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Document 62019CJ0514

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 8. Oktober 2020.
    Union des industries de la protection des plantes gegen Premier ministre u. a.
    Vorabentscheidungsersuchen dersConseil d'État (Frankreich).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Notfallmaßnahmen – Offizielle Unterrichtung der Europäischen Kommission – Richtlinie (EU) 2015/1535 – Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften – Neonicotinoide – Schutz von Bienen – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.
    Rechtssache C-514/19.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:803

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

    8. Oktober 2020 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 – Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln – Notfallmaßnahmen – Offizielle Unterrichtung der Europäischen Kommission – Richtlinie (EU) 2015/1535 – Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften – Neonicotinoide – Schutz von Bienen – Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit“

    In der Rechtssache C‑514/19

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 28. Juni 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2019, in dem Verfahren

    Union des industries de la protection des plantes

    gegen

    Premier ministre,

    Ministre de la Transition écologique et solidaire,

    Ministre des Solidarités et de la Santé,

    Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation,

    Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail,

    Beteiligte:

    Association Générations futures,

    Union nationale de l’apiculture française (UNAF),

    Syndicat national de l’apiculture,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, des Richters L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin C. Toader sowie der Richter M. Safjan und N. Jääskinen,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Union des industries de la protection des plantes, vertreten durch J.‑P. Chevallier, avocat,

    der Union nationale de l’apiculture française (UNAF), vertreten durch B. Fau, avocat,

    des Syndicat national de l’apiculture, vertreten durch F. Lafforgue und H. Baron, avocats,

    der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und E. Leclerc als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Castilla Contreras, M. Jáuregui Gómez, A. Dawes und I. Naglis als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 4. Juni 2020

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 2015, L 241, S. 1) sowie der Art. 69 und 71 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates (ABl. 2009, L 309, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Union des industries de la protection des plantes (im Folgenden: französischer Verband der Pflanzenschutzindustrie) auf der einen Seite und dem französischen Premierminister, dem Ministre de la Transition écologique et solidaire (Minister für den ökologischen und solidarischen Wandel), dem Ministre des Solidarités et de la Santé (Minister für Solidarität und Gesundheit), dem Ministre de l’Agriculture et de l’Alimentation (Minister für Landwirtschaft und Ernährung) sowie der Agence nationale de sécurité sanitaire de l’alimentation, de l’environnement et du travail (Nationale Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umweltsicherheit und Arbeitsschutz, Frankreich) auf der anderen Seite über das Verbot der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die einen oder mehrere Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide enthalten, und des mit diesen Mitteln behandelten Saatguts.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Richtlinie 2015/1535

    3

    Art. 5 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2015/1535 bestimmt:

    „(1)   Vorbehaltlich des Artikels 7 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift … Sie unterrichten die Kommission gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen, es sei denn, die Gründe gehen bereits aus dem Entwurf hervor.

    Zielt der Entwurf einer technischen Vorschrift insbesondere darauf ab, das Inverkehrbringen oder die Verwendung eines Stoffes, einer Zubereitung oder eines chemischen Erzeugnisses aus Gründen des Gesundheits‑, Verbraucher- oder Umweltschutzes einzuschränken, so übermitteln die Mitgliedstaaten, sofern verfügbar, ebenfalls eine Zusammenfassung aller zweckdienlichen Angaben über die betroffenen Stoffe, Zubereitungen oder Erzeugnisse sowie über bekannte und erhältliche Substitutionsprodukte oder die Fundstellen dieser Angaben sowie Angaben über die zu erwartenden Auswirkungen dieser Maßnahme auf Gesundheits‑, Verbraucher- und Umweltschutz, … mit einer Risikoanalyse …

    Die Kommission unterrichtet die anderen Mitgliedstaaten unverzüglich über den Entwurf einer technischen Vorschrift und alle ihr zugegangenen Dokumente …

    (2)   Die Kommission und die Mitgliedstaaten können bei dem Mitgliedstaat, der einen Entwurf einer technischen Vorschrift unterbreitet hat, Bemerkungen vorbringen, die dieser Mitgliedstaat bei der weiteren Ausarbeitung der technischen Vorschrift soweit wie möglich berücksichtigt.“

    4

    In Art. 6 der Richtlinie heißt es:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten nehmen den Entwurf einer technischen Vorschrift nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Eingang der Mitteilung gemäß Artikel 5 Absatz 1 bei der Kommission an.

    (3)   Die Mitgliedstaaten nehmen den Entwurf einer technischen Vorschrift mit Ausnahme der Vorschriften betreffend Dienste nicht vor Ablauf von zwölf Monaten nach Eingang der Mitteilung gemäß Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie bei der Kommission an, wenn die Kommission innerhalb von drei Monaten nach diesem Zeitpunkt ihre Absicht bekannt gibt, für den gleichen Gegenstand eine Richtlinie, eine Verordnung oder einen Beschluss … vorzuschlagen oder zu erlassen.

