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Document 62019CC0194

    Schlussanträge des Generalanwalts A. Rantos vom 2. Februar 2021.
    H. A. gegen État belge.
    Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Belgien).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats – Art. 27 – Rechtsbehelf – Berücksichtigung von nach der Überstellungsentscheidung eingetretenen Umständen – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz.
    Rechtssache C-194/19.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:85

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    ATHANASIOS RANTOS

    vom 2. Februar 2021 ( 1 )

    Rechtssache C‑194/19

    H. A.

    gegen

    État belge

    (Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Übergang der Zuständigkeit – Art. 27 – Rechtsbehelfe – Umfang der gerichtlichen Kontrolle – Pflicht des nationalen Gerichts, nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände zu berücksichtigen, die sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken können – Voraussetzungen“

    I. Einleitung

    1.

    Gegenüber einer Person, die internationalen Schutz beantragt und ihren Antrag in einem Mitgliedstaat gestellt hatte, war eine Überstellungsentscheidung in einen anderen Mitgliedstaat ergangen. Einige Tage später reiste ihr Bruder in den ersten Mitgliedstaat ein und stellte dort einen Antrag auf internationalen Schutz.

    2.

    Muss das Gericht des ersten Mitgliedstaats, vor dem der Antragsteller eine auf Nichtigerklärung der Überstellungsentscheidung gerichtete Beschwerde erhoben hat, den nach dem Erlass dieser Entscheidung eingetretenen Umstand berücksichtigen, dass dessen Bruder dort eingereist ist und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat? Das ist im Wesentlichen die Frage, die der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) zur Vorabentscheidung vorgelegt hat ( 2 ).

    3.

    Die vorliegende Rechtssache wird dem Gerichtshof Veranlassung geben, seine Rechtsprechung zur Auslegung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ( 3 ) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung) im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu präzisieren. Der Gerichtshof wird insbesondere zu prüfen haben, in welchem Rahmen die gerichtliche Überprüfung einer Überstellungsentscheidung stattzufinden hat, die gegenüber einem Antragsteller auf internationalen Schutz ergangen ist, und ob die Ankunft eines Familienangehörigen, im vorliegenden Fall seines ebenfalls um internationalen Schutz nachsuchenden Bruders, einen Umstand darstellt, der sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken kann.

    II. Rechtlicher Rahmen

    A.   Unionsrecht

    1. Dublin‑III-Verordnung

    4.

    Die Erwägungsgründe 4, 5 und 19 der Dublin‑III-Verordnung lauten:

    „(4)

    Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

    (5)

    Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

    (19)

    Um einen wirksamen Schutz der Rechte der Betroffenen zu gewährleisten, sollten im Einklang insbesondere mit Artikel 47 der [Charta] Rechtsgarantien und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen festgeschrieben werden. Um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, sollte ein wirksamer Rechtsbehelf gegen diese Entscheidungen sowohl die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung als auch die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird.“

    5.

    Art. 1 („Gegenstand“) dieser Verordnung bestimmt:

    „Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen …“

    6.

    Art. 2 („Definitionen“) dieser Verordnung sieht in Buchst. g vor:

    „Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

    g)

    ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie des Antragstellers, die sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

    der Ehegatte des Antragstellers oder sein nicht verheirateter Partner, der mit ihm eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare,

    die minderjährigen Kinder des im ersten Gedankenstrich genannten Paares oder des Antragstellers, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach nationalem Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt,

    bei einem minderjährigen und unverheirateten Antragsteller, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem der Erwachsene sich aufhält, für den Minderjährigen verantwortlich ist,

    bei einem unverheirateten, minderjährigen Begünstigten internationalen Schutzes, der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der/die entweder nach dem Recht oder nach den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dem sich der Begünstigte aufhält, für ihn verantwortlich ist.“

    7.

    Art. 3 („Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1 und 2:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

    (2)   Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

    Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der [Charta] mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

    …“

    8.

    Art. 7 („Rangfolge der Kriterien“) Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung lautet:

    „Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.“

    9.

    Art. 10 („Familienangehörige, die internationalen Schutz beantragt haben“) dieser Verordnung lautet:

    „Hat ein Antragsteller in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.“

    10.

    Art. 12 („Ausstellung von Aufenthaltstiteln oder Visa“) Abs. 2 dieser Verordnung sieht vor:

    „Besitzt der Antragsteller ein gültiges Visum, so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, es sei denn, dass das Visum im Auftrag eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen einer Vertretungsvereinbarung gemäß Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft[ ( 4 )] erteilt wurde. In diesem Fall ist der vertretene Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig.“

    11.

    Art. 17 („Ermessensklauseln“) der Dublin‑III-Verordnung bestimmt in Abs. 1:

    „Abweichend von Artikel 3 Absatz 1 kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.

    Der Mitgliedstaat, der gemäß diesem Absatz beschließt, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen. …

    …“

    12.

    Art. 27 („Rechtsmittel“) dieser Verordnung lautet:

    „(1)   Der Antragsteller … hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

    (2)   Die Mitgliedstaaten sehen eine angemessene Frist vor, in der die betreffende Person ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.

    (3)   Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

    a)

    dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

    b)

    dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder

    c)

    die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. Die Mitgliedstaaten sorgen für einen wirksamen Rechtsbehelf in der Form, dass die Überstellung ausgesetzt wird, bis die Entscheidung über den ersten Antrag auf Aussetzung ergangen ist. Die Entscheidung, ob die Durchführung der Überstellungsentscheidung ausgesetzt wird, wird innerhalb einer angemessenen Frist getroffen, welche gleichwohl eine eingehende und gründliche Prüfung des Antrags auf Aussetzung ermöglicht. Die Entscheidung, die Durchführung der Überstellungsentscheidung nicht auszusetzen, ist zu begründen.

