der zweiten Vorlagefrage ist.

    Zur zweiten Vorlagefrage

    23.

    Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass sich der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ ausschließlich auf die Verwendung des komplexen Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion ( 8 ) bezieht oder dass er alle Situationen erfasst, die bei der Verwendung eines solchen Erzeugnisses durch den Endbenutzer vernünftigerweise erwartet werden können ( 9 ).

    24.

    Diese Frage knüpft an die Feststellungen des erstinstanzlichen Gerichts an, das es als „bestimmungsgemäße Verwendung“ angesehen hat, mit einem Fahrrad zu fahren sowie – im Zusammenhang hiermit – es zu besteigen und davon abzusteigen. Das Gericht war der Auffassung, die Unterseite des Fahrradsattels sei in diesen Situationen nicht sichtbar, so dass ein an dieser Stelle verwendetes Muster nicht im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 bei bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar sei.

    25.

    Tatsächlich ist ein solcher, ja sogar noch strengerer Ansatz vom Gericht in seinen – übrigens wenig zahlreichen – Urteilen zur Auslegung von Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 ( 10 ) verfolgt worden; diese Vorschrift ist im Unionssystem des Geschmacksmusterschutzes das Pendant zu Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71. Das Gericht geht davon aus, dass bei der Beurteilung der Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses allein auf die Perspektive des Endbenutzers dieses komplexen Erzeugnisses bei dessen Verwendung gemäß seiner Hauptfunktion abzustellen sei ( 11 ).

    26.

    Auf Fahrradsättel übertragen, würde ein solcher Ansatz zu dem unerwünschten Ergebnis führen, dass kein einziges bei einem Sattel verwendetes Muster Schutz genießen könnte, weil der Sattel bei der Hauptnutzungsart eines Fahrrads, d. h. bei seinem Fahren, vollständig durch den zum Sitzen dienenden Körperteil des Benutzers verdeckt ist, mit Ausnahme der Sattelunterseite, die aber ohnehin unsichtbar bleibt.

    27.

    Dieses Ergebnisses gewahr, hat das erstinstanzliche Gericht des Ausgangsverfahrens das Besteigen eines Fahrrads und das Absteigen davon in den Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ einbezogen. Davon ausgenommen hat es hingegen u. a. die Aufbewahrung und den Transport des Fahrrads als dessen Verwendung vor- oder nachgelagerte Handlungen. Dies überzeugt nicht, denn wenn man als „bestimmungsgemäße Verwendung“ eines Fahrrads nur das Fahren desselben ansieht, ist das Auf- und Absteigen in gleicher Weise wie die Aufbewahrung und der Transport ebenfalls eine vor- oder nachgelagerte Handlung. Die Differenzierung zwischen diesen Handlungen erscheint mir daher willkürlich.

    28.

    Mir scheint jedoch, dass dieser Ansatz zu einer allzu verengten Definition der „bestimmungsgemäßen Verwendung“ im Sinne von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 führt, indem der Schutz von Mustern, die bei Bauelementen komplexer Erzeugnisse benutzt werden, ungerechtfertigt beschränkt wird.

    29.

    Es ist allgemein anerkannt, dass der Sinn und Zweck der spezifischen unionsrechtlichen Regelung über den Schutz von Mustern für Bauelemente komplexer Erzeugnisse in dem Bestreben liegt, zu verhindern, dass der Ersatzteilmarkt mittels des Musterrechts monopolisiert wird. Diese Regelung ist allerdings im Schrifttum stark kritisiert worden ( 12 ), da sie den Schutz, der den für Bauelemente komplexer Erzeugnisse verwendeten Mustern gewährt werde, im Vergleich zu dem Schutz von Mustern, die für andere Erzeugnisse verwendet würden, ungerechtfertigt beschränke.

    30.

    Diese Kritik ist nicht ganz unberechtigt. Muster, die für Erzeugnisse verwendet werden, die nicht dazu bestimmt sind, in komplexe Erzeugnisse eingefügt zu werden, werden geschützt, ungeachtet dessen, ob sie „bei bestimmungsgemäßer Verwendung“ sichtbar sind oder nicht. Da das Muster als die Erscheinungsform eines ganzen Erzeugnisses „oder eines Teils davon“ definiert ist ( 13 ), können Muster geschützt werden, die für Teile von Erzeugnissen verwendet werden, die bei der Verwendung des Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion nicht sichtbar sind, wie dies etwa bei Schuhsohlen oder beim Futter einer Jacke der Fall ist ( 14 ).

