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Document 62020CC0263

Schlussanträge des Generalanwalts P. Pikamäe vom 23. September 2021.


Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:760

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PRIIT PIKAMÄE

vom 23. September 2021 ( 1 )

Rechtssache C‑263/20

Airhelp Limited

gegen

Laudamotion GmbH

(Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg [Österreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Verordnung (EG) Nr. 261/2004 – Gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen – Buchung eines Fluges im Wege einer elektronischen Plattform – Vorverlegung der Abflugzeit des Fluges – Empfang der Information über die Vorverlegung des Fluges an einer E‑Mail-Adresse – Umfang der Informationspflicht des Luftfahrtunternehmens – Richtlinie 2000/31/EG – Dienste der Informationsgesellschaft – Art. 11 – Abgabe einer Bestellung – Vermutung für den Empfang“

I. Einleitung

1.

Das Vorabentscheidungsersuchen des Landesgerichts Korneuburg (Österreich) betrifft die Auslegung von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und von Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ( 2 ) sowie von Art. 11 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) ( 3 ).

2.

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Airhelp Limited (im Folgenden: Airhelp) und der Laudamotion GmbH (im Folgenden: Laudamotion) wegen der Weigerung dieser Fluggesellschaft, den Fluggästen, in deren Rechte Airhelp eintritt, wegen der Vorverlegung ihres Fluges einen Ausgleich zu leisten. Die Rechtsfrage, ob die Vorverlegung der Abflugzeit eines Fluges einen Ausgleichsanspruch nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 begründet, ist in meinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen C‑188/20, Azurair, und C‑196/20, Eurowings, sowie in den Rechtssachen C‑146/20, Corendon Airlines, und C‑270/20, Austrian Airlines (noch nicht veröffentlichte Schlussanträge), ausführlich behandelt worden.

3.

Entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die Prüfung der zweiten Vorlagefrage beschränken, mit der das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob die Erfüllung der Verpflichtung, die Fluggäste rechtzeitig von der Annullierung zu unterrichten, ausschließlich nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 zu beurteilen ist und somit die Anwendung des in Umsetzung der Richtlinie 2000/31 erlassenen nationalen Rechts über den Zugang von elektronischen Erklärungen auszuschließen ist.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   Verordnung Nr. 261/2004

4.

Art. 2 der Verordnung Nr. 261/2004 sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

l)

‚Annullierung‘ die Nichtdurchführung eines geplanten Fluges, für den zumindest ein Platz reserviert war.“

5.

Art. 5 dieser Verordnung bestimmt in seinen Abs. 1 und 4:

„(1)   Bei Annullierung eines Fluges werden den betroffenen Fluggästen

a)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 8 angeboten,

b)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a) und Absatz 2 angeboten und im Fall einer anderweitigen Beförderung, wenn die nach vernünftigem Ermessen zu erwartende Abflugzeit des neuen Fluges erst am Tag nach der planmäßigen Abflugzeit des annullierten Fluges liegt, Unterstützungsleistungen gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstaben b) und c) angeboten und

c)

vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Artikel 7 eingeräumt, es sei denn,

i)

sie werden über die Annullierung mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet, oder

ii)

sie werden über die Annullierung in einem Zeitraum zwischen zwei Wochen und sieben Tagen vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als zwei Stunden vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen, oder

iii)

sie werden über die Annullierung weniger als sieben Tage vor der planmäßigen Abflugzeit unterrichtet und erhalten ein Angebot zur anderweitigen Beförderung, das es ihnen ermöglicht, nicht mehr als eine Stunde vor der planmäßigen Abflugzeit abzufliegen und ihr Endziel höchstens zwei Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit zu erreichen.

(4)   Die Beweislast dafür, ob und wann der Fluggast über die Annullierung des Fluges unterrichtet wurde, trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen.“

6.

Art. 7 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)   Wird auf diesen Artikel Bezug genommen, so erhalten die Fluggäste Ausgleichszahlungen in folgender Höhe:

a)

250 EUR bei allen Flügen über eine Entfernung von 1500 km oder weniger,

…“

7.