    (4)   Die Mitgliedstaaten nehmen den Entwurf einer technischen Vorschrift nicht vor Ablauf von zwölf Monaten nach Eingang der Mitteilung gemäß Artikel 5 Absatz 1 dieser Richtlinie bei der Kommission an, wenn die Kommission innerhalb von drei Monaten nach diesem Zeitpunkt die Feststellung bekannt gibt, dass der Entwurf der technischen Vorschrift einen Gegenstand betrifft, für welchen … ein Vorschlag für eine Richtlinie, eine Verordnung oder einen Beschluss … vorgelegt worden ist.

    (7)   Die Absätze 1 bis 5 gelten nicht, wenn ein Mitgliedstaat

    a)

    aus dringenden Gründen, die durch eine ernste und unvorhersehbare Situation entstanden sind und sich auf den Schutz der Gesundheit von Menschen und Tieren, die Erhaltung von Pflanzen oder die Sicherheit und im Falle von Vorschriften betreffend Dienste auch auf die öffentliche Ordnung, insbesondere auf den Jugendschutz beziehen, gezwungen ist, ohne die Möglichkeit einer vorherigen Konsultation in kürzester Frist technische Vorschriften auszuarbeiten, um sie unverzüglich zu erlassen und in Kraft zu setzen …

    Der Mitgliedstaat begründet in der in Artikel 5 genannten Mitteilung die Dringlichkeit der betreffenden Maßnahmen. Die Kommission äußert sich binnen kürzester Frist zu dieser Mitteilung. Bei missbräuchlicher Anwendung dieses Verfahrens trifft sie die erforderlichen Maßnahmen. Das Europäische Parlament wird von der Kommission regelmäßig unterrichtet.“

    5

    Art. 7 Abs. 1 Buchst. c dieser Richtlinie sieht vor:

    „Die Artikel 5 und 6 gelten nicht für Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten oder für freiwillige Vereinbarungen, durch die die Mitgliedstaaten

    c)

    die Schutzklauseln in Anspruch nehmen, die in verbindlichen Rechtsakten der Union enthalten sind“.

    Verordnung Nr. 1107/2009

    6

    Im achten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1107/2009 heißt es:

    „Mit dieser Verordnung soll ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt gewährleistet und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft der Gemeinschaft sichergestellt werden. …“

    7

    Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

    „Die Kommission kann die Genehmigung eines Wirkstoffs jederzeit überprüfen. Sie berücksichtigt den Antrag eines Mitgliedstaats auf Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs im Lichte neuer wissenschaftlicher und technischer Kenntnisse und Überwachungsdaten …“

    8

    Art. 49 Abs. 2 der Verordnung sieht vor:

    „Bestehen erhebliche Bedenken, dass das behandelte Saatgut … wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann, so werden unverzüglich Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung und/oder des Verkaufs des entsprechend behandelten Saatguts nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren getroffen. …“

    9

    Art. 69 der Verordnung bestimmt:

    „Ist davon auszugehen, dass ein genehmigter Wirkstoff … oder ein Pflanzenschutzmittel, das gemäß dieser Verordnung zugelassen wurde, wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann, so trifft die Kommission nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren von sich aus oder auf Verlangen eines Mitgliedstaats unverzüglich Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung und/oder des Verkaufs dieses Stoffes oder Produkts. …“

    10

    Art. 70 der Verordnung Nr. 1107/2009 lautet:

    „Abweichend von Artikel 69 kann die Kommission in extremen Notfällen provisorisch Notfallmaßnahmen treffen, nachdem sie den oder die betroffenen Mitgliedstaat(en) konsultiert und die anderen Mitgliedstaaten informiert hat.

    Die Maßnahmen werden nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren so rasch wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von 10 Arbeitstagen bestätigt, geändert, aufgehoben oder verlängert.“

    11

    Art. 71 dieser Verordnung legt fest:

    „(1)   Unterrichtet ein Mitgliedstaat die Kommission offiziell über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen und hat die Kommission nicht gemäß Artikel 69 oder 70 gehandelt, so kann der Mitgliedstaat vorläufige Schutzmaßnahmen ergreifen. In diesem Fall unterrichtet er die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission unverzüglich.

    (2)   Innerhalb von 30 Arbeitstagen befasst die Kommission den in Artikel 79 Absatz 1 genannten Ausschuss nach dem in Artikel 79 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren mit der Frage der Verlängerung, der Änderung oder der Aufhebung der vorläufigen nationalen Schutzmaßnahmen.