    31.

    Gewiss stellt die Monopolisierung des Marktes eines Erzeugnisses mittels der durch Muster vermittelten Rechte einen Missbrauch dar, dem so weit wie möglich vorgebeugt werden muss. Dies lässt sich insbesondere durch die Voraussetzungen der Neuheit und der Eigenart erreichen, die ein Muster gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 98/71 erfüllen muss. Hingegen ist Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie meiner Ansicht nach so auszulegen, dass der Musterschutz für Ersatzteile nicht übermäßig beschränkt wird. In welchem Ausmaß sich eine solche Beschränkung aus dieser Bestimmung ergibt, hängt weitgehend von der Auslegung des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ ab.

    32.

    Nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 bedeutet „bestimmungsgemäße Verwendung“ die Verwendung durch den Endbenutzer, ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Dies setzt selbstverständlich vor allem eine Verwendung voraus. Das Zerlegen oder Zerstören eines Erzeugnisses stellt aber keine Verwendung des Erzeugnisses dar. Unter diesem Vorbehalt sind die nachfolgenden Ausführungen zu lesen.

    33.

    Erstens ist es, auch wenn sich die oben wiedergegebene, knapp gehaltene Definition auf den Endbenutzer bezieht, meines Erachtens irrig, daraus – wie es das Gericht in den in Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Urteilen getan hat – zu schließen, dass die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses allein aus der Sicht des Endbenutzers dieses Erzeugnisses zu beurteilen ist. Die Verwendung „durch den Endbenutzer“ beschreibt nur die Situationen, in denen diese Sichtbarkeit zu beurteilen ist, und schließt dabei diejenigen Situationen aus, die keinen Bezug zum Endbenutzer aufweisen, wie die Herstellung, die Vermarktung und gegebenenfalls die Zerstörung oder das Recycling nach Ablauf der Lebensdauer des Erzeugnisses. Nach demselben Grundgedanken nimmt Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur ausdrücklich vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ aus; hierbei handelt es sich um Maßnahmen, die im Zeitraum der Verwendung eines Erzeugnisses zwar von dessen Endbenutzer getroffen, aber oft von Dritten vorgenommen werden.

    34.

    Folglich verlangt Art. 3 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 zwar, dass das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses bei dessen Verwendung durch seinen Endbenutzer sichtbar ist, doch kann diese Bestimmung nicht so verstanden werden, dass sie verlangt, dass das Bauelement für den Endbenutzer sichtbar ist. Die Sichtbarkeit für Drittbeobachter ist ebenfalls zu berücksichtigen. Soweit das Design dazu bestimmt ist, Käufer für Waren anzuziehen, umfasst dies auch seine Fähigkeit, diese Käufer in die Lage zu versetzen, andere Personen zu beeindrucken ( 15 ).

    35.

    Wenn es auf die Perspektive des Endbenutzers ankäme, müsste im Übrigen genau bestimmt werden, wer dieser Endbenutzer überhaupt ist. Bei einem Erzeugnis wie einem Fahrrad mag dies noch relativ leichtfallen, aber in anderen Fällen könnte es sich als deutlich schwieriger erweisen. Wer ist beispielsweise der Endbenutzer eines Autobusses: der Fahrer, die Fahrgäste, das Personal des Transportunternehmens, das den Autobus betreibt? All diese Personen haben eine unterschiedliche Perspektive, und für sie können unterschiedliche Teile des Autobusses sichtbar sein, insbesondere bei der Verwendung dieses Autobusses gemäß seiner Hauptfunktion, d. h. während der Fahrt.

    36.

    Auch darf der „Endbenutzer“ eines komplexen Erzeugnisses, um den es in Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 geht, nicht mit dem „informierten Benutzer“ verwechselt werden, von dem in Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie die Rede ist ( 16 ). Letzterer Begriff bezieht sich auf die fiktive Person, die bei der Beurteilung der Eigenart eines Musters als Maßstab dient, während es sich beim „Endbenutzer“ nur um eine hypothetische Figur handelt, für die das komplexe Erzeugnis, das ein unter Verwendung eines Musters hergestelltes Bauelement enthält, bestimmt ist. Ob dieser Endbenutzer in der Lage ist, die Eigenart des fraglichen Musters zu erkennen, und ob es sich daher um einen informierten Benutzer handelt, spielt hier keine Rolle.