Art. 13 dieser Verordnung bestimmt:

„In Fällen, in denen ein ausführendes Luftfahrtunternehmen eine Ausgleichszahlung leistet oder die sonstigen sich aus dieser Verordnung ergebenden Verpflichtungen erfüllt, kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht des Luftfahrtunternehmens beschränkt, nach geltendem Recht bei anderen Personen, auch Dritten, Regress zu nehmen. Insbesondere beschränkt diese Verordnung in keiner Weise das Recht des ausführenden Luftfahrtunternehmens, Erstattung von einem Reiseunternehmen oder einer anderen Person zu verlangen, mit der es in einer Vertragsbeziehung steht. Gleichfalls kann keine Bestimmung dieser Verordnung in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie das Recht eines Reiseunternehmens oder eines nicht zu den Fluggästen zählenden Dritten, mit dem das ausführende Luftfahrtunternehmen in einer Vertragsbeziehung steht, beschränkt, vom ausführenden Luftfahrtunternehmen gemäß den anwendbaren einschlägigen Rechtsvorschriften eine Erstattung oder Entschädigung zu verlangen.“

B.   Richtlinie 2000/31

8.

Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass – außer im Fall abweichender Vereinbarungen zwischen Parteien, die nicht Verbraucher sind – im Fall einer Bestellung durch einen Nutzer auf elektronischem Wege folgende Grundsätze gelten:

Der Diensteanbieter hat den Eingang der Bestellung des Nutzers unverzüglich auf elektronischem Wege zu bestätigen;

Bestellung und Empfangsbestätigung gelten als eingegangen, wenn die Parteien, für die sie bestimmt sind, sie abrufen können.“

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9.

Zwei Fluggäste buchten einen vom Luftfahrtunternehmen Laudamotion durchgeführten Flug von Palma de Mallorca (Spanien) nach Wien (Österreich) im Wege einer elektronischen Buchungsplattform. Bei der Buchung über diese Plattform gaben diese Fluggäste ihre privaten E‑Mail-Adressen und ihre Telefonnummern an. Diese Plattform nahm die Buchung des Fluges im Namen dieser Fluggäste bei Laudamotion vor, wobei im Zuge dieser Buchung eine E‑Mail-Adresse eigens für diese Buchung generiert wurde. Diese Adresse war die einzige Adresse, die dem Luftfahrtunternehmen bekannt war, um mit den Fluggästen Kontakt aufzunehmen.

10.

Der Flug, der ursprünglich am 14. Juni 2018 um 14:40 Uhr hätte abfliegen und am selben Tag um 17:05 Uhr hätte ankommen sollen, wurde vom Luftfahrtunternehmen um mehr als sechs Stunden vorverlegt, nämlich auf 8:25 Uhr.

11.

Airhelp, an die die beiden Fluggäste ihre etwaigen Ausgleichsansprüche nach der Verordnung Nr. 261/2004 abgetreten hatten, erhob Klage beim Bezirksgericht Schwechat (Österreich). Sie machte geltend, das Luftfahrtunternehmen Laudamotion schulde für die beiden Fluggäste gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung den Gesamtbetrag von 500 Euro, insbesondere aufgrund der Vorverlegung des Fluges um mehr als sechs Stunden, von der die Fluggäste erst am 10. Juni 2018 über die von ihnen angegebene private E‑Mail-Adresse unterrichtet worden seien.

12.

Laudamotion bestritt das Klagebegehren von Airhelp dem Grunde nach mit der Begründung, dass die Mitteilung über die Vorverlegung des Fluges rechtzeitig am 23. und 29. Mai 2018 an die von der Buchungsplattform angegebene E‑Mail-Adresse erfolgt sei.

13.

Nachdem das Bezirksgericht Schwechat die Klage von Airhelp abgewiesen hatte, legte diese beim Landesgericht Korneuburg (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Berufung ein. Dieses möchte insbesondere wissen, ob die Vorverlegung eines Fluges eine Annullierung im Sinne der Verordnung Nr. 261/2004 darstellt und welchen Umfang die Informationspflicht des ausführenden Luftfahrtunternehmens hat.

14.

Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass es die Ansicht des Bundesgerichtshofs (Deutschland) ( 4 ) teile, wonach eine mehr als geringfügige Vorverlegung des geplanten Fluges einen Ausgleichsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 dieser Verordnung begründen könne und wonach die ursprüngliche Flugplanung aufgegeben werde, wenn ein Flug um mehrere Stunden vorverlegt werde.