    (4)   Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen.

    …“

    13.

    Art. 29 („Modalitäten und Fristen“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 1 und 2:

    „(1)   Die Überstellung des Antragstellers … aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

    (2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.“

    2. Richtlinie 2013/32/EU

    14.

    Art. 1 der Richtlinie 2013/32/EU ( 5 ) lautet:

    „Mit dieser Richtlinie werden gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes gemäß der Richtlinie 2011/95/EU[ ( 6 )] eingeführt.“

    15.

    Art. 46 der Richtlinie 2013/32 sieht vor:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

    a)

    eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung,

    i)

    einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten;

    (3)   Zur Einhaltung des Absatzes 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass der wirksame Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt und bei der gegebenenfalls das Bedürfnis nach internationalem Schutz gemäß der Richtlinie [2011/95] zumindest in Rechtsbehelfsverfahren vor einem erstinstanzlichen Gericht beurteilt wird.

    (4)   Die Mitgliedstaaten legen angemessene Fristen und sonstige Vorschriften fest, die erforderlich sind, damit der Antragsteller sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann. Die Fristen dürfen die Wahrnehmung dieses Rechts weder unmöglich machen noch übermäßig erschweren.

    …“

    B.   Belgisches Recht

    16.

    Art. 39/2 § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern ( 7 ) in der zum maßgeblichen Zeitpunkt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) bestimmt:

    „Der [Rat für Ausländerstreitsachen (Belgien)] befindet auf dem Wege von Entscheiden über die übrigen Beschwerden wegen Verletzung wesentlicher oder zur Vermeidung der Nichtigkeit, der Befugnisüberschreitung oder des Befugnismissbrauchs vorgeschriebener Formen.“

    17.

    Art. 39/82 § 4 Abs. 2 und 4 dieses Gesetzes sieht vor:

    „Ist gegen den Ausländer eine Entfernungs- oder Abweisungsmaßnahme gefasst worden, deren Ausführung unmittelbar bevorsteht, insbesondere wenn er an einem in den Artikeln 74/8 und 74/9 erwähnten bestimmten Ort festgehalten oder der Regierung zur Verfügung gestellt wird, und hat er die Aussetzung der erwähnten Entfernungs- oder Abweisungsmaßnahme noch nicht auf gewöhnlichem Wege beantragt, kann er die Aussetzung der Ausführung dieser Maßnahme in äußerster Dringlichkeit in der in Artikel 39/57 § 1 Absatz 3 erwähnten Frist beantragen.

    Der Kammerpräsident oder Richter für Ausländerstreitsachen nimmt eine sorgfältige und rigorose Prüfung aller ihm vorliegenden Beweismittel vor, insbesondere der Beweismittel, die Gründe zu der Annahme liefern, die Ausführung des angefochtenen Beschlusses würde den Antragsteller dem Risiko der Verletzung der grundlegenden Menschenrechte aussetzen, für die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, im Folgenden: EMRK] keine Abweichung erlaubt ist.“

    18.

    Art. 39/84 dieses Gesetzes bestimmt:

    „Wenn beim Rat [für Ausländerstreitsachen] gemäß Artikel 39/82 ein Antrag auf Aussetzung eines Aktes anhängig gemacht wird, kann er als einziger vorläufig und unter den in Artikel 39/82 § 2 Absatz 1 vorgesehenen Bedingungen alle notwendigen Maßnahmen anordnen, um die Interessen der Parteien oder der Personen, die Interesse an der Lösung der Sache haben, sicherzustellen, Maßnahmen in Bezug auf bürgerliche Rechte ausgenommen.

    Diese Maßnahmen werden nach Anhörung oder ordnungsgemäßer Vorladung der Parteien durch einen mit Gründen versehenen Beschluss des Präsidenten der Kammer, die zuständig ist, um in der Sache zu befinden, oder von dem von ihm zu diesem Zweck bestimmten Richter für Ausländerstreitsachen angeordnet.

    In Fällen äußerster Dringlichkeit können vorläufige Maßnahmen ohne Anhörung der Parteien oder bestimmter Parteien angeordnet werden.

    Artikel 39/82 § 2 Absatz 2 ist auf die aufgrund des vorliegenden Artikels verkündeten Beschlüsse anwendbar.

    Der König bestimmt durch einen im Ministerrat beratenen Erlass das Verfahren in Bezug auf die in vorliegendem Artikel erwähnten Maßnahmen.“

    19.

    In Art. 39/85 Abs. 1 und 3 dieses Gesetzes heißt es:

    „§ 1 Ist gegen den Ausländer eine Entfernungs- oder Abweisungsmaßnahme gefasst worden, deren Ausführung unmittelbar näher rückt, insbesondere wenn er anschließend an einem in den Artikeln 74/8 und 74/9 erwähnten bestimmten Ort festgehalten oder der Regierung zur Verfügung gestellt wird, kann der Ausländer im Wege vorläufiger Maßnahmen im Sinne von Artikel 39/84 beantragen, dass der Rat [für Ausländerstreitsachen] einen zuvor eingereichten gewöhnlichen Aussetzungsantrag möglichst schnell untersucht, vorausgesetzt, der Antrag ist in die Liste eingetragen worden und der Rat hat noch nicht über ihn befunden. Dieser Antrag auf vorläufige Maßnahmen muss innerhalb der in Artikel 39/57 § 1 Absatz 3 erwähnten Frist eingereicht werden.

    § 3 Unbeschadet von § 1 kann nach Empfang des Antrags auf vorläufige Maßnahmen die Zwangsvollstreckung der Entfernungs- oder Abweisungsmaßnahme nicht vorgenommen werden, bis der Rat [für Ausländerstreitsachen] über den eingereichten Antrag befunden hat. Wenn die Aussetzung nicht gewährt wird, ist die Zwangsvollstreckung der Maßnahme wieder möglich.“

    III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof

    20.