    37.

    Schließlich impliziert die Berücksichtigung allein der Perspektive des Endbenutzers logischerweise, dass der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ so verstanden wird, dass er nur die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion umfasst. In anderen Situationen der Verwendung eines Erzeugnisses hat der Benutzer nämlich keinen anderen Blick als Dritte. Wie ich mit den nachfolgenden Erwägungen darlegen werde, ist eine solche enge Auslegung des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ jedoch ebenso ungerechtfertigt wie das Abstellen allein auf die Perspektive des Endbenutzers.

    38.

    Ich meine nämlich – zweitens –, dass es, wie auch die Kommission ausführt, falsch ist, die bestimmungsgemäße Verwendung eines Erzeugnisses mit der Hauptfunktion gleichzusetzen, für die dieses Erzeugnis bestimmt ist. In der Praxis erfordert die Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion oft verschiedene Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa die Aufbewahrung oder den Transport des Erzeugnisses. Handelt es sich bei dem Erzeugnis um ein Transportmittel, kommen die Handlungen des Ein- und Aussteigens, aber auch des Ein- und Ausladens von Gepäck oder Waren hinzu.

    39.

    Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 gebietet in keiner Weise, solche Handlungen vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ auszunehmen. Die in dieser Vorschrift enthaltene Definition dieses Begriffs beschränkt sich vielmehr auf die Erwähnung der „Verwendung durch den Endbenutzer“. Es besteht keine Veranlassung, ein zusätzliches Merkmal der Verwendung zu suchen, um sie als „bestimmungsgemäß“ einzustufen. Folglich müssen alle Handlungen, die der Endbenutzer eines Erzeugnisses im Rahmen seiner Verwendung des Erzeugnisses vornehmen kann, unter den Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ fallen, mit Ausnahme derjenigen, die davon ausdrücklich ausgenommen sind ( 17 ).

    40.

    Auch das Ziel von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 spricht nicht dafür, dass vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ andere Handlungen als diejenigen, die sich auf die Hauptfunktion des Erzeugnisses beziehen, auszunehmen sind. Dieses Ziel besteht darin, eine durch den Musterschutz eintretende Monopolisierung des Marktes für Ersatzteile, die nach ihrer Einfügung in das komplexe Erzeugnis unsichtbar sind, zu verhindern, da ein gegebenenfalls bei einem Ersatzteil verwendetes Muster nicht oder nur in sehr geringem Maße zur Erscheinungsform dieses komplexen Erzeugnisses beiträgt. Die Erscheinungsform eines Erzeugnisses tritt aber nicht nur bei dessen Verwendung gemäß seiner Hauptfunktion zutage, sondern auch, wenn Handlungen vollzogen werden, die dieser Verwendung vor- oder nachgelagert sind und mit ihr zusammenhängen. Die Einbeziehung dieser Handlungen in den Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ gefährdet also nicht das Ziel, die Monopolisierung des Marktes zu verhindern.

    41.

    Drittens und letztens nimmt Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 zwar Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur ausdrücklich vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ aus, doch darf diese Ausnahme meines Erachtens nicht zu weit ausgelegt werden. Bestimmte Handlungen, die u. a. der Instandhaltung zuzuordnen sind, gehören von Natur aus zur Verwendung bestimmter Erzeugnisse. Ich denke hier in erster Linie an das Waschen und die Reinigung. Meines Erachtens wäre es vollkommen unlogisch, Waschen und Reinigung vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ auszunehmen, insbesondere, weil bei einigen Erzeugnissen die regelmäßige Reinigung eine Voraussetzung für ihre Verwendung ist ( 18 ). Als Zweites folgen Handlungen der laufenden Instandhaltung, die normalerweise vom Endbenutzer eines Erzeugnisses vorgenommen werden und oft auch eine Voraussetzung für dessen Verwendung sind, wie etwa der Austausch von Betriebsstoffen und -flüssigkeiten, das Aufpumpen von Fahrzeugreifen oder das Befüllen des Treibstofftanks von Erzeugnissen, die mit einem Verbrennungsmotor ausgestattet sind. Als Drittes und Letztes folgt die Behebung kleinerer Störungen, z. B. eines Papierstaus in einem Drucker. All diese Handlungen sind im Rahmen der Verwendung eines Erzeugnisses durch den Endbenutzer unerlässlich und müssen daher unter den Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ fallen.