15.

Zu der Frage, ob die Fluggäste des Ausgangsverfahrens von der Vorverlegung ihres Fluges ordnungsgemäß unterrichtet wurden, führt das vorlegende Gericht aus, dass nach den österreichischen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2000/31 nicht nur in den in Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Fällen, sondern auch bei einem bloßen Austausch von E‑Mails eine Zugangsvermutung vorgesehen sei. Dies würde im vorliegenden Fall bedeuten, dass ein Fluggast als von der Vorverlegung seines Fluges unterrichtet gilt, wenn die Erklärung des ausführenden Luftfahrtunternehmens von diesem Fluggast abgerufen werden kann. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die nationalen Rechtsvorschriften, die Richtlinie 2000/31 oder die Verordnung Nr. 261/2004 anzuwenden sind, um festzustellen, ob die Fluggäste von der Vorverlegung ihres Fluges ordnungsgemäß unterrichtet wurden.

16.

Unter diesen Umständen hat das Landesgericht Korneuburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1)

Sind Art. 5 Abs. 1 Buchst. c und Art. 7 der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass dem Fluggast ein Anspruch auf Ausgleichsleistung zusteht, wenn die Abflugzeit von ursprünglich 14:40 Uhr auf 08:25 Uhr desselben Tages vorverlegt wird?

2)

Ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c [Ziff. i bis iii] der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen, dass die [Frage], ob der Fluggast von der Annullierung unterrichtet wird, ausschließlich nach dieser Bestimmung zu prüfen ist und der Anwendung nationalen Rechts über den Zugang von Erklärungen entgegensteht, das in Umsetzung der [Richtlinie 2000/31] erlassen wurde und eine Zugangsfiktion enthält?

3)

Sind Art. 5 Abs. 1 Buchst. c [Ziff. i bis iii] der Verordnung Nr. 261/2004 und Art. 11 der [Richtlinie 2000/31] dahin auszulegen, dass im Falle einer Buchung des Fluges durch den Fluggast im Wege einer Buchungsplattform, wenn der Fluggast seine Telefonnummer und seine E‑Mail-Adresse bekannt gegeben hat, jedoch die Buchungsplattform dem Luftfahrtunternehmen die Telefonnummer und eine von der Buchungsplattform automatisch generierte E‑Mail-Adresse weitergeleitet hat, die Zustellung der Verständigung von der Vorverlegung des Fluges an die automatisch generierte E‑Mail-Adresse als Unterrichtung bzw. Zugang der Verständigung von der Vorverlegung [des Abflugs] zu werten ist, auch wenn die Buchungsplattform die Verständigung des Luftfahrtunternehmens dem Fluggast nicht oder mit Verzögerung weiterleitet?

IV. Verfahren vor dem Gerichtshof

17.

Die Vorlageentscheidung vom 26. Mai 2020 ist am 15. Juni 2020 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

18.

Die Parteien des Ausgangsverfahrens sowie die Europäische Kommission haben innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Frist schriftliche Erklärungen eingereicht.

19.

In der Generalversammlung am 27. April 2021 hat der Gerichtshof beschlossen, keine mündliche Verhandlung abzuhalten.

V. Rechtliche Würdigung

A.   Zur zweiten Vorlagefrage

20.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Erfüllung der Verpflichtung, die Fluggäste rechtzeitig von der Annullierung zu unterrichten, ausschließlich nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 zu beurteilen ist. Falls ja, stünde diese Verordnung nämlich der Anwendung des nationalen Rechts über den Zugang elektronischer Erklärungen entgegen, das in Umsetzung der Richtlinie 2000/31 erlassen wurde.

21.

Wie ich im Folgenden ausführlich erläutern werde, bin ich der Ansicht, dass die Erfüllung der Verpflichtung, die Fluggäste rechtzeitig von der Annullierung zu unterrichten, ausschließlich nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 zu beurteilen ist. Diese Auslegung ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem Zweck der einschlägigen Vorschriften.

22.