    Am 22. Mai 2017 kam H. A. (im Folgenden: Kassationsbeschwerdeführer), der palästinensischer Herkunft ist, in Belgien an. Am darauffolgenden Tag stellte er in diesem Mitgliedstaat einen Asylantrag.

    21.

    Am 31. Mai 2017 hörten die belgischen Behörden den Kassationsbeschwerdeführer an, um den Mitgliedstaat zu bestimmen, der im Rahmen der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

    22.

    Am 22. Juni 2017 ersuchten die belgischen Behörden die spanischen Behörden gemäß Art. 12 Abs. 2 dieser Verordnung um Aufnahme des Kassationsbeschwerdeführers. Am 4. Juli 2017 gaben die spanischen Behörden dem Aufnahmeersuchen statt.

    23.

    Am 1. August 2017 erließen die belgischen Behörden gegenüber dem Kassationsbeschwerdeführer eine Entscheidung, mit der ihm der Aufenthalt verweigert und ihm aufgegeben wurde, das belgische Hoheitsgebiet zu verlassen (im Folgenden: Entscheidung vom 1. August 2017).

    24.

    Am 25. August 2017 legte der Kassationsbeschwerdeführer beim Rat für Ausländerstreitsachen eine auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung gerichtete Beschwerde ein und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung. Er machte geltend, dass sein Bruder am 22. August 2017 nach Belgien eingereist sei und in diesem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt habe, so dass es aufgrund der gemeinsamen Umstände in seinem Asylantrag und in dem seines Bruders unerlässlich sei, dass die belgischen Behörden die in Rede stehenden Anträge zusammen prüften.

    25.

    Mit Entscheid vom 30. November 2017 wies der Rat für Ausländerstreitsachen die Beschwerde mit der Begründung zurück, dass es sich bei der Ankunft des Bruders des Kassationsbeschwerdeführers in Belgien und bei dessen anhängigem Antrag auf internationalen Schutz um Umstände handele, die nach der Entscheidung vom 1. August 2017 eingetreten seien und sich auf deren Rechtmäßigkeit nicht auswirken könnten.

    26.

    Am 28. Dezember 2017 legte der Kassationsbeschwerdeführer gegen diesen Entscheid Kassationsbeschwerde beim Staatsrat ein und machte u. a. geltend, dass dieser Entscheid gegen Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstoße.

    27.

    Zur Stützung seiner Kassationsbeschwerde trug der Kassationsbeschwerdeführer vor, dass er zum Zeitpunkt seiner Anhörung durch die belgischen Behörden im Rahmen des Verfahrens zur Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats, d. h. am 31. Mai 2017, zum einen noch nicht darauf habe hinweisen können, dass sein Bruder, der später nach Belgien eingereist sei, in diesem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt habe, und dass zum anderen die belgischen Behörden ihre Zuständigkeit für die Prüfung des zuletzt genannten Antrags anerkannt hätten. Diesen neuen Umstand habe er erst in seiner Beschwerde gegen die Entscheidung vom 1. August 2017 geltend machen können Der Kassationsbeschwerdeführer machte geltend, aufgrund des engen Zusammenhangs der Umstände der Verfolgung, denen sein Bruder und er ausgesetzt gewesen seien, hätten die belgischen Behörden die von ihnen gestellten Asylanträge zusammen prüfen müssen. Der Kassationsbeschwerdeführer wendet sich insoweit dagegen, dass sich der Rat für Ausländerstreitsachen geweigert habe, diesen neuen Umstand zu berücksichtigen, weil er nach der Entscheidung vom 1. August 2017 eingetreten sei, und dass sich der Rat für Ausländerstreitsachen auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt habe, obwohl dieser Umstand für eine faire Prüfung seines Asylantrags möglicherweise entscheidend gewesen sei und der ihm gegenüber ergangenen Überstellungsentscheidung entgegenstehe.

    28.

    Der Staatsrat weist darauf hin, dass sich die vom Rat für Ausländerstreitsachen ausgeübte gerichtliche Kontrolle einer im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung getroffenen Überstellungsentscheidung nach Art. 39/2 § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 auf die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung beziehe, wie sie von der Verwaltungsbehörde auf der Grundlage der ihr vorliegenden Akten und Informationen erlassen worden sei. Im vorliegenden Fall stehe die Weigerung des Rates für Ausländerstreitsachen, nach dem Erlass der Entscheidung vom 1. August 2017 eingetretene Umstände zu berücksichtigen, daher im Einklang mit dieser Bestimmung.

    29.

    Das vorlegende Gericht hegt jedoch Zweifel, ob es mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem in Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta vorgesehenen Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, vereinbar ist, wenn eine im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung ergangene Überstellungsentscheidung gerichtlich überprüft wird, ohne bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die nach ihrem Erlass eingetreten sind.

    30.

    Das vorlegende Gericht führt aus, dass es in seiner Eigenschaft als Kassationsgericht nicht befugt sei, zu beurteilen, welche praktischen Auswirkungen die vom Kassationsbeschwerdeführer angeführten neuen Gesichtspunkte auf die Bestimmung des Staates haben könnten, der für die Prüfung des von ihm gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei.

    31.

    Unter diesen Umständen hat der Staatsrat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung für sich genommen und in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass er, um das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel zu gewährleisten, vorschreibt, dass das nationale Gericht gegebenenfalls Umstände berücksichtigt, die nach dem Erlass der „Dublin-Überstellungsentscheidung“ eingetreten sind?

    32.

    Der Kassationsbeschwerdeführer, die belgische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Kassationsbeschwerdeführer, die belgische Regierung und die Europäische Kommission haben außerdem in der mündlichen Verhandlung vom 9. November 2020 Ausführungen gemacht.