    (3)   Der Mitgliedstaat darf seine vorläufigen nationalen Schutzmaßnahmen so lange beibehalten, bis die Gemeinschaftsmaßnahmen erlassen sind.“

    Durchführungsverordnung (EU) 2018/783

    12

    Die Durchführungsverordnung (EU) 2018/783 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Imidacloprid (ABl. 2018, L 132, S. 31) legt die Bedingungen für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Imidacloprid fest.

    Durchführungsverordnung (EU) 2018/784

    13

    Die Durchführungsverordnung (EU) 2018/784 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Clothianidin (ABl. 2018, L 132, S. 35) legt die Bedingungen für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Clothianidin fest.

    Durchführungsverordnung (EU) 2018/785

    14

    Die Durchführungsverordnung (EU) 2018/785 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Thiamethoxam (ABl. 2018, L 132, S. 40) legt die Bedingungen für das Inverkehrbringen und die Verwendung von Thiamethoxam fest.

    Französisches Recht

    15

    Art. L. 253-8 II des Code rural et de la pêche maritime (im Folgenden: Gesetzbuch für Landwirtschaft und Seefischerei) bestimmt:

    „Die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die einen oder mehrere Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide enthalten, und von mit diesen Mitteln behandeltem Saatgut ist ab 1. September 2018 verboten.

    Ausnahmen von dem in Unterabs. 1 und 2 des vorliegenden Abs. II angeführten Verbots können bis 1. Juli 2020 durch gemeinsame Entscheidung der Minister für Landwirtschaft, Umwelt und Gesundheit gewährt werden.

    …“

    16

    Art. D. 253-46-1 dieses Gesetzbuchs, der durch das Décret no 2018‑675, du 30 juillet 2018, relatif à la définition des substances actives de la famille des néonicotinoïdes présentes dans les produits phytopharmaceutiques (Dekret Nr. 2018‑675 vom 30. Juli 2018 zur Festlegung der Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide in Pflanzenschutzmitteln) (JORF vom 1. August 2018, Text Nr. 7) eingeführt wurde, sieht vor:

    „Die in Art. L. 253-8 angeführten Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide sind:

    Acetamiprid;

    Clothianidin;

    Imidacloprid;

    Thiacloprid;

    Thiametoxam.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    17

    Art. L. 253-8 des Gesetzbuchs für Landwirtschaft und Seefischerei sieht das Verbot der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die eine oder mehrere Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide enthalten, und von mit diesen Mitteln behandeltem Saatgut ab 1. September 2018 vor. Er erlaubt hingegen die Gewährung bestimmter Ausnahmen von diesem Verbot bis zum 1. Juli 2020.

    18

    Die Französische Republik übermittelte der Kommission am 2. Februar 2017 den Entwurf eines Dekrets, das die Wirkstoffe im Sinne dieses Artikels aufführt. Diese Mitteilung erfolgte ausdrücklich auf der Grundlage von Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 der Richtlinie 2015/1535 und nahm nicht auf die Verordnung Nr. 1107/2009 Bezug. Sie nannte verschiedene Studien, in denen auf größere Auswirkungen der Neonicotinoide auf die Umwelt und eine Gefahr für die menschliche Gesundheit hingewiesen wurde.

    19

    Am 3. August 2017 antwortete die Kommission auf diese Mitteilung, dass sie die Bedenken der Französischen Republik hinsichtlich bestimmter Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide teile. Zudem erläuterte sie, dass die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) Schlussfolgerungen zu drei der im übermittelten Dekretentwurf genannten Wirkstoffe veröffentlicht habe, was die Kommission dazu veranlasse, die Notwendigkeit der Umsetzung anderer Einschränkungen zu prüfen.

    20

    In der Folge untersagten die Durchführungsverordnungen 2018/783, 2018/784 und 2018/785 die Verwendung von Imidacloprid, Clothianidin und Thiametoxam ab dem 19. Dezember 2018, ausgenommen die Behandlungen für Kulturen in dauerhaft errichteten Gewächshäusern, die während ihres gesamten Wachstumszyklus in einem solchen Gewächshaus bleiben.

    21

    Am 30. Juli 2018 erließ der Premierminister auf der Grundlage von Art. L. 253‑8 des Gesetzbuchs für Landwirtschaft und Seefischerei das Dekret Nr. 2018‑675, das die Festlegung der Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide im Sinne dieses Artikels zum Gegenstand hat. Mit diesem Dekret wurde in dieses Gesetzbuch ein Art. D. 253‑46‑1 eingefügt, nach dem es sich bei diesen verbotenen Stoffen um Acetamiprid, Clothianidin, Imidacloprid, Thiacloprid und Thiametoxam handelt.

    22

    Am 1. Oktober 2018 erhob der französische Verband der Pflanzenschutzindustrie beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) Klage auf Nichtigerklärung dieses Dekrets, soweit es mit der Verordnung Nr. 1107/2009 unvereinbar sei.