Zum einen enthält Kapitel II Abschnitt 3 dieser Richtlinie Vorschriften über den Abschluss von Verträgen auf elektronischem Weg. Art. 11 („Abgabe einer Bestellung“) Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Diensteanbieter im Fall einer Bestellung durch einen Nutzer auf elektronischem Wege „den Eingang der Bestellung des Nutzers unverzüglich auf elektronischem Wege zu bestätigen [hat]“ (erster Gedankenstrich) und dass „Bestellung und Empfangsbestätigung … als eingegangen [gelten], wenn die Parteien, für die sie bestimmt sind, sie abrufen können“ (zweiter Gedankenstrich).

23.

Die Verständigung über eine Annullierung stellt zwar weder eine „Bestellung“ noch eine „Empfangsbestätigung“ im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2000/31 dar, allerdings ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften insoweit über diese Richtlinie hinausgehen, als sie vorsehen, dass die Zugangsregel nicht nur für „Bestellungen“ und „Empfangsbestätigungen“, sondern auch für alle anderen rechtlich erheblichen elektronischen Erklärungen gilt, einschließlich der Buchungsunterlagen für Flüge. Nach den Angaben des vorlegenden Gerichts sehen sowohl Art. 11 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2000/31 als auch die nationalen Umsetzungen dieser Vorschrift eine „Zugangsfiktion“ vor, die im Wesentlichen mit der Abrufbarkeit der Erklärung eintritt ( 5 ).

24.

Zum anderen ist anzumerken, dass es sich bei den in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 aufgeführten Informationen um solche handelt, die „bei Annullierung eines Fluges“ erteilt werden und mit denen die Fluggäste „über die Annullierung unterrichtet werden“. Es ist offensichtlich, dass diese Informationen über eine Annullierung weder eine „Bestellung“ noch eine „Empfangsbestätigung“ im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2000/31 darstellen. Daher ist für die Zwecke der Würdigung davon auszugehen, dass es sich bei den in Rede stehenden Rechtsakten grundsätzlich um Erklärungen handelt, die unterschiedliche Gegenstände haben.

25.

Ich füge hinzu, dass aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 nicht abgeleitet werden kann, dass die Methode, mit der diese Informationen dem Fluggast übermittelt werden müssen, auf elektronische Mittel begrenzt ist. Vielmehr besteht die einzige Anforderung darin, dass „die betroffenen Fluggäste … von der Annullierung des Fluges unterrichtet werden“, was grundsätzlich andere Kommunikationsmittel zulässt. Zwar ist es in Anbetracht der besonderen Wichtigkeit dieser Art von Informationen für die wirksame Ausübung der durch die Verordnung Nr. 261/2004 verliehenen Rechte notwendig, dass das gewählte Kommunikationsmittel angemessen und den Erfordernissen der Beförderung von Fluggästen angepasst ist ( 6 ).

26.

Grundsätzlicher weise ich darauf hin, dass nach Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 das ausführende Luftfahrtunternehmen die „Beweislast“ dafür trägt, ob und wann jeder Fluggast über die Annullierung unterrichtet wurde. Der Umstand, dass die Beweislast das ausführende Luftfahrtunternehmen trägt ( 7 ), trägt dazu bei, das im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 261/2004 genannte hohe Schutzniveau für Fluggäste sicherzustellen.

27.

Es ist auf die Bedeutung dieses gesetzgeberischen Ziels im vorliegenden Zusammenhang hinzuweisen, da nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden ( 8 ). Im Urteil Krijgsman hat der Gerichtshof auf die Bedeutung der Beweispflicht des Luftfahrtunternehmens für den Zugang der Mitteilung an den Fluggast hingewiesen, die sich aus Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 im Zusammenhang mit der Wahrung seiner Rechte ergibt ( 9 ). Der Fluggast muss durch den Empfang dieser Information in die Lage versetzt werden, rechtzeitig auf die Annullierung seines Fluges zu reagieren und somit die sich daraus ergebenden Unannehmlichkeiten in Grenzen zu halten und seine Rechte gegenüber dem Luftfahrtunternehmen geltend zu machen.

28.

Insoweit ist anzumerken, dass Art. 11 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2000/31 insofern eine Umkehr der Beweislast bewirkt, als Bestellungen und Empfangsbestätigungen „als eingegangen [gelten]“, wenn die Parteien, für die sie bestimmt sind, sie abrufen können. Eine solche Vermutung für den „ordnungsgemäßen Empfang“ der dem Fluggast geschuldeten Information erscheint mir mit der Beweislast unvereinbar zu sein, die den Luftfahrtunternehmen gemäß der Verordnung Nr. 261/2004 auferlegt wird, da es aufgrund dieser Vermutung dem Fluggast ohne jeden Vorbehalt obliegen würde, den Nachweis zu erbringen, dass er die Information nicht rechtzeitig erhalten hat.