    IV. Würdigung

    A.   Zulässigkeit

    33.

    In ihren schriftlichen Erklärungen macht die belgische Regierung geltend, dass über das Vorabentscheidungsersuchen nicht entschieden zu werden brauche, weil das Königreich Belgien wegen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung für den Vollzug der Überstellung vorgesehenen Frist von sechs Monaten zum für die Prüfung des Antrags des Kassationsbeschwerdeführers auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat geworden sei.

    34.

    In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs hat der Staatsrat mitgeteilt, dass es ihm nicht möglich sei, zum jetzigen Zeitpunkt von sich aus und ohne Erörterung mit den Parteien zu entscheiden, dass der Kassationsbeschwerdeführer an der Aufhebung des Entscheids des Rates für Ausländerstreitsachen vom 30. November 2017 kein Interesse mehr habe und eine Beantwortung der Vorlagefrage für die Entscheidung des bei ihm als Kassationsgericht anhängigen Rechtsstreits nicht mehr erforderlich sei.

    35.

    Insoweit ist es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen ( 8 ).

    36.

    Im vorliegenden Fall ist in Anbetracht der vom vorlegenden Gericht erteilten Auskünfte und seiner Erklärung zur Erheblichkeit der Vorlagefrage davon auszugehen, dass eine Antwort des Gerichtshofs auf die Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens zweckmäßig bleibt, obwohl ich persönlich ernsthafte Zweifel an der Begründung dieser Erklärung – auch im Rahmen einer auf Nichtigkeit gerichteten Beschwerde und einer Rechtmäßigkeitskontrolle – hege.

    37.

    Daher ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen als zulässig zu prüfen.

    B.   Zur Beantwortung der Frage

    1. Zur Notwendigkeit einer gerichtlichen Überprüfung unter Berücksichtigung von Umständen, die nach Erlass einer Überstellungsentscheidung gegenüber einem Antragsteller auf internationalen Schutz eingetreten sind

    38.

    Nach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung hat der Antragsteller auf internationalen Schutz das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

    39.

    Der Umfang des einem Antragsteller auf internationalen Schutz gegen eine ihm gegenüber ergangene Überstellungsentscheidung zustehenden Rechtsbehelfs wird im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung näher umschrieben. Danach soll der durch diese Verordnung geschaffene wirksame Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen, um die Einhaltung des Völkerrechts sicherzustellen, zum einen die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung und zum anderen die Prüfung der Rechts- und Sachlage in dem Mitgliedstaat umfassen, in den der Antragsteller überstellt wird ( 9 ).

    40.

    Außerdem erwähnt der Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung keine Beschränkung des Vorbringens, auf das sich der Asylbewerber im Rahmen seines Rechtsmittels stützen kann ( 10 ).

    41.

    Der Gerichtshof hat bereits mehrfach die Frage der Berücksichtigung von Umständen geprüft, die nach Erlass einer gegenüber einem Antragsteller auf internationalen Schutz ergangenen Überstellungsentscheidung eingetreten sind. Er hat entschieden, dass das mit einem Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht in den beiden folgenden Fällen verpflichtet ist, solche später eingetretenen Umstände zu prüfen.

    a) Schutz des Antragstellers auf internationalen Schutz vor der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im zuständigen Mitgliedstaat

    42.

    Im ersten Fall geht es darum, eine erlassene Überstellungsentscheidung nicht zu vollstrecken, um den Verpflichtungen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten aus Art. 4 der Charta zum Schutz der Grundrechte des Antragstellers auf internationalen Schutz nachzukommen.

    43.

    In diesem Sinne hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden ( 11 ).

    44.

    Um zu dieser Feststellung zu gelangen, hat sich der Gerichtshof auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) bezogen ( 12 ). Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der EGMR in einer anderen Rechtssache ausgeführt hat, dass er zur Beurteilung, ob für Ausländer, denen die Ausweisung oder Auslieferung droht, tatsächlich die Gefahr von Behandlungen besteht, die gegen Art. 3 EMRK verstoßen, eine umfassende Ex-nunc-Prüfung der Situation im Bestimmungsland vornehmen muss, weil sich diese Situation im Lauf der Zeit ändern kann ( 13 ). Obwohl innerhalb des EGMR Vorbehalte gegen die Vornahme einer solchen Ex-nunc-Prüfung bestehen ( 14 ), ist diese bestätigt worden ( 15 ).

    45.

    Für die Anwendung von Art. 4 der Charta ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin‑III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren ( 16 ).

    46.

    Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 der Dublin‑III-Verordnung stellt eine Kodifizierung der Rechtsprechung des Gerichtshofs dar ( 17 ). Folglich sieht bereits diese Verordnung selbst ausdrücklich einen Umstand vor – nämlich das Bestehen systemischer Schwachstellen im zuständigen Mitgliedstaat, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen –, dessen Eintreten nach dem Erlass einer gegenüber einem Antragsteller auf internationalen Schutz ergangenen Überstellungsentscheidung ihrer Vollstreckung entgegensteht.

    47.

    Im vorliegenden Fall wirft das Ausgangsverfahren die Frage der Gefahr einer solchen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Aufnahmemitgliedstaat nicht auf ( 18 ).

    b) Vorliegen nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetretener Umstände, die für die korrekte Anwendung der Dublin‑III-Verordnung ausschlaggebend sind

    48.

    Der zweite Fall einer Berücksichtigung von Umständen, die nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetreten sind, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die im 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung enthaltene Bezugnahme auf die Prüfung der Anwendung dieser Verordnung, die im Rahmen des in ihrem Art. 27 Abs. 1 vorgesehenen Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung vorzunehmen ist, dahin zu verstehen ist, dass sie insbesondere auf die Überprüfung der richtigen Anwendung der in Kapitel III der Verordnung normierten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats einschließlich des in Art. 12 dieser Verordnung genannten Zuständigkeitskriteriums abzielt ( 19 ).