    42.

    Von diesem Begriff ausgenommen sind hingegen Handlungen, die zusätzlich zur Verwendung des Erzeugnisses vorgenommen werden, wie die technische Überprüfung, die periodische Wartung oder die Reparatur im eigentlichen Sinne ( 19 ). Zum einen werden diese Handlungen üblicherweise nicht vom Endbenutzer des Erzeugnisses, sondern von Fachleuten vorgenommen, zum anderen können sie bedingen, dass ein komplexes Erzeugnis teilweise auseinandergebaut oder aus einem unüblichen Blickwinkel betrachtet wird und dabei Teile zum Vorschein kommen, die bei der Verwendung des Erzeugnisses normalerweise unsichtbar bleiben. Diese beiden Besonderheiten rechtfertigen es, diese Handlungen vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ auszunehmen.

    43.

    Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses sichtbar ist, können dadurch, dass man nicht nur die Perspektive des Endbenutzers dieses komplexen Erzeugnisses, sondern auch diejenige anderer Personen zulässt und in den Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ andere Handlungen als die bloße Verwendung eines Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion einbezieht, Perspektiven berücksichtigt werden, die für die Offenbarung der Erscheinungsform eines Erzeugnisses ebenso relevant sind wie die Perspektive, die der Benutzer bei der Verwendung des Erzeugnisses gemäß seiner Hauptfunktion innehat. Meiner Ansicht nach lässt sich dieses Ergebnis nicht nur mit dem Wortlaut und dem Zweck von Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71 vereinbaren, sondern es ist auch voll und ganz gerechtfertigt. Wenn ein an der Unterseite einer Schuhsohle verwendetes Muster nach dieser Richtlinie schutzfähig ist ( 20 ), sehe ich nicht, warum ein Muster, das wie im vorliegenden Fall an der Unterseite eines Fahrradsattels verwendet wird, dies nicht sein könnte. Der einzige Grund, der diesen Unterschied rechtfertigen könnte, besteht darin, dass der Sattel vom Fahrrad abmontiert werden kann ( 21 ), während sich die Sohle nicht (so leicht) vom Schuh abtrennen lässt.

    44.

    Es trifft zu, dass eine solche weite Auslegung des Begriffs „bestimmungsgemäße Verwendung“ fast alle Fälle der Verwendung eines Erzeugnisses erfasst, mit Ausnahme derjenigen, in denen das Erzeugnis zerlegt wird, wenn dies nicht zur bestimmungsgemäßen Verwendung gehört. Man könnte sich daher fragen, ob es nicht einfacher wäre, die erste Vorlagefrage dahin gehend zu beantworten, dass die Sichtbarkeit des Bauelements, bei dem ein Muster verwendet wird, abstrakt zu beurteilen ist, ohne Zusammenhang mit irgendeinem konkreten Fall der Verwendung des fraglichen komplexen Erzeugnisses.

    45.

    Ich gebe zu, dass der Unterschied vor allem auf Konzeptebene liegt. Gleichwohl hat er praktische Konsequenzen, da sich je nach Auslegung die Beweislast ändert, die der Person obliegt, die Schutz für ein bei einem Bauelement eines komplexen Erzeugnisses verwendetes Muster begehrt. Im Übrigen ist es möglich, dass ein Bauelement eines komplexen Erzeugnisses, auch wenn es mangels Verdeckung theoretisch sichtbar ist, in keiner einzigen Situation der bestimmungsgemäßen Verwendung dieses Erzeugnisses zu sehen ist ( 22 ). Zudem stünde der in der vorstehenden Nummer genannten Auslegung, wie ich im Rahmen der Prüfung der ersten Vorlagefrage ausgeführt habe, der Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 entgegen.

    46.

    Ich schlage daher vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ alle Situationen erfasst, die bei der Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer vernünftigerweise erwartet werden können.

    Ergebnis

    47.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bundesgerichtshof (Deutschland) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

    1.

    Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Oktober 1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen

    ist dahin auszulegen, dass

    ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann nach dieser Richtlinie schutzfähig ist, wenn das fragliche Bauelement in der Situation der bestimmungsgemäßen Verwendung des komplexen Erzeugnisses sichtbar ist.

    2.

    Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71

    ist dahin auszulegen, dass

    der Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ alle Situationen erfasst, die bei der Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den Endbenutzer vernünftigerweise erwartet werden können.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) Charakteristisch für den Automobilsektor sind zum einen die hohen Preise für Ersatzteile und zum anderen eine relativ hohe Zahl von Schadensfällen durch Verkehrsunfälle. Daher ist der Ersatzteilmarkt in diesem Sektor besonders lukrativ.

    ( 3 ) ABl. 1998, L 289, S. 28.

    ( 4 ) BGBl. I S. 122.

    ( 5 ) Es handelt sich um Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur, die nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 98/71 vom Begriff „bestimmungsgemäße Verwendung“ ausgenommen sind.

    ( 6 ) Gleiches gilt u. a. für die spanische („sigue siendo“), die französische („reste“), die englische („remains“), die italienische („rimane“) und die polnische („pozostaje“) Sprachfassung.

    ( 7 ) So auch u. a. in der spanischen („durante“), der französischen („lors“), der englischen („during“), der italienischen („durante) und der polnischen („podczas“) Sprachfassung.

    ( 8 ) In diesem Sinne verstehe ich anhand der Erläuterungen im Vorabentscheidungsersuchen den Ausdruck „vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierte[r] Verwendungszweck“, den das vorlegende Gericht in der zweiten Vorlagefrage verwendet.

    ( 9 ) „Übliche Verwendung“ nach der Formulierung der zweiten Vorlagefrage.

    ( 10 ) Verordnung des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).

    ( 11 ) Vgl. Urteile vom 9. September 2011, Kwang Yang Motor/HABM – Honda Giken Kogyo (Verbrennungsmotor) (T‑10/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:446, Rn. 21 und 22) und Kwang Yang Motor/HABM – Honda Giken Kogyo (Verbrennungsmotor) (T‑11/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2011:447, Rn. 21 und 22), sowie vom 14. März 2017, Wessel-Werk/EUIPO – Wolf PVG (Saugdüsen für Staubsauger) (T‑174/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:161, Rn. 30) und Wessel-Werk/EUIPO – Wolf PVG (Saugdüsen für Staubsauger) (T‑175/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:160, Rn. 30).

    ( 12 ) Vgl. Hasselblatt, G. N., in Hasselblatt, G. N. (Hrsg.), Community Design Regulation (EC) No 6/2002. A Commentary, C. H. Beck, München 2015, S. 62 und die dort angeführte Literatur.

    ( 13 ) Art. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/71.

    ( 14 ) Da diese Teile nicht abtrennbar sind, gelten sie nicht als Bauelemente komplexer Erzeugnisse im Sinne von Art. 1 Buchst. c der Richtlinie 98/71.

    ( 15 ) Zu „protzen“, um den umgangssprachlichen Ausdruck aufzugreifen.

    ( 16 ) Diesen Fehler scheint das Gericht in seinen Urteilen vom 14. März 2017, Wessel-Werk/EUIPO – Wolf PVG (Saugdüsen für Staubsauger) (T‑174/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:161, Rn. 30), und Wessel-Werk/EUIPO – Wolf PVG (Saugdüsen für Staubsauger) (T‑175/16, nicht veröffentlicht, EU:T:2017:160, Rn. 30), begangen zu haben, als es sich auf die „bestimmungsgemäße Verwendung eines Staubsaugers oder einer Staubsaugerdüse zu Reinigungszwecken durch einen informierten Endbenutzer im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 der Verordnung Nr. 6/2002“ bezog.

    ( 17 ) Nämlich Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.

    ( 18 ) So etwa bei einem Rasenmäher oder einer Kaffeemaschine, um nur zwei Beispiele zu nennen.

    ( 19 ) Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Benutzung von Mustern bei Ersatzteilen, die zur Reparatur von komplexen Erzeugnissen verwendet werden, Gegenstand einer Sonderregelung, der sogenannten „Reparaturklausel“, ist, die in Art. 14 der Richtlinie 98/71 enthalten ist; eine entsprechende Klausel findet sich auch in Art. 110 der Verordnung Nr. 6/2002.

    ( 20 ) Vgl. z. B. die vom Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) unter den Nrn. 001918400-0001 und 008434088-0003 eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmuster.

    ( 21 ) Dieser Umstand löst das in Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 98/71 genannte Erfordernis der Sichtbarkeit aus.

    ( 22 ) Ich denke insbesondere an die Unterseite des Fahrgestells eines Kraftfahrzeugs, die man nur erblicken kann, wenn man eine Perspektive einnimmt, die bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung unüblich ist.

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