29.

Ein solcher Nachweis erscheint mir in der Praxis außerordentlich schwierig zu sein, so dass das bereits in Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge erwähnte Ziel des Schutzes der Fluggäste in Frage gestellt werden könnte. Falls im Zusammenhang mit menschlichen Irrtümern oder technischen Mängeln Kommunikationsprobleme auftreten sollten, würde die Verpflichtung des Fluggastes, nachzuweisen, dass er nicht im Besitz einer Erklärung ist, die die in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 261/2004 genannten Informationen enthält, darauf hinauslaufen, von ihm zu verlangen, das Unbeweisbare zu beweisen bzw. etwas Unmögliches zu tun. Es liegt auf der Hand, dass der in der Rechtsordnung der Union anerkannte Grundsatz, dass „niemand zu etwas Unmöglichem verpflichtet ist“ („impossibilium nulla obligatio est“) ( 10 ), einem solchen Ansatz entgegenstünde.

30.

Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 261/2004 stellt gegenüber den Vorschriften der Richtlinie 2000/31 insofern eine lex specialis dar, als er im Hinblick auf die Art, wie die Information den Fluggästen übermittelt werden muss, bestimmte Verpflichtungen auferlegt. In Anbetracht des Interesses der Fluggäste, über alle etwaigen unvorhersehbaren Ereignisse mit erheblichen Auswirkungen auf den Flugplan auf dem Laufenden gehalten zu werden, und angesichts der Unannehmlichkeiten, die sich im Allgemeinen aus der Annullierung eines Fluges ergeben, scheint mir eine bloße Vermutung für den „ordnungsgemäßen Empfang“ kaum den gestiegenen Anforderungen im Bereich der Beförderung von Fluggästen zu genügen.

31.

Angesichts der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass das in Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 aufgestellte Zugangserfordernis im Lichte von Abs. 4 dieses Artikels der Anwendung der Vorschriften des nationalen Rechts zur Umsetzung der Richtlinie 2000/31 entgegensteht, wonach die elektronischen Erklärungen als zugegangen gelten, so dass die Frage, ob zwecks Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste die Verpflichtung, den Fluggast von der Annullierung zu informieren, erfüllt ist, ausschließlich im Lichte dieser Verordnung zu prüfen ist.

32.

Gleiches gilt hinsichtlich der Nichtbeachtung des in der Verordnung Nr. 261/2004 vorgesehenen Schutzniveaus der Verbraucher für die im Vorlagebeschluss angeführten nicht harmonisierten Vorschriften des nationalen Rechts, die im Rahmen der Umsetzung von Art. 11 der Richtlinie 2000/31 den sachlichen Anwendungsbereich der Bestellungen und Empfangsbestätigungen auf andere elektronische Erklärungen, insbesondere auf elektronische Erklärungen zur Annullierung eines Fluges, erweitert haben.

33.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2000/31, wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung festgestellt hat, für die meisten Aspekte des elektronischen Geschäftsverkehrs „nicht auf eine Harmonisierung des Sachrechts [abzielt], sondern … einen ‚koordinierten Bereich‘ [definiert], in dessen Rahmen es die Regelung des Art. 3 nach dem 22. Erwägungsgrund der Richtlinie ermöglichen soll, die Dienste der Informationsgesellschaft grundsätzlich dem Rechtssystem desjenigen Mitgliedstaats zu unterwerfen, in dem der Anbieter niedergelassen ist“ ( 11 ). Diese Auslegung wird durch die Erwägungsgründe 6, 7, 10 und 22 dieser Richtlinie bestätigt.

34.

Da der nationale Gesetzgeber – freiwillig und ohne dass dies das Unionsrecht ausdrücklich erfordern würde – beschlossen hat, den Anwendungsbereich der harmonisierten Vorschriften über den elektronischen Geschäftsverkehr auf andere Bereiche auszudehnen, die in der Richtlinie 2000/31 nicht vorgesehen sind, können diese Vorschriften nicht als Teil der harmonisierten Rechtsvorschriften über den elektronischen Geschäftsverkehr angesehen werden. In diesem Fall stellt sich vielmehr die Frage nach der Vereinbarkeit der Vorschriften des nationalen Rechts mit denen der Verordnung Nr. 261/2004.