    49.

    Somit kann Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes dazu führen, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats in Frage gestellt wird, auch wenn in diesem Mitgliedstaat keine systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber bestehen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta mit sich bringen ( 20 ).

    50.

    Der Gerichtshof hat ferner klargestellt, dass der Unionsgesetzgeber die Rechtmäßigkeit von Überstellungsentscheidungen an Garantien geknüpft hat, indem er dem betreffenden Asylbewerber u. a. in Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung das Recht zuerkannt hat, vor einem Gericht ein wirksames Rechtsmittel gegen eine solche Entscheidung einzulegen, das sich sowohl auf Sach- als auch auf Rechtsfragen erstreckt ( 21 ).

    51.

    Das Urteil Shiri ( 22 ) war der erste Schritt, mit dem der Gerichtshof Umstände berücksichtigt hat, die nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetreten sind, um den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat zu bestimmen.

    52.

    In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hatte die zuständige österreichische Behörde den Antrag von Herrn Majid Shiri auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen, seine Außerlandesbringung angeordnet und die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Bulgarien festgestellt. Gegen diesen Bescheid erhob Herr Shiri Beschwerde und machte geltend, wegen Ablaufs der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Überstellungsfrist von sechs Monaten sei nunmehr die Republik Österreich der für die Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat. Im jenem Fall war diese sechsmonatige Frist nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung abgelaufen.

    53.

    Der Gerichtshof hatte daher zu entscheiden, ob es mit dem Unionsrecht im Einklang steht, dass das angerufene österreichische Gericht diesen nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Umstand berücksichtigt.

    54.

    Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, betrachtet vor dem Hintergrund ihres 19. Erwägungsgrundes, sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihr ermöglicht, sich auf den nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Verordnung festgelegten sechsmonatigen Frist zu berufen. Das einem solchen Antragsteller aufgrund einer innerstaatlichen Regelung zustehende Recht, sich im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung auf nach ihrem Erlass eingetretene Umstände zu berufen, genügt dieser Verpflichtung, einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf vorzusehen ( 23 ).

    55.

    In der Folge hat der Gerichtshof seinen Ansatz im Urteil Hasan ( 24 ) weiter formalisiert. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, war Herr Aziz Hasan, nachdem er einen Asylantrag in Deutschland gestellt hatte, aufgrund der Zurückweisung seiner Klage auf Aufhebung der Überstellungsentscheidung nach Italien, dem Mitgliedstaat seines ersten Asylantrags, überstellt worden und illegal nach Deutschland zurückgekehrt. Herr Hasan legte Berufung ein. Für diesen Fall sah das deutsche Recht vor, dass das mit einem Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung befasste Gericht grundsätzlich auf die Sachlage zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor diesem Gericht oder, wenn keine mündliche Verhandlung stattfindet, auf den Zeitpunkt abstellen muss, zu dem das Gericht über dieses Rechtsmittel entscheidet.

    56.

    Im Urteil Hasan führte der Gerichtshof unter Bezugnahme auf das Urteil Shiri aus, dass der Antragsteller auf internationalen Schutz über einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf verfügen können muss, der es ihm ermöglicht, sich auf nach dem Erlass der ihm gegenüber ergangenen Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände zu berufen, wenn deren Berücksichtigung für die ordnungsgemäße Anwendung der Dublin-III-Verordnung entscheidend ist ( 25 ).

    57.

    Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache lassen sich meines Erachtens aus der Auslegung des Gerichtshofs in den Urteilen Shiri und Hasan zwei Lehren ziehen.

    58.

    Zum einen ist das zuständige nationale Gericht nach dem Unionsrecht verpflichtet, Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetreten sind. Meines Erachtens ist diese Lösung voll und ganz gerechtfertigt, weil der im vorliegenden Fall angeführte Umstand geeignet war, die Anwendung der Dublin‑III-Verordnung auf den Antragsteller auf internationalen Schutz zu beeinflussen ( 26 ). Wie aus dem 5. Erwägungsgrund dieser Verordnung hervorgeht, verfolgt diese nämlich gerade das Ziel, objektive und gerechte Kriterien sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die betroffenen Personen anzuwenden. Wenn sich ein Umstand, der nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten ist, objektiv auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken kann, muss der Antragsteller die Möglichkeit haben, sich vor dem zuständigen nationalen Gericht darauf zu berufen und davon zu profitieren ( 27 ).

    59.

    Zum anderen ergibt sich das Recht der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, auf Prüfung von Umständen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind, unmittelbar aus Bestimmungen des Unionsrechts. Zu diesem Ergebnis ist der Gerichtshof nämlich durch Auslegung von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta gelangt.

    60.

    Für mich steht fest, dass der Gerichtshof in diesen beiden Urteilen den Grundsatz aufgestellt hat, dass Umstände, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind, zwingend berücksichtigt werden müssen, allerdings nur dann, wenn sie sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken können.

    61.

    Ließe man nämlich zu, dass nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung mit einem oder mehreren aufeinander folgenden Rechtsbehelfen Umstände geltend gemacht werden, auf die es nicht entscheidend ankommt, könnte dies leicht zu einer Überschreitung der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung genannten Frist von sechs Monaten führen und würde damit das im 5. Erwägungsgrund dieser Verordnung genannte Ziel einer zügigen Bearbeitung von Anträgen auf internationalen Schutz gefährden. Damit würden die Mechanismen zur Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats umgangen, insbesondere im Hinblick auf die erste Einreise in das Gebiet der Union.

    2. Zur verfahrensrechtlichen Tragweite von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung

    62.

    Da der Gerichtshof entschieden hat, dass bestimmte Umstände, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind, von den mit einem Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung befassten nationalen Gerichten berücksichtigt werden müssen, halte ich es für erforderlich, zur Bestimmung der verfahrensrechtlichen Tragweite dieser gerichtlichen Kontrolle zu prüfen, ob diese durch das Unionsrecht harmonisiert worden ist.

    a) Argumente, die für eine den Mitgliedstaaten eingeräumte Verfahrensautonomie sprechen

    63.

    Mehrere am Wortlaut orientierte Argumente sprechen für die Anerkennung einer Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Berücksichtigung nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretener Umstände bei der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung.

    64.

    Das erste Argument stützt sich auf den Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 dieser Verordnung. Diese Bestimmung sieht nämlich lediglich vor, dass der Antragsteller das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht hat. Diese Bestimmung erwähnt in keiner Weise die Möglichkeit einer Ex-nunc-Prüfung durch das angerufene nationale Gericht.

    65.

    Dies unterscheidet sich deutlich von Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32, in dem es ausdrücklich heißt, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein wirksamer Rechtsbehelf eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt ( 28 ). Dagegen legt das Schweigen des Unionsgesetzgebers zur Möglichkeit einer solchen Prüfung im Rahmen von Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung eine den Mitgliedstaaten eingeräumte Verfahrensautonomie nahe.

    66.

    Das zweite Argument ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung, wonach bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen wird, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Es handelt sich um eine Vorschrift, die verhindern soll, dass Antragsteller auf internationalen Schutz die in dieser Verordnung vorgesehenen Kriterien umgehen. Somit kann die Ex-nunc-Kontrolle nur ausnahmsweise erfolgen.

    67.

    Diese Bestimmungen könnten dahin ausgelegt werden, dass es keine einschlägigen Unionsregeln gibt. So hat sich der Gerichtshof in einem kürzlich ergangenen Urteil auf den Wortlaut von Art. 46 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 gestützt, als er entschied, dass diese Bestimmung es den Mitgliedstaaten überlässt, die Vorschriften festzulegen, die erforderlich sind, damit Personen, die internationalen Schutz beantragen, ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf wahrnehmen können. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass die in jener Rechtssache in Rede stehenden Vorschriften unter den Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten fallen, wobei der Äquivalenzgrundsatz und der Effektivitätsgrundsatz zu wahren sind ( 29 ).

    b) Argumente, die für eine durch das Unionsrecht harmonisierte gerichtliche Kontrolle sprechen

    68.

    Die am Wortlaut orientierten Argumente für eine den Mitgliedstaaten eingeräumte Verfahrensautonomie sind nicht unbeachtlich. Meines Erachtens hat der Gerichtshof diesen Meinungsstreit jedoch in den Urteilen Shiri und Hasan entschieden.

    69.

    In diesen Urteilen hat der Gerichtshof nämlich nichts von einer den Mitgliedstaaten eingeräumten Verfahrensautonomie erwähnt, die so weit ginge, dem zuständigen nationalen Gericht jede Möglichkeit zur Prüfung von Umständen abzusprechen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind. Wie ich in Nr. 59 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ist der Gerichtshof im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangt, dass solche nachträglich eingetretenen Umstände auf der Grundlage von Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta zu berücksichtigen sind. Aus diesen beiden Vorschriften in Verbindung mit dem 19. Erwägungsgrund der Dublin‑III-Verordnung ergibt sich das Recht des Antragstellers auf internationalen Schutz, die nach Erlass der ihm gegenüber getroffenen Überstellungsentscheidung eingetretenen Umstände durch das zuständige nationale Gericht prüfen zu lassen.

    70.

    Diese Rechtsprechung steht auch nicht im Widerspruch zum Wortlaut von Art. 7 Abs. 2 der Dublin‑III-Verordnung. Zum einen muss nämlich nach dieser Bestimmung die Verwaltung des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, den zuständigen Mitgliedstaat auf der Grundlage der Situation bestimmen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung bestand. Zum anderen hat das nationale Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasst ist, zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes dieses Antragstellers im Rahmen einer Ex-nunc-Prüfung spätere Umstände wie den Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Sechsmonatsfrist, die für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung maßgeblich sind, zu berücksichtigen.

    c) Zwischenergebnis

    71.

    Meines Erachtens hat der Gerichtshof das Recht der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, auf Berücksichtigung nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretener Umstände, die sich auf die Bestimmung des für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaats auswirken können, eindeutig an spezifische Bestimmungen des Unionsrechts geknüpft, die dafür die Rechtsgrundlage bilden.

    72.

    Daraus folgt, dass die gerichtliche Überprüfung dieser später eingetretenen Umstände unionsrechtlich in dem Sinne harmonisiert ist, dass das zuständige nationale Gericht oder die zuständigen nationalen Gerichte unabhängig von der nationalen Verfahrensregelung über den Umfang dieser Überprüfung verpflichtet sind, bestimmte Umstände zu berücksichtigen, die nach Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind.

    3. Zu dem Fall, dass das nationale Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasst ist, nicht befugt ist, nach dieser Entscheidung eingetretene Umstände zu prüfen

    73.

    Das vorlegende Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn die nationalen Rechtsvorschriften für das nationale Gericht keine Möglichkeit vorsehen, Umstände zu berücksichtigen, die nach Erlass der gegenüber einem Antragsteller auf internationalen Schutz ergangenen Überstellungsentscheidung eingetreten sind.

    a) Voraussetzungen für eine Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht

    74.

    Die Urteile Shiri und Hasan betrafen Fälle, in denen die nationalen Rechtsvorschriften eine Ex-nunc-Prüfung von Umständen erlaubten, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten waren. Da der Gerichtshof die Anwendung seiner Rechtsprechung jedoch nicht auf Fälle beschränkt hat, in denen diese Voraussetzung gegeben ist, kann diese Lösung meines Erachtens auch auf eine nationale Regelung angewendet werden, die eine solche Prüfung nicht vorsieht.

    75.

    Im vorliegenden Fall beruft sich der Staatsrat darauf, dass die nationalen Rechtsvorschriften eine Rechtmäßigkeitskontrolle der angefochtenen Entscheidung durch den Rat für Ausländerstreitsachen vorsähen. Daraus folge, dass das letztgenannte Gericht auf der Grundlage der Sachlage zu entscheiden habe, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Überstellungsentscheidung bestanden habe. In der mündlichen Verhandlung hat die belgische Regierung jedoch vorgetragen, dass der Rat für Ausländerstreitsachen berechtigt sei, im Rahmen seiner Prüfung Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten seien.

    76.

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat ( 30 ). In Anbetracht der Angaben des vorlegenden Gerichts ist daher davon auszugehen – auch wenn ich insoweit Zweifel hege –, dass die vom Rat für Ausländerstreitsachen vorgenommene gerichtliche Überprüfung es ihm nicht erlaubt, Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Erlass der Entscheidung über die Überstellung eines Antragstellers auf internationalen Schutz eingetreten sind.

    77.

    Auf den ersten Blick scheint eine solche gerichtliche Überprüfung nicht im Einklang mit dem Unionsrecht zu stehen, weil sie offenbar nicht mit der vom Gerichtshof in den Urteilen Shiri und Hasan vorgenommenen Auslegung übereinstimmt.

    78.

    Zum einen bedeutet die unionsrechtlich vorgeschriebene Berücksichtigung von Umständen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind, meines Erachtens aber keine Änderung der Art der gerichtlichen Überprüfung, die das nationale Recht vorsieht, nämlich einer Rechtmäßigkeitskontrolle.

    79.

    In diesem Sinne bin ich der Auffassung, dass die Rechtsprechung des EGMR eine solche Änderung nicht erfordert ( 31 ). Hierzu möchte ich darauf hinweisen, dass der EGMR bereits entschieden hat, dass das nationale Gericht seine eigenen Tatsachenfeststellungen zwar nicht an die Stelle derjenigen der Verwaltungsbehörde setzen durfte, aber befugt gewesen wäre, sich zu vergewissern, dass die Feststellungen der Verwaltungsbehörde oder die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen weder willkürlich noch irrational sind, und dass ein solches Vorgehen von einem Berufungsgericht in spezialisierten Rechtsgebieten vernünftigerweise hätte erwartet werden können, insbesondere wenn der Sachverhalt zuvor im Rahmen eines quasi-gerichtlichen Verfahrens festgestellt worden sei, das viele der Anforderungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfülle. Letztlich hat der EGMR entschieden, dass eine solche Kontrolle keinen Verstoß gegen diese Bestimmung der EMRK darstellt ( 32 ).

    80.

    Im Urteil Sigma Radio Television Ltd/Zypern ( 33 ) hat der EGMR seine Auslegung im Zusammenhang mit der traditionellen Ausübung ihrer Befugnisse durch die Verwaltung in speziellen Rechtsgebieten, die besondere Berufserfahrung oder Fachkenntnisse erfordern, zusammengefasst, indem er Kriterien für die Beurteilung aufgestellt hat, ob die Kontrolle ausreichend im Sinne der EMRK war. Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass ein „Gericht“, um über eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche und Pflichten im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 EMRK entscheiden zu können, für die Prüfung aller Tatsachen- und Rechtsfragen zuständig sein muss, die für den bei ihm anhängigen Rechtsstreit relevant sind. Unter bestimmten Voraussetzungen entspricht die Rechtmäßigkeitskontrolle durch ein nationales Gericht diesen Anforderungen.

    81.

    In Anlehnung an diese Rechtsprechung kann davon ausgegangen werden, dass das Unionsrecht in Ermangelung einer entsprechenden unionsrechtlichen Bestimmung von einem Mitgliedstaat nicht verlangen kann, im Rahmen der Berücksichtigung von Umständen, die nach dem Erlass der Entscheidung über die Überstellung eines Antragstellers auf internationalen Schutz eingetreten sind, dem angerufenen nationalen Gericht die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung zu verleihen.

    82.

    Da die Berücksichtigung bestimmter nachträglicher Umstände jedoch zwingend erforderlich ist, um dem Unionsrecht nachzukommen, bin ich zum anderen der Auffassung, dass die Prüfung dieser Umstände durch dasselbe nationale Gericht – auch im Rahmen eines anderen Verfahrens – oder im Wege eines Verfahrens vor einem anderen nationalen Gericht erfolgen muss, sofern diese Verfahren einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf darstellen ( 34 ). In diesem Sinne muss das ergangene Urteil, ohne das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gefährden, das mit dem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht binden. Der Antragsteller auf internationalen Schutz muss nämlich in den Genuss einer tatsächlichen Berücksichtigung von Umständen kommen können, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind und sich auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auswirken können, um einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewährleisten.

    83.

    Im Ergebnis nimmt der Umstand, dass die gerichtliche Überprüfung von Umständen, die nach dem Erlass einer Überstellungsentscheidung eingetreten sind, durch das Unionsrecht harmonisiert wird, den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten für Rechtsbehelfe im Rahmen der Anwendung von Art. 27 der Dublin‑III-Verordnung und von Art. 47 der Charta zu regeln. Insoweit müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass die Rechtmäßigkeit einer Überstellungsentscheidung in Frage gestellt werden kann, wenn Umstände, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind, für die ordnungsgemäße Anwendung dieser Verordnung ausschlaggebend sind.

    84.

    Zwar scheint nur ein geringer Unterschied zu der Fallgestaltung zu bestehen, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil Unibet ( 35 ) ergangen ist und in der der Gerichtshof für Recht erkannt hat, dass der Grundsatz des effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass es in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften mit Art. 49 EG (jetzt Art. 56 AEUV) gerichtet ist, wenn andere Rechtsbehelfe, die nicht weniger günstig ausgestaltet sind als entsprechende nationale Klagen, die Prüfung dieser Vereinbarkeit als Vorfrage ermöglichen.

    85.

    Dieser Unterschied liegt jedoch darin, dass es im Rahmen der Dublin‑III-Verordnung eine besondere Rechtsgrundlage für die Überprüfung durch die nationalen Gerichte gibt, nämlich Art. 27 dieser Verordnung, der ein im Hauptantrag gegen die Überstellungsentscheidung gerichtetes Rechtsmittel einführt. Soweit es hingegen um nach dieser Entscheidung eingetretene Umstände geht, auf die sich der Antragsteller auf internationalen Schutz beruft, können die Modalitäten der nationalen gerichtlichen Überprüfung verschiedene Formen annehmen, sofern die meines Erachtens im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie in Nr. 82 der vorliegenden Schlussanträge dargelegt sind, beachtet werden.

    b) Vorhandensein eines Dringlichkeitsverfahrens und vorläufiger Maßnahmen

    86.

    Die belgische Regierung macht in ihren schriftlichen Erklärungen geltend, dass nach dem Gesetz vom 15. Dezember 1980 ( 36 ) Umstände, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten seien, in äußerster Dringlichkeit in Form eines verwaltungsrechtlichen Eilverfahrens berücksichtigt würden. Der Kammerpräsident oder Richter für Ausländerstreitsachen müsse dann alle ihm zur Kenntnis gebrachten Beweise prüfen. Das belgische Recht sehe somit eine Ex-nunc-Prüfung der Situation des Antragstellers auf internationalen Schutz vor. Im Rahmen der vorläufigen Maßnahmen müsse der Rat für Ausländerstreitsachen ebenfalls eine Ex-nunc-Prüfung vornehmen. Somit erlaube die Gesamtheit der diesem Antragsteller zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe die Berücksichtigung von Umständen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten seien.

    87.

    Wie in Nr. 82 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, bin ich der Auffassung, dass die Berücksichtigung solcher später eingetretenen Umstände im Rahmen eines anderen als des gegen die Überstellungsentscheidung gerichteten Verfahrens erfolgen kann, sofern es sich um einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf handelt; in diesem Fall muss das im Rahmen dieses anderen Rechtsbehelfs ergangene Urteil jedoch das mit dem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht binden.

    88.

    Zusammen betrachtet müssen die Rechtsbehelfe, die dem Antragsteller auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat zur Verfügung gestellt werden, daher eine vollständige Berücksichtigung der Umstände ermöglichen, die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetreten sind und sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken können. In diesem Sinne müssen diese Rechtsbehelfe dazu führen können, dass die Überstellungsentscheidung endgültig nicht vollstreckt wird, wenn die nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretenen Umstände eine solche Wirkung haben.

    89.

    Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass das in Art. 267 AEUV errichtete System der Zusammenarbeit nach ständiger Rechtsprechung auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht. Im Rahmen eines gemäß diesem Artikel eingeleiteten Verfahrens ist die Auslegung der nationalen Vorschriften Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten und nicht des Gerichtshofs, und es kommt diesem nicht zu, sich zur Vereinbarkeit von Vorschriften des innerstaatlichen Rechts mit den Bestimmungen des Unionsrechts zu äußern. Dagegen ist der Gerichtshof befugt, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die es diesem Gericht ermöglichen, die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht zu beurteilen ( 37 ).

    90.

    In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu überprüfen, inwieweit die verschiedenen Rechtsbehelfe, die die nationale Regelung vorsieht, geeignet sind, die Voraussetzung zu erfüllen, dass nach dem Erlass der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände, die sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken können, voll zur Wirkung gelangen.

    91.

    Sollte dies der Fall sein, stünde die belgische Regelung im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, die sich aus den Urteilen Shiri und Hasan ergibt. Andernfalls wäre die Verpflichtung des nationalen Gerichts, solche nachträglich eingetretenen Umstände zu berücksichtigen, nach Unionsrecht nicht erfüllt.

    4. Zu dem Umstand, dass der Bruder der Person, deren Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, später in diesem Mitgliedstaat einen gleichartigen Antrag gestellt hat

    92.

    Geht man davon aus, dass das nationale Recht es erlaubt, Umstände zu berücksichtigen, die nach dem Erlass der Entscheidung über die Überstellung eines Antragstellers auf internationalen Schutz eingetreten sind, ist zu prüfen, inwieweit sich der vom Kassationsbeschwerdeführer geltend gemachte Umstand, dass sein Bruder nach der Ablehnung dieses Antrags auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat selbst einen solchen Antrag gestellt hat, auf die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats im Rahmen der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung auswirken kann.

    93.

    Insoweit hat der Kassationsbeschwerdeführer geltend gemacht, dass aufgrund der übereinstimmenden Umstände der Verfolgung, denen sein Bruder und er ausgesetzt gewesen seien, eine gemeinsame Prüfung ihrer Anträge auf internationalen Schutz, im vorliegenden Fall durch die belgischen Behörden, geeignet sei, ihnen eine faire Prüfung dieser Umstände und einen wirksamen Zugang zum internationalen Schutz zu gewährleisten, was der ihm gegenüber erlassenen Überstