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Document 62021CC0199

Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 2. Juni 2022.


ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:436

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 2. Juni 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑199/21

DN

gegen

Finanzamt Österreich

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzgerichts [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Verordnung (EG) Nr. 987/2009 – Art. 60 Abs. 1 Satz 3 – Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Gewährung von Familienleistungen an den Elternteil vorsehen, der das Kind aufgenommen hat – Keine Geltendmachung des Anspruchs durch den Elternteil, der berechtigt ist, diesen Anspruch zu erheben – Pflicht zur Berücksichtigung des Antrags des anderen Elternteils – Bedeutung dieser Verpflichtung hinsichtlich der Rückforderung von Familienleistungen, die dem anderen Elternteil gewährt wurden“

I. Einführung

1.

In der vorliegenden Rechtssache wird der Gerichtshof vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit einem Vorabentscheidungsersuchen befasst, das u. a. die Auslegung der Bestimmungen betrifft, die zur Anwendung der Art. 67 und 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ( 2 ) in der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ( 3 )vorgesehen sind.

2.

Insbesondere wird der Gerichtshof mit der vierten und der fünften Frage, auf die sich die vorliegenden Schlussanträge konzentrieren, ersucht, Sinn und Tragweite von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 zu präzisieren, wonach der zuständige Träger, wenn die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, den Antrag einer der in dieser Bestimmung genannten Personen berücksichtigen muss.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Unionsrecht

1. Verordnung Nr. 883/2004

3.

Art. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:

i)

‚Familienangehöriger‘:

3.

wird nach den gemäß Nummern 1 und 2 anzuwendenden Rechtsvorschriften eine Person nur dann als Familien- oder Haushaltsangehöriger angesehen, wenn sie mit dem Versicherten oder dem Rentner in häuslicher Gemeinschaft lebt, so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von dem Versicherten oder dem Rentner bestritten wird;

q)

‚zuständiger Träger‘:

i)

den Träger, bei dem die betreffende Person zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Leistungen versichert ist,

s)

‚zuständiger Mitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat;

z)

‚Familienleistungen‘ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I.“

4.

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Diese Verordnung gilt für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen.“

5.

Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„(1)   Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

j) Familienleistungen.

…“

6.

Art. 7 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

„Sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, dürfen Geldleistungen, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten oder nach dieser Verordnung zu zahlen sind, nicht aufgrund der Tatsache gekürzt, geändert, zum Ruhen gebracht, entzogen oder beschlagnahmt werden, dass der Berechtigte oder seine Familienangehörigen in einem anderen als dem Mitgliedstaat wohnt bzw. wohnen, in dem der zur Zahlung verpflichtete Träger seinen Sitz hat.“

7.

Art. 67 („Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen“) in Kapitel 8, Titel III der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:

„Eine Person hat auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Ein Rentner hat jedoch Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des für die Rentengewährung zuständigen Mitgliedstaats.“

8.

Art. 68 („Prioritätsregeln bei Zusammentreffen von Ansprüchen“) in ebendiesem Kapitel 8 der Verordnung Nr. 883/2004 sieht vor:

„(1)   Sind für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren, so gelten folgende Prioritätsregeln:

a)

Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt folgende Rangfolge: [A]n erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche.

b)

Sind Leistungen von mehreren Mitgliedstaaten aus denselben Gründen zu gewähren, so richtet sich die Rangfolge nach den folgenden subsidiären Kriterien:

ii)

bei Ansprüchen, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden: der Wohnort der Kinder, unter der Voraussetzung, dass nach diesen Rechtsvorschriften eine Rente geschuldet wird, und subsidiär gegebenenfalls die längste Dauer der nach den widerstreitenden Rechtsvorschriften zurückgelegten Versicherungs- oder Wohnzeiten;

(2)   Bei Zusammentreffen von Ansprüchen werden die Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften gewährt, die nach Absatz 1 Vorrang haben. Ansprüche auf Familienleistungen nach anderen widerstreitenden Rechtsvorschriften werden bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt; erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren. Ein derartiger Unterschiedsbetrag muss jedoch nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird.

…“

9.

Art. 68a ( 4 ) („Gewährung von Leistungen“) der Verordnung Nr. 883/2004, der ebenfalls zu Kapitel 8 gehört, bestimmt:

„Verwendet die Person, der die Familienleistungen zu gewähren sind, diese nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen, zahlt der zuständige Träger auf Antrag des Trägers im Mitgliedstaat des Wohnorts der Familienangehörigen, des von der zuständigen Behörde im Mitgliedstaat ihres Wohnorts hierfür bezeichneten Trägers oder der von dieser Behörde hierfür bestimmten Stelle die Familienleistungen mit befreiender Wirkung über diesen Träger bzw. über diese Stelle an die natürliche oder juristische Person, die tatsächlich für die Familienangehörigen sorgt.“

2. Verordnung Nr. 987/2009

10.

Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 lautet:

„Die Familienleistungen werden bei dem zuständigen Träger beantragt. Bei der Anwendung von Artikel 67 und 68 der [Verordnung Nr. 883/2004] ist, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr, berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt, gestellt wird.“

B.   Österreichisches Recht

11.

§ 2 des Bundesgesetzes vom 24. Oktober 1967 betreffend den Familienlastenausgleich durch Beihilfen (BGBl. 376/1967, im Folgenden: FLAG) in der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Fassung bestimmt:

„(1)   Anspruch auf Familienbeihilfe haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben,

b)

für volljährige Kinder, die das 24. Lebensjahr noch nicht vollendet haben und die für einen Beruf ausgebildet. … werden

(2)   Anspruch auf Familienbeihilfe für ein im Abs. 1 genanntes Kind hat die Person, zu deren Haushalt das Kind gehört. Eine Person, zu deren Haushalt das Kind nicht gehört, die jedoch die Unterhaltskosten für das Kind überwiegend trägt, hat dann Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn keine andere Person nach dem ersten Satz anspruchsberechtigt ist.

(3)   Im Sinne dieses Abschnittes sind Kinder einer Person

a)

deren Nachkommen,

(5)   Zum Haushalt einer Person gehört ein Kind dann, wenn es bei einheitlicher Wirtschaftsführung eine Wohnung mit dieser Person teilt. Die Haushaltszugehörigkeit gilt nicht als aufgehoben, wenn

a)

sich das Kind nur vorübergehend außerhalb der gemeinsamen Wohnung aufhält,

…“

12.

§ 26 Abs. 1 FLAG bestimmt:

„Wer Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen hat, hat die entsprechenden Beträge zurückzuzahlen.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13.

DN, der in Polen geboren wurde, ist seit 2001 österreichischer Staatsangehöriger und wohnt seither auch in Österreich. Bis 2011 war er mit einer polnischen Staatsangehörigen verheiratet. Dieser Ehe entstammt eine 1991 geborene Tochter, die ebenfalls polnische Staatsangehörige ist.

14.

Seit 2011 bezieht DN von den zuständigen polnischen und österreichischen Trägern eine Altersrente in Form von Frührenten. Diese wird auf der Grundlage von Versicherungszeiten berechnet, die zunächst in Polen und später in Österreich erworben wurden.

15.

Zwischen Januar und August 2013 gewährte die österreichische Finanzverwaltung DN, wie von ihm beantragt, Familienbeihilfe in Form von Ausgleichszahlungsbeträgen und Absetzbeträgen für seine Tochter. DN ließ diese Leistungen seiner Tochter zukommen, die in Polen studierte. Die geschiedene Ehefrau von DN stellte keinen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen.

16.

In diesem Zeitraum wurden in Polen keine Familienleistungen gewährt, da das Einkommen von DN die Einkommensobergrenze überstieg, die gemäß polnischem Recht für die Gewährung solcher Leistungen besteht.

17.