    23

    Im Hinblick auf den Ablauf des Verfahrens, das dem Erlass des Dekrets Nr. 2018‑675 vorausgegangen sei, geht das vorlegende Gericht davon aus, dass dessen Rechtmäßigkeit davon abhänge, ob die Französische Republik nach Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 die Befugnis gehabt habe, dieses Dekret als Notfallmaßnahme zu erlassen, nachdem sie eine Mitteilung auf der Grundlage der Richtlinie 2015/1535 vorgenommen habe und obwohl die Kommission eine Reihe von Maßnahmen in Bezug auf die Verwendung bestimmter von diesem Dekret betroffener Neonicotinoide erlassen habe.

    24

    Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Wenn eine nationale Maßnahme, mit der die Verwendung von Wirkstoffen eingeschränkt werden soll, der Kommission formal auf der Grundlage von Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 notifiziert worden ist, jedoch mit einer Darlegung der Umstände, die den Mitgliedstaat zu der Annahme führen, dass der Wirkstoff wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstelle und dass diesem Risiko nach der bestehenden Regelung nur durch vom Mitgliedstaat ergriffene Maßnahmen auf zufriedenstellende Weise begegnet werden könne, wobei diese Darlegung eindeutig genug ist, dass die Kommission nicht im Unklaren darüber sein kann, dass die Notifizierung auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1107/2009 hätte erfolgen müssen, obliegt es dann der Kommission, diese Notifizierung als gemäß dem Verfahren nach den Art. 69 und 71 dieser Verordnung vorgenommen anzusehen und gegebenenfalls zusätzliche Maßnahmen zur Beweisaufnahme oder Maßnahmen, die sowohl den Anforderungen dieser Regelung als auch den von diesem Mitgliedstaat geäußerten Bedenken entsprechen, zu ergreifen?

    2.

    Im Fall der Bejahung dieser Frage: Sind die Durchführungsverordnungen 2018/783, 2018/784 und 2018/785, die die Verwendung der Wirkstoffe Thiamethoxam, Clothianidin und Imidacloprid ab 19. Dezember 2018, mit Ausnahme der Behandlungen für Pflanzenkulturen in dauerhaft errichteten Gewächshäusern, die während des gesamten Wachstumszyklus in einem solchen Gewächshaus bleiben, verbieten, als Maßnahmen anzusehen, die auf das Verlangen der Französischen Republik vom 2. Februar 2017 eines allgemeinen Verbots der Verwendung der einen oder mehrere Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide enthaltenden Pflanzenschutzmittel und des mit diesen Produkten behandelten Saatguts ergriffen wurden?

    3.

    Im Fall der Bejahung der letzteren Frage: Was kann der Mitgliedstaat tun, der bei der Kommission auf der Grundlage von Art. 69 der Verordnung Nr. 1107/2009 verlangt hat, Maßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung der einen oder mehrere Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide enthaltenden Pflanzenschutzmittel und des mit diesen Produkten behandelten Saatguts zu ergreifen, wenn diese seinem Verlangen nur teilweise nachkommt, indem sie nicht die Verwendung von allen, sondern von drei der Wirkstoffe der Familie der Neonicotinoide einschränkt?

    Zu den Vorlagefragen

    Zur Zulässigkeit

    25

    Der französische Verband der Pflanzenschutzindustrie bestreitet die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens.

    26

    Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme habe nicht nach Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 erlassen werden können, da sie ein endgültiges Verbot und keine vorläufige Maßnahme darstelle, die bis zum Erlass von Maßnahmen auf Unionsebene ergriffen worden sei. Diese Maßnahme sei auch keine Notfallmaßnahme, da sie auf ein Gesetz aus 2016 zurückgehe, dessen Wirkungen bis 2018 aufgeschoben worden seien. Außerdem beruhe die Übermittlung dieser Maßnahme nicht auf dem in der Richtlinie 2015/1535 vorgesehenen Notfallverfahren.

    27

    Unter diesen Umständen sei die erste Frage, die sich auf die Einhaltung der in Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 genannten Verfahrensvoraussetzungen beziehe, für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich. Gleiches gelte für die zweite und die dritte Frage, da sie nur für den Fall der Bejahung der ersten Frage gestellt worden seien. Darüber hinaus stehe die zweite Frage in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits.

    28

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen ihm und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über die ihm vorgelegten Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    29

    Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 4. Dezember 2018, Minister for Justice and Equality und Commissioner of An Garda Síochána, C‑378/17, EU:C:2018:979, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Die vom französischen Verband der Pflanzenschutzindustrie vorgebrachten Argumente reichen nicht aus, um die Vermutung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen zu widerlegen.

    31

    Erstens hat das vorlegende Gericht nämlich offensichtlich in diesem Stadium die Tragweite der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme nicht bestimmt. Unter diesen Umständen kann nicht ausgeschlossen werden, dass es möglicherweise – gegebenenfalls durch eine unionsrechtskonforme Auslegung dieser Maßnahme – davon ausgeht, dass sie vorläufigen Charakter hat und deshalb eine „vorläufige Schutzmaßnahme“ im Sinne von Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 darstellen kann.

    32

    Zweitens kann die Dauer des nationalen Verfahrens, das dem Erlass der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme vorausging, nicht entscheidend sein, da diese Dauer nicht ausreicht, um auszuschließen, dass diese Maßnahme im Endstadium dieses Verfahrens als „Notfallmaßnahme“ im Sinne dieser Bestimmung erscheinen konnte, da ihr Erlass nunmehr erforderlich war, um einem schwerwiegenden Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt dringend zu begegnen.

    33

    Was drittens den Umstand betrifft, dass bei der Übermittlung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme nicht auf das in der Richtlinie 2015/1535 vorgesehene Notfallverfahren zurückgegriffen worden sei, ist darauf hinzuweisen, dass dem vorlegenden Gericht mit der ersten Frage die Anhaltspunkte des Unionsrechts an die Hand gegeben werden sollen, die erforderlich sind, um festzustellen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen eine gemäß dieser Richtlinie erfolgte Mitteilung im Rahmen des in Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 vorgesehenen Verfahrens berücksichtigt werden kann. Daher ist die Beurteilung dieses Vorbringens des französischen Verbands der Pflanzenschutzindustrie untrennbar mit der Antwort verbunden, die auf diese Frage zu geben ist, und kann in der Folge nicht zu ihrer Unzulässigkeit führen (vgl. entsprechend Urteile vom 17. Januar 2019, KPMG Baltics, C‑639/17, EU:C:2019:31, Rn. 11 und vom 3. Dezember 2019, Iccrea Banca, C‑414/18, EU:C:2019:1036, Rn. 30).

    34

    Viertens ist, was den Zusammenhang zwischen der zweiten Frage und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens betrifft, festzustellen, dass mit dieser Frage geklärt werden soll, ob bestimmte Maßnahmen, die die Kommission nach der durch die Französische Republik erfolgten Mitteilung erlassen hat, als Reaktion auf diese Mitteilung angesehen werden können. Da zum einen das vorlegende Gericht zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits feststellen muss, ob das Dekret Nr. 2018‑675 von der Französischen Republik gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 erlassen werden konnte, und zum anderen diese Bestimmung das Vorgehen der Mitgliedstaaten davon abhängig macht, dass die Kommission nicht gehandelt hat, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die zweite Frage offensichtlich keinerlei Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweist.

    35

    Folglich sind die Vorlagefragen zulässig.

    Zur ersten Frage

    36

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 und Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen sind, dass die nach Art. 5 dieser Richtlinie erfolgte Übermittlung einer nationalen Maßnahme, mit der die Verwendung bestimmter unter diese Verordnung fallender Wirkstoffe verboten wird, als eine offizielle Unterrichtung über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen im Sinne von Art. 71 Abs. 1 dieser Verordnung anzusehen ist, wenn diese Mitteilung eine klare Darlegung der Anhaltspunkte enthält, die zum einen darauf hindeuten, dass diese Wirkstoffe wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellen, und zum anderen darauf, dass diesem Risiko nur durch vom betreffenden Mitgliedstaat ergriffene Maßnahmen auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann.

    37

    Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 sieht vor, dass ein Mitgliedstaat, wenn er die Kommission offiziell über die Notwendigkeit von Notfallmaßen unterrichtet und die Kommission nicht gemäß Art. 69 oder 70 gehandelt hat, vorläufige Schutzmaßnahmen ergreifen kann. Er ist dann verpflichtet, die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission unverzüglich zu unterrichten.

    38

    Art. 69 dieser Verordnung ermächtigt die Kommission, Notfallmaßnahmen zur Einschränkung oder zum Verbot der Verwendung oder des Verkaufs eines Wirkstoffs oder Pflanzenschutzmittels zu treffen, wenn klar davon auszugehen ist, dass dieser Wirkstoff oder dieses Mittel, das gemäß dieser Verordnung zugelassen wurde, wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellt und dass diesem Risiko durch Maßnahmen, die der betreffende Mitgliedstaat oder die betreffenden Mitgliedstaaten getroffen hat bzw. haben, nicht auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann. Art. 70 der Verordnung Nr. 1107/2009 sieht für die Kommission die Befugnis vor, in extremen Notfällen solche Notfallmaßnahmen am Ende eines vereinfachten Verfahrens zu treffen.

    39

    Das durch Art. 71 dieser Verordnung eingeführte Verfahren soll es somit der Kommission oder, wenn sie nicht tätig wird, einem Mitgliedstaat ermöglichen, Notfallmaßnahmen zur Regelung der Verwendung oder des Verkaufs von bestimmten Stoffen oder bestimmten Mitteln zu treffen, wenn diese Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier oder der Umwelt notwendig erscheinen.

    40

    Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 sieht wiederum vor, dass die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift übermitteln. Auf diese Mitteilung folgt gemäß Art. 6 dieser Richtlinie grundsätzlich ein Aufschub der Annahme dieses Entwurfs, um der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten Gelegenheit zu geben, zu diesem Entwurf Bemerkungen vorzubringen.

    41

    Das von dieser Richtlinie vorgesehene Verfahren kann zwar nach Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 4 dieser Richtlinie Maßnahmen eines Mitgliedstaats zur Einschränkung des Inverkehrbringens oder der Verwendung eines Stoffes oder eines chemischen Erzeugnisses aus Gründen des Gesundheits- oder Umweltschutzes betreffen. Dennoch sind die beiden in der ersten Frage genannten Verfahren voneinander zu unterscheiden.

    42

    Erstens gilt Art. 5 dieser Richtlinie grundsätzlich für jeden Entwurf einer technischen Vorschrift, während Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 Maßnahmen für nach dieser Verordnung genehmigte oder zugelassene Stoffe und Mittel betrifft.

    43

    Zweitens hat die Mitteilung, die das Verfahren nach Art. 5 dieser Richtlinie einleitet, nicht dieselbe Funktion wie die offizielle Unterrichtung, durch die das mit Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 eingeführte Verfahren in Gang gesetzt wird, da diese Mitteilung es der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten ermöglichen soll, Bemerkungen vorzubringen, während die offizielle Unterrichtung in erster Linie die Kommission veranlassen soll, auf diese Unterrichtung zu reagieren, indem sie die erforderlichen Notfallmaßnahmen trifft, um dem von dem betreffenden Mitgliedstaat festgestellten Risiko zu begegnen.

    44

    Drittens unterscheiden sich die Folgen, die der Unionsgesetzgeber an die Mitteilung gemäß Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 einerseits und an die Unterrichtung gemäß Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 andererseits knüpft. Während diese Mitteilung grundsätzlich bedeutet, dass die Annahme des betreffenden Entwurfs hinausgeschoben wird, kann die in Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 genannte Unterrichtung es dem betreffenden Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen ermöglichen, unverzüglich vorläufige Schutzmaßnahmen auf nationaler Ebene zu ergreifen.

    45

    Dabei kann das in Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 vorgesehene Verfahren zwar auch zum sofortigen Erlass nationaler Maßnahmen führen, wenn der betreffende Mitgliedstaat von der zu diesem Zweck in Art. 6 Abs. 7 Buchst. a dieser Richtlinie vorgesehenen Befugnis Gebrauch macht, doch stellt diese Befugnis nur eine Ausnahme dar, deren Anwendbarkeit im Übrigen von einer in Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 nicht genannten Voraussetzung abhängig ist, nämlich der Unvorhersehbarkeit der Situation, die Gegenstand der erlassenen Notfallmaßnahme ist.

    46

    Viertens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 71 Abs. 1 dieser Verordnung, wie die Generalanwältin in Nr. 58 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, als Schutzklausel anzusehen ist.

    47

    Die Unterscheidung zwischen den in Art. 5 der Richtlinie bzw. Art. 71 der Verordnung vorgesehenen Verfahren wird daher durch Art. 7 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie bestätigt, wonach die Art. 5 und 6 der Richtlinie nicht für Vorschriften der Mitgliedstaaten gelten, durch die die Mitgliedstaaten die Schutzklauseln in Anspruch nehmen, die in verbindlichen Rechtsakten der Union enthalten sind.

    48

    Auch wenn sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, dass die Inanspruchnahme der durch einen Unionsakt vorgesehenen Befugnis, Notfallmaßnahmen zu ergreifen, voraussetzt, dass außer den in diesem Rechtsakt genannten materiellen Voraussetzungen auch die dort festgelegten Verfahrensbedingungen beachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. September 2011, Monsanto u. a., C‑58/10 bis C‑68/10, EU:C:2011:553, Rn. 69, sowie vom 13. September 2017, Fidenato u. a., C‑111/16, EU:C:2017:676, Rn. 32), ist aber gleichwohl festzustellen, dass die Befassung der Kommission gemäß Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 nur voraussetzt, dass der betreffende Mitgliedstaat die Kommission „offiziell unterrichtet“, ohne dass diese Unterrichtung in einer besonderen Form erfolgen muss.

    49

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Union und die Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, achten und unterstützen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof u. a. festgestellt, dass dieser Grundsatz nicht nur die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die Tragweite und Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, sondern auch den Unionsorganen entsprechende Pflichten zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten auferlegt (Urteile vom 4. September 2014, Spanien/Kommission, C‑192/13 P, EU:C:2014:2156, Rn. 87, und vom 19. Dezember 2019, Amoena, C‑677/18, EU:C:2019:1142, Rn. 55).

    50

    Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass zu den Garantien, die durch die Rechtsordnung der Union gewährt werden, der Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung gehört, der die Verpflichtung des zuständigen Organs umfasst, sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls zu untersuchen (Urteil vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, EU:C:2012:179, Rn. 95 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    51

    Unter diesen Umständen kann die Kommission trotz der Unterscheidung zwischen den in Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 bzw. Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 vorgesehenen Verfahren im Hinblick auf das im achten Erwägungsgrund dieser Verordnung genannte Ziel des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Umwelt einer gemäß diesem Art. 5 erfolgten Übermittlung eines Entwurfs einer technischen Vorschrift nicht jede Relevanz für die Anwendung dieses Art. 71 Abs. 1 absprechen, wenn diese Mitteilung hinreichende Angaben enthält, um der Kommission zu ermöglichen, daraus zu entnehmen, dass der betreffende Mitgliedstaat sie nach Art. 71 Abs. 1 der genannten Verordnung hätte befassen müssen.

    52

    Diese letzte Voraussetzung ist erfüllt, wenn in der betreffenden Mitteilung zum einen erwähnt wird, dass ein Risiko im Zusammenhang mit einem genehmigten Wirkstoff oder einem zugelassenen Pflanzenschutzmittel, dem durch den übermittelten Entwurf begegnet werden solle, bestehe, und zum anderen darauf hingewiesen wird, dass es unmöglich sei, diesem Risiko zu begegnen, ohne neben den geltenden Rechtsvorschriften dringend zusätzliche Maßnahmen einzuführen.

    53

    In einem solchen Fall ist es Sache der Kommission, den betreffenden Mitgliedstaat zu fragen, ob diese Mitteilung eine offizielle Unterrichtung im Sinne von Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 darstellt.

    54

    Für den Fall, dass die Kommission es unterlassen hat, eine solche Anfrage an diesen Mitgliedstaat zu richten, ist davon auszugehen, dass die Kommission durch diese Mitteilung offiziell über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen im Sinne von Art. 71 Abs. 1 der genannten Verordnung unterrichtet wurde.

    55

    Im vorliegenden Fall ist bereits der Formulierung der ersten Frage zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht, in dessen Zuständigkeit die Beurteilung des Sachverhalts im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV voll und ganz fällt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Azienda Municipale Ambiente, C‑15/19, EU:C:2020:371, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung), der Ansicht ist, dass die in Rn. 52 des vorliegenden Urteils genannten Anhaltspunkte tatsächlich aus der durch die Französische Republik erfolgten Mitteilung hervorgehen.

    56

    Außerdem ergibt sich weder aus der Vorlageentscheidung noch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Kommission die Französische Republik gefragt hätte, ob diese Mitteilung als offizielle Unterrichtung im Sinne von Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 anzusehen sei.

    57

    In jedem Fall ist es wichtig zu betonen, dass der Umstand, dass die offizielle Unterrichtung, die ein Mitgliedstaat der Kommission übermittelt, bereits einen Maßnahmenentwurf enthält, diesen Mitgliedstaat nicht von der Verpflichtung entbindet, die anderen Mitgliedstaaten und die Kommission gemäß Art. 71 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung Nr. 1107/2009 unverzüglich über den endgültigen Erlass dieser Maßnahme zu unterrichten.

    58

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 5 der Richtlinie 2015/1535 und Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen sind, dass die nach Art. 5 dieser Richtlinie erfolgte Übermittlung einer nationalen Maßnahme, mit der die Verwendung bestimmter unter diese Verordnung fallender Wirkstoffe verboten wird, als eine offizielle Unterrichtung über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen im Sinne von Art. 71 Abs. 1 dieser Verordnung anzusehen ist, wenn

    diese Mitteilung eine klare Darlegung der Anhaltspunkte enthält, die zum einen darauf hindeuten, dass diese Wirkstoffe wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellen, und zum anderen darauf, dass diesem Risiko nicht ohne die vom betreffenden Mitgliedstaat dringend ergriffenen Maßnahmen auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann, und

    die Kommission es unterlassen hat, diesen Mitgliedstaat zu fragen, ob diese Mitteilung als offizielle Unterrichtung im Sinne von Art. 71 Abs. 1 der Verordnung anzusehen sei.

    Zur zweiten Frage

    59

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen ist, dass die Durchführungsverordnungen 2018/783, 2018/784 und 2018/785 als Maßnahmen angesehen werden können, die die Kommission als Reaktion auf die am 2. Februar 2017 durch die Französische Republik erfolgte Mitteilung getroffen hat.

    60

    Nach Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 kann ein Mitgliedstaat, nachdem er die Kommission offiziell über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen unterrichtet hat, vorläufige Schutzmaßnahmen ergreifen, wenn „die Kommission nicht gemäß Artikel 69 oder Artikel 70“ dieser Verordnung „gehandelt hat“.

    61

    Schon aus dem Wortlaut von Art. 71 Abs. 1 der Verordnung ergibt sich somit, dass nur der Erlass von auf Art. 69 oder 70 der Verordnung gestützten Maßnahmen durch die Kommission für den betreffenden Mitgliedstaat jede Möglichkeit ausschließen kann, Notfallmaßnahmen zu ergreifen.

    62

    Für diese Schlussfolgerung spricht auch die allgemeine Systematik dieser Verordnung.

    63

    Wie sich aus Rn. 39 des vorliegenden Urteils ergibt, hat die offizielle Unterrichtung der Kommission durch einen Mitgliedstaat nach Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 den Zweck, ein Verfahren einzuleiten, das den Erlass von Notfallmaßnahmen durch die Kommission oder, wenn sie nicht tätig wird, durch den betroffenen Mitgliedstaat sicherstellen soll.

    64

    Der Unionsgesetzgeber hat somit ein spezifisches Notfallverfahren eingeführt, das eng mit den Notfallverfahren nach den Art. 69 und 70 dieser Verordnung verbunden ist, die wie Art. 71 zu Kapitel IX der genannten Verordnung gehören. Hingegen nehmen die Bestimmungen, mit denen diese Notfallverfahren eingeführt werden, nicht auf die anderen in dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren Bezug und sind daher als von Letzteren unabhängig anzusehen.

    65

    Das in Art. 71 der Verordnung Nr. 1107/2009 vorgesehene Verfahren unterscheidet sich insbesondere von dem in Art. 21 dieser Verordnung vorgesehenen Verfahren zur Überprüfung der Genehmigung eines Wirkstoffs, das auch auf den entsprechenden Antrag eines Mitgliedstaats hin eingeleitet werden kann.

    66

    Die Durchführungsverordnungen 2018/783, 2018/784 und 2018/785 wurden jedoch nicht auf der Grundlage von Art. 69 oder 70 der Verordnung Nr. 1107/2009, sondern auf der Grundlage anderer Bestimmungen dieser Verordnung erlassen.

    67

    Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 dahin auszulegen ist, dass die Durchführungsverordnungen 2018/783, 2018/784 und 2018/785 nicht als Maßnahmen angesehen werden können, die die Kommission als Reaktion auf die am 2. Februar 2017 durch die Französische Republik erfolgte Mitteilung getroffen hat.

    Zur dritten Frage

    68

    Angesichts der Antwort auf die zweite Frage ist die dritte Frage nicht mehr zu beantworten.

    Kosten

    69

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 5 der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft und Art. 71 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1107/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Oktober 2009 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln und zur Aufhebung der Richtlinien 79/117/EWG und 91/414/EWG des Rates sind dahin auszulegen, dass die nach Art. 5 dieser Richtlinie erfolgte Übermittlung einer nationalen Maßnahme, mit der die Verwendung bestimmter unter diese Verordnung fallender Wirkstoffe verboten wird, als eine offizielle Unterrichtung über die Notwendigkeit von Notfallmaßnahmen im Sinne von Art. 71 Abs. 1 dieser Verordnung anzusehen ist, wenn

    diese Mitteilung eine klare Darlegung der Anhaltspunkte enthält, die zum einen darauf hindeuten, dass diese Wirkstoffe wahrscheinlich ein schwerwiegendes Risiko für die Gesundheit von Mensch und Tier oder die Umwelt darstellen, und zum anderen darauf, dass diesem Risiko ohne die vom betreffenden Mitgliedstaat dringend ergriffenen Maßnahmen nicht auf zufriedenstellende Weise begegnet werden kann, und

    die Europäische Kommission es unterlassen hat, diesen Mitgliedstaat zu fragen, ob diese Mitteilung als offizielle Unterrichtung im Sinne von Art. 71 Abs. 1 der Verordnung anzusehen sei.

     

    2.

    Art. 71 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1107/2009 ist dahin auszulegen, dass die Durchführungsverordnung (EU) 2018/783 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Imidacloprid, die Durchführungsverordnung (EU) 2018/784 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Clothianidin und die Durchführungsverordnung (EU) 2018/785 der Kommission vom 29. Mai 2018 zur Änderung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 540/2011 hinsichtlich der Bedingungen für die Genehmigung des Wirkstoffs Thiamethoxam nicht als Maßnahmen angesehen werden können, die die Kommission als Reaktion auf die am 2. Februar 2017 durch die Französische Republik erfolgte Mitteilung getroffen hat.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

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