35.

Unabhängig davon, ob die in Rede stehenden nationalen Vorschriften – zu Recht oder zu Unrecht – im Rahmen der Umsetzung der Richtlinie 2000/31 erlassen wurden, ist der Schluss zulässig, dass sie die Erreichung des mit der Verordnung Nr. 261/2004 verfolgten Ziels vereiteln. Daher ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 im Lichte von Abs. 4 dieses Artikels dahin auszulegen, dass er Vorschriften des nationalen Rechts entgegensteht, die auf Art. 11 der Richtlinie 2000/31 gestützt sind.

B.   Antwort auf die zweite Vorlagefrage

36.

Aus den oben genannten Gründen schlage ich vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung Nr. 261/2004 dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung, die Fluggäste über Annullierungen zu unterrichten, ausschließlich im Hinblick auf diese Verordnung zu erfüllen ist, was der Anwendung nationaler Vorschriften entgegensteht, die eine Vermutung für den Zugang elektronischer Erklärungen begründen.

VI. Ergebnis

37.

Im Lichte der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Vorlagefrage des Landesgerichts Korneuburg (Österreich) wie folgt zu beantworten:

Art. 5 Abs. 1 Buchst. c Ziff. i bis iii der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Februar 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 ist dahin auszulegen, dass die Verpflichtung, die Fluggäste über Annullierungen zu unterrichten, ausschließlich im Hinblick auf diese Verordnung zu erfüllen ist, was der Anwendung nationaler Vorschriften entgegensteht, die eine Vermutung für den Zugang elektronischer Erklärungen begründen.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2004, L 46, S. 1.

( 3 ) ABl. 2000, L 178, S. 1.

( 4 ) Nach den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen wurde diese Rechtsansicht in der Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 89/2015, X ZR 59/14, geäußert und im Wege eines Anerkenntnisurteils vertreten.

( 5 ) Vgl. S. 10 der Vorlageentscheidung.

( 6 ) Steinrötter, B., Beck'scher Online-Großkommentar (Gsell/Krüger/Lorenz/Mayer), Art. 1-19 VO (EG) Nr. 261/2004, Art. 5, Rn. 23 und 25, führt aus, dass es keine Formvorgaben für die Unterrichtung des Fluggastes über die Annullierung gibt. Der Autor empfiehlt jedoch, einen Kommunikationskanal zu nutzen, der gewährleistet, dass der Fluggast auch tatsächlich Kenntnis von der Annullierung des Fluges erhält. Wendet der Passagier ein, er habe die Nachricht nicht erhalten, trägt das ausführende Luftfahrtunternehmen die Beweislast dafür, ob und wann der Fluggast über die Annullierung informiert wurde.

( 7 ) Vgl. Bekanntmachung der Kommission zu den Leitlinien für die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2016, C 214, S. 5), Nr. 3.2.5. mit der Überschrift „Beweislast im Falle einer Annullierung“.

( 8 ) Vgl. Urteile vom 16. November 2016, Hemming u. a. (C‑316/15, EU:C:2016:879, Rn. 27), und vom 11. Mai 2017, Krijgsman (C‑302/16, EU:C:2017:359, Rn. 24).

( 9 ) Urteil vom 11. Mai 2017 (C‑302/16, EU:C:2017:359, Rn. 23 bis 28).

( 10 ) Vgl. Urteile vom 3. März 2016, Daimler (C‑179/15, EU:C:2016:134, Rn. 42), vom 20. Dezember 2017, Protect Natur‑, Arten- und Landschaftsschutz Umweltorganisation (C‑664/15, EU:C:2017:987, Rn. 96), und vom 6. November 2018, Scuola Elementare Maria Montessori/Kommission, Kommission/Scuola Elementare Maria Montessori und Kommission/Ferracci (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, EU:C:2018:873, Rn. 79).

( 11 ) Urteil vom 25. Oktober 2011, eDate Advertising u. a. (C‑509/09 und C‑161/10, EU:C:2011:685, Rn. 57).

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