Mit Bescheid vom 12. November 2014 forderte die österreichische Finanzverwaltung die DN gewährten Ausgleichszahlungsbeträge und Absetzbeträge zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass Österreich aufgrund des Bezugs einer Frührente aus Polen und aufgrund des Umstands, dass die Tochter von DN in Polen wohnhaft sei, gemäß den Prioritätsregeln nach Art. 68 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 nur subsidiär für die Gewährung von Familienleistungen zuständig sei. Als alternativen Rückforderungsgrund führte die Finanzverwaltung außerdem an, dass gemäß § 2 Abs. 2 FLAG nur die Mutter, die mit ihrer Tochter in Polen wohne, Anspruch auf die österreichische Familienbeihilfe habe. Daraus folge, dass diese Leistungen nach § 26 Abs. 1 FLAG vom Vater auch dann zurückzufordern seien, wenn sie aufgrund des bereits abgelaufenen Rückwirkungszeitraums der Mutter, die diese Leistungen hätte beantragen müssen, nicht mehr gewährt werden könnten.

18.

DN erhob beim Bundesfinanzgericht Beschwerde gegen diesen Bescheid und machte geltend, dass Österreich ihm nach Art. 68 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit den maßgeblichen Bestimmungen des FLAG Familienleistungen zu gewähren habe.

19.

Vor diesem Hintergrund hat das Bundesfinanzgericht am 19. März 2021 beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist die Wortfolge „für die Rentengewährung zuständige[r] Mitgliedstaat“ im zweiten Satz des Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin gehend auszulegen, dass damit jener Mitgliedstaat gemeint ist, der zuvor als Beschäftigungsstaat für die Familienleistungen zuständig war und der nunmehr zu Leistung der Altersrente, deren Anspruch auf der auf seinem Hoheitsgebiet vorangegangenen Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit beruht, verpflichtet ist?

2.

Ist die Wortfolge des Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 883/2004, „Ansprüche, die durch den Bezug einer Rente ausgelöst werden“, dahin gehend auszulegen, dass ein Familienleistungsanspruch dann als durch den Bezug einer Rente ausgelöst anzusehen ist, wenn erstens die unionsrechtlichen oder mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften für den Anspruch auf Familienleistung den Bezug einer Rente als Tatbestandsmerkmal vorsehen und zweitens darüber hinaus das Tatbestandsmerkmal des Rentenbezugs auf der Tatsachenebene tatsächlich erfüllt wird, so dass ein „schlichter Rentenbezug“ dem Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. ii der Verordnung Nr. 883/2004 nicht unterfällt und der betroffene Mitgliedstaat aus unionsrechtlicher Sicht nicht als „Rentenstaat“ anzusehen ist?

3.

Wenn für die Auslegung des Begriffs „Rentenstaat“ der schlichte Rentenbezug ausreicht:

Ist im Fall des Bezugs einer Altersrente, deren Anspruch im Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnungen sowie davor durch Ausübung einer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat in einem Zeitraum, als entweder der Wohnortstaat allein oder beide Staaten noch nicht Mitgliedstaaten der Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums waren, die Wortfolge „erforderlichenfalls ist ein Unterschiedsbetrag in Höhe des darüber hinausgehenden Betrags der Leistungen zu gewähren“ in Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der Verordnung Nr. 883/2004 im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 12. Juni 1980, Laterza (733/79, EU:C:1980:156), so zu verstehen, dass durch das Unionsrecht auch bei Rentenbezug die Familienleistung im höchstmöglichen Ausmaß garantiert wird?

4.

Ist Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin gehend auszulegen, dass er § 2 Abs. 5 FLAG 1967, dem zufolge im Fall der Scheidung der Anspruch auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag so lange dem haushaltsführenden Elternteil zusteht, wie das volljährige und studierende Kind dessen Haushalt zugehört, der jedoch weder im Wohnortstaat noch im Rentenstaat einen Antrag gestellt hat, entgegensteht, so dass der andere Elternteil, der als Rentner in Österreich wohnt und die ausschließliche Geldunterhaltslast für das Kind tatsächlich trägt, den Anspruch auf die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag beim Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anzuwenden sind, unmittelbar auf Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 stützen kann?

5.

Ist Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 ferner dahin gehend auszulegen, dass es für die Begründung der Parteistellung des Unionsarbeitnehmers im mitgliedstaatlichen Familienleistungsverfahren auch erforderlich ist, dass er überwiegend den Unterhalt im Sinne des Art. 1 Buchst. i Nr. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 trägt?

6.

Sind die Bestimmungen über das Dialogverfahren gemäß Art. 60 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin gehend auszulegen, dass ein solches von den Trägern der beteiligten Mitgliedstaaten nicht nur im Fall der Gewährung von Familienleistungen, sondern auch im Fall von Rückforderungen von Familienleistungen zu führen ist?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

20.

Die tschechische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

V. Rechtliche Würdigung

21.

Entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die vierte und die fünfte Frage konzentrieren.

A.   Zur Umformulierung der Fragen

22.

Mit der vierten und der fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die den Anspruch auf Familienleistungen dem Elternteil vorbehält, der mit dem Kind zusammenlebt, so dass dem anderen Elternteil, der die ausschließliche Unterhaltslast für das Kind tatsächlich trägt, diese Leistungen auch dann nicht gewährt werden können, wenn der erstgenannte Elternteil die Leistungen nicht beantragt.

23.

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist daher zu prüfen, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der andere Elternteil aus diesem Artikel einen Anspruch auf Familienleistungen ableiten kann.

24.

Insoweit könnte meines Erachtens das Urteil Trapkowski ( 5 ) dem vorlegenden Gericht Antworten liefern. In der Begründung dieses Urteils hat der Gerichtshof zunächst darauf hingewiesen, dass die Verordnungen Nrn. 987/2009 und 883/2004 nicht bestimmen, welche Personen Anspruch auf Familienleistungen haben ( 6 ), auch wenn sie die Regeln festlegen, nach denen diese Personen bestimmt werden können ( 7 ). Der Gerichtshof hat sodann festgestellt, dass sowohl aus dem Wortlaut als auch aus der Systematik von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 hervorgeht, dass zwischen der Einreichung eines Antrags auf Familienleistungen und dem Anspruch auf diese Leistungen zu unterscheiden ist ( 8 ). Unter Bezugnahme auf den Wortlaut dieses Artikels hat er außerdem betont, dass es zwar ausreicht, wenn eine der Personen, die Anspruch auf Familienleistungen erheben kann, einen Antrag stellt, damit der zuständige Träger des Mitgliedstaats verpflichtet ist, den Antrag des anderen Elternteils zu berücksichtigen, das Unionsrecht diesen Träger aber nicht daran hindert, in Anwendung des nationalen Rechts zu dem Ergebnis zu gelangen, dass der Anspruch auf Familienleistungen für ein Kind einer anderen Person zusteht als der, die den Antrag auf diese Leistungen gestellt hat ( 9 ).

25.

Aus dieser Rechtsprechung folgt, dass Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 einen Mitgliedstaat keineswegs verpflichtet, dem „anderen Elternteil“ eine Leistung zu gewähren, wenn der Elternteil, der berechtigt ist, Anspruch auf die Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrgenommen hat. Folglich steht diese Vorschrift in keiner Weise dem entgegen, dass der zuständige österreichische Träger unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens den von DN gestellten Antrag auf Gewährung dieser Leistungen aufgrund der dafür bestehenden Voraussetzungen ablehnt.

26.

Allerdings weise ich darauf hin, dass die Problematik im vorliegenden Rechtsstreit nicht gänzlich mit der dem Urteil Trapkowski zugrunde liegenden Problematik vergleichbar ist, da der zuständige österreichische Träger dem von DN für seine Tochter gestellten Antrag zunächst stattgab. Erst in einem zweiten Schritt forderte die Finanzverwaltung die Rückzahlung der DN gewährten Familienleistungen. Als alternativen Rückforderungsgrund führte sie nationale Bestimmungen an, die zum einen vorsehen, dass die Familienbeihilfe der Person gewährt wird, zu deren Haushalt das Kind gehört, und zum anderen, dass, wer Familienbeihilfe zu Unrecht bezogen hat, die entsprechenden Beträge zurückzuzahlen hat. Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, über die Erheblichkeit dieser Klagegründe für die Entscheidung über die Rückforderung der Familienleistungen durch die Finanzverwaltung zu befinden.

27.

Die Auslegung von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 kann jedoch einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidung des Rechtsstreits haben, da die österreichische Finanzverwaltung im vorliegenden Fall aufgrund des Umstands, dass die Mutter keinen Antrag gestellt hatte, den Antrag des Vaters berücksichtigt und ihm Familienleistungen für das Kind gewährt hat. Das vorlegende Gericht wird mit anderen Worten prüfen müssen, ob Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 unter diesen Umständen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen die Familienleistungen, die DN für sein Kind erhalten hat, zurückgefordert werden können.

28.

Vor diesem Hintergrund halte ich es für geboten, die Fragen, die dem Gerichtshof vorgelegt worden sind, umzuformulieren, um dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben ( 10 ).

29.

Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die vierte und die fünfte Frage wie folgt umzuformulieren:

Ist Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die die Rückforderung von Familienleistungen ermöglichen, die der zuständige Träger unter Berücksichtigung eines entsprechenden Antrags einer der in dieser Bestimmung genannten Personen gewährt hat, da die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrgenommen hat?

B.   Zu den umformulierten Fragen

30.

Die in dieser Weise umformulierten Fragen betreffen also die Auslegung von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009. Da diese Verordnung zur Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 erlassen wurde, halte ich es für erforderlich, auf den Gegenstand und den Zweck der Regelungen der Verordnung Nr. 883/2004 zu Familienleistungen einzugehen. Im vorliegenden Fall erscheint mir dies umso wichtiger, als nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bedeutung und Tragweite von Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 aufgrund des in dieser Bestimmung enthaltenen Verweises auf die Art. 67 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004 anhand der Bestimmungen dieser Vorschriften zu ermitteln sind ( 11 ).

31.

Um die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV zu gewährleisten, sieht Art. 48 AEUV im Wesentlichen die Schaffung eines Systems zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor. Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, die zunächst durch die Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ( 12 ) geregelt wurde, deren Mechanismen jedoch zu komplex geworden waren ( 13 ), ist nunmehr Gegenstand der Verordnung Nr. 883/2004. Wie im vierten Erwägungsgrund ( 14 ) dieser Verordnung dargelegt, bezweckt sie ebenso wenig wie die Verordnung Nr. 1408/71 ( 15 ) die Harmonisierung der Systeme der sozialen Sicherheit, sondern nur deren Koordinierung.

32.

Um dieses Ziel zu gewährleisten, enthält die Verordnung Nr. 883/2004 u. a. Kollisionsnormen, die es ermöglichen, in Fällen, in denen es mehrere Gesetze gibt oder in denen eine gesetzliche Regelung fehlt, die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zu bestimmen, auf deren Basis die Leistungen gewährt werden können. Diese in den Art. 11 bis 16 der Verordnung Nr. 883/2004 festgelegten Regeln beruhen in erster Linie auf dem allgemeinen Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts ( 16 ).

33.

Die Verordnung Nr. 883/2004 sieht jedoch abweichende Regeln für die verschiedenen Arten von Leistungen vor. In diesem Zusammenhang bestimmt Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 im Hinblick auf Familienleistungen den oder die für die Gewährung solcher Leistungen zuständigen Mitgliedstaat(en) ( 17 ). Er legt dazu den Grundsatz fest, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen für ihre Familienangehörigen erheben kann, die in einem anderen als dem für die Zahlung dieser Leistungen zuständigen Mitgliedstaat wohnen, als ob sie in dem zuständigen Mitgliedstaat wohnhaft wären ( 18 ). Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 im Wesentlichen verhindern soll, dass ein Mitgliedstaat die Gewährung oder die Höhe von Familienleistungen davon abhängig machen kann, dass die Familienangehörigen des Erwerbstätigen in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem die Leistungen erbracht werden ( 19 ).

34.

Art. 67 dieser Verordnung schafft somit eine Fiktion, nach der die gesamte Familie so betrachtet wird, als ob alle Betroffenen den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats unterlägen und dort wohnhaft wären. Anders ausgedrückt enthält dieser Artikel einen umfassenden Ansatz ( 20 ), da der zuständige Träger nach dieser Bestimmung verpflichtet ist, die Situation der Familie insgesamt zu prüfen, um die Ansprüche auf Familienleistungen zu ermitteln. Dies entspricht im Übrigen auch der Auffassung des Gerichtshofs, der im Zusammenhang mit der Auslegung der Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit entschieden hat, dass Familienleistungen schon aufgrund ihrer Natur nicht einem Einzelnen unabhängig von seiner familiären Situation zustehen können ( 21 ). Wie von der Kommission zutreffend ausgeführt, geht daraus hervor, dass das Recht auf Familienleistungen nicht einem Elternteil allein zusteht, sondern der Familie.

35.

Dieser umfassende Ansatz steht meines Erachtens mit dem Zweck der Familienleistungen gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 in Einklang. Zu diesem Punkt ist für die Bestimmung, ob eine Leistung eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j dieser Verordnung darstellt, auf den Wortlaut ihres Art. 1 Buchst. z abzustellen, der besagt, dass der Ausdruck „Familienleistungen“ alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I der Verordnung, bezeichnet. Gestützt auf diese Definition hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass Familienleistungen dazu dienen sollen, Arbeitnehmer mit Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt. Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Ausdruck „Ausgleich von Familienlasten“ dahin auszulegen ist, dass er u. a. einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfassen soll, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert ( 22 ).

36.

Dieses Ziel wird auch durch Art. 68a der Verordnung Nr. 883/2004 veranschaulicht, der gewährleisten soll, dass die Empfänger der Familienleistungen diese für die Zwecke verwenden, zu denen sie bestimmt sind. Dementsprechend sieht diese Bestimmung vor, dass, wenn der Leistungsempfänger die ihm zustehende Familienleistung nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen verwendet, diese Familienleistungen der Person zu gewähren sind, die den Lebensunterhalt der Familienangehörigen tatsächlich trägt.

37.

Ziel und Zweck der Familienleistungen stellen also entscheidende Kriterien für die Anwendung und Durchführung der in der Verordnung Nr. 883/2004 für diesen Bereich vorgesehenen Regelungen dar. Daraus folgt, dass Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 im Licht dieser Kriterien zu verstehen und auszulegen ist. Insoweit sieht dieser Artikel ( 23 ) im Wesentlichen vor, dass der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anwendbar sind, den Antrag einer der anderen in dieser Bestimmung genannten Personen, zu denen auch der „andere Elternteil“ gehört, „berücksichtigen“ muss, wenn die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt.

38.

Meines Erachtens spiegelt Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 den Familienbetrachtungsansatz wider, der in der Verordnung Nr. 883/2004 für Familienleistungen verankert ist. Ich bin nämlich der Ansicht, dass der Unionsgesetzgeber mit der Regelung, dass der Antrag des „anderen Elternteils“ so zu berücksichtigen ist, als wäre er von dem Elternteil gestellt worden, der Anspruch auf die Familienleistungen hat, sicherstellen wollte, dass diese Leistungen auf jeden Fall ihrem Zweck entsprechend zum Familienbudget beitragen und die Kosten der Person ausgleichen, die die Unterhaltslast für das Kind tatsächlich trägt.

39.

Demgemäß bin ich den soeben dargelegten Ausführungen folgend auch der Ansicht, dass die Rückforderung der den Leistungen entsprechenden Beträge nur möglich ist, soweit sie nicht der Systematik der Mechanismen entgegensteht, die die Verordnungen Nrn. 883/2004 und 987/2009 für Familienleistungen geschaffen haben. Insoweit ist zur Beurteilung der Begründetheit der Rückforderung zu prüfen, ob die auf den Antrag einer der in Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 genannten Personen folgende Gesamtbetrachtung der Situation der Familie durch den zuständigen Träger zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Familienleistungen tatsächlich zum Ausgleich von Familienlasten beitragen. Wenn diese Frage bejaht wird, stehen die Bestimmungen dieses Artikels der Rückforderung von Familienleistungen meiner Ansicht nach auch dann entgegen, wenn der zuständige Träger diese Leistungen einer Person gewährt hat, die nach nationalem Recht nicht die Person ist, die Anspruch auf diese Leistungen erheben kann.

40.

Diese Analyse steht im Übrigen mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Einklang. Wie dieser im Urteil Trapowski ( 24 ) festgestellt hat, hindert die in Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 vorgeschriebene Berücksichtigung den zuständigen Träger des Mitgliedstaats zwar nicht daran, die Familienleistungen einer anderen Person als derjenigen zu gewähren, die den Antrag gestellt hat, da die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Leistungen, darunter die Ermittlung des Anspruchsberechtigten, nach nationalem Recht zu beurteilen sind. Aus dem Wortlaut dieses Urteils ergibt sich jedoch keineswegs, dass der zuständige Träger verpflichtet wäre, zu einem solchen Ergebnis zu gelangen. Die in diesem Artikel vorgesehene Gesamtbetrachtung der Situation der Familie ermöglicht es dem zuständigen Träger somit, die Familienleistungen einer anderen Person zu gewähren als jener, die im nationalen Recht vorgesehen ist.

41.

Die Infragestellung der Gewährung dieser Leistungen auf der Grundlage der Kriterien des nationalen Rechts darf in einem solchen Fall jedoch nicht dazu führen, dass gegen die Systematik der mit der Verordnung Nr. 883/2004 geschaffenen Mechanismen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit verstoßen wird. Insoweit weise ich darauf hin, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen zwar nach nationalem Recht beurteilt werden, die Mitgliedstaaten aber bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht beachten müssen ( 25 ). Daraus ergibt sich meines Erachtens, dass die nach nationalem Recht erfolgende Ermittlung der Person, die Anspruch auf Familienleistungen hat, nicht dazu führen darf, dass die Rückzahlung der betreffenden Leistungen verlangt wird, die infolge der Durchführung des Verfahrens nach Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 ihren Zweck erfüllt haben.

42.

Jedenfalls fällt die Prüfung der Begründetheit der Rückforderung von Familienleistungen durch die österreichische Finanzverwaltung in die alleinige Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das sämtliche besonderen Umstände dieses Falles zu prüfen hat. Allerdings steht die von mir vorgeschlagene Auslegung von Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung Nr. 987/2009 vor dem Hintergrund der Angaben des vorlegenden Gerichts der Rückforderung von Familienleistungen meiner Meinung nach entgegen.

43.

Nach österreichischem Recht ist nämlich die geschiedene Ehefrau von DN die Person, die berechtigt ist, für ihre volljährige Tochter, mit der sie in Polen wohnt, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben. Da die Mutter ihr Recht nicht wahrgenommen hatte, stellte DN beim zuständigen österreichischen Träger einen Antrag auf Gewährung dieser Leistungen. Der Träger berücksichtigte diesen Antrag und gewährte DN die Familienbeihilfe. DN leitete alle entsprechenden Zahlungen an seine Tochter weiter. Darüber hinaus weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass, falls DN zur Rückzahlung der Familienbeihilfe verpflichtet sein sollte, seine geschiedene Ehefrau diese Leistungen nicht mehr erhalten könne, da die Frist für ihre Gewährung nach österreichischem Recht abgelaufen sei.

44.

Gemessen an diesen Gesichtspunkten stelle ich zunächst fest, dass der Antrag von DN berücksichtigt wurde und dass ihm die Familienleistungen im Rahmen der Durchführung des in Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 für die Anwendung der Art. 67 und 68 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Verfahrens durch den zuständigen Träger gewährt wurden. Die Familienleistungen wurden zwar nicht an die Mutter gezahlt, trugen aber trotzdem tatsächlich zum Unterhalt des Kindes bei, für das sie gewährt wurden.

45.

Meines Erachtens würde unter solchen Umständen die nach nationalem Recht geforderte Rückzahlung von Familienleistungen dazu führen, dass die vom Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet der Familienleistungen geschaffenen Regelungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit unterlaufen würden.

VI. Ergebnis

46.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vierte und die fünfte Vorlagefrage des Bundesfinanzgerichts (Österreich) in ihrer umformulierten Fassung wie folgt zu beantworten:

Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen Familienleistungen zurückgefordert werden können, wenn sie einer der in dieser Bestimmung genannten Personen gewährt wurden, deren Antrag von dem zuständigen Träger berücksichtigt wurde, da die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrgenommen hat, sofern diese Leistungen tatsächlich zum Unterhalt des Familienangehörigen beigetragen haben, für den sie gewährt wurden.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl 2004, L 200, S. 1).

( 3 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).

( 4 ) Dieser Artikel wurde durch Art. 1 Nr. 18 der Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Änderung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 43) in die Verordnung Nr. 883/2004 eingefügt.

( 5 ) Urteil vom 22. Oktober 2015 (C‑378/14, im Folgenden: Urteil Trapkowski, EU:C:2015:720).

( 6 ) Der Gerichtshof stellt klar, dass sich aus dem Wortlaut von Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 eindeutig ergibt, dass sich nach dem nationalen Recht bestimmt, welche Personen Anspruch auf Sozialleistungen haben (vgl. Urteil Trapkowski, Rn. 44).

( 7 ) Urteil Trapkowski (Rn. 43).

( 8 ) Urteil Trapkowski (Rn. 46).

( 9 ) Urteil Trapkowski (Rn. 47 und 48).

( 10 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung) (C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Urteil vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 34).

( 12 ) Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. 1971, L 149, S. 2).

( 13 ) In diesem Sinne wird im dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 hervorgehoben, dass die „gemeinschaftlichen Koordinierungsregeln komplex und umfangreich“ sind und dass es wesentlich ist, sie zu ersetzen und sie gleichzeitig „zu aktualisieren und zu vereinfachen“.

( 14 ) Der vierte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass es „notwendig [ist], die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zu berücksichtigen und nur eine Koordinierungsregelung vorzusehen“.

( 15 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. September 2000, Engelbrecht (C‑262/97, EU:C:2000:492, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Art. 11 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass „Personen, für die diese Verordnung gilt, … den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats [unterliegen]”.

( 17 ) Art. 68 der Verordnung Nr. 883/2004 normiert Prioritätsregeln für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Leistungen. Ich weise jedoch darauf hin, dass diese Bestimmungen im vorliegenden Fall offensichtlich nicht anwendbar sind. Aus dem Wortlaut der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass in dem Zeitraum, der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist, in Polen keine Familienleistungen gewährt wurden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs setzt das Zusammentreffen im Sinne dieses Artikels jedoch voraus, dass die Leistungen tatsächlich in mehreren Mitgliedstaaten geschuldet werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Trapkowski, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 18 ) Urteil vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 19 ) Vgl. Urteile vom 18. September 2019, Moser (C‑32/18, EU:C:2019:752, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 25. November 2021, Finanzamt Österreich (Familienleistungen für Entwicklungshelfer) (C‑372/20, EU:C:2021:962, Rn. 76).

( 20 ) Für eine Darstellung des Gegenstands und der Grundsätze, auf denen Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 beruht, vgl. Fuchs, M., und Cornelissen, R., EU Social Security Law, A Commentary on EU Regulations 883/2004 and 987/2009, C.H Beck – Hart Publishing – Nomos, 2015, S. 405 ff.

( 21 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. November 2009, Slanina (C‑363/08, EU:C:2009:732, Rn. 31), und vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants (Kind des Ehegatten eines Grenzgängers) (C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 57 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Das erste Urteil erging zwar zur Auslegung von Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71, aber dessen Wortlaut kommt dem Wortlaut von Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 sehr nahe.

( 22 ) Urteil vom 28. Oktober 2021, ASGI u. a. (C‑462/20, EU:C:2021:894, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 23 ) Art. 60 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 war nicht Teil des ursprünglichen Vorschlags der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament. Diese Bestimmungen wurden bei der ersten Lesung im Wege der Änderung durch das Parlament ergänzt. Die Gründe für diese Änderung lassen sich den Vorarbeiten (ABl. 2004, C 76E, S. 178) jedoch nicht entnehmen.

( 24 ) Rn. 48 dieses Urteils.

( 25 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, Caisse pour l’avenir des enfants (Kind des Ehegatten eines Grenzgängers) (C‑802/18, EU:C:2020:269, Rn. 68 und 69 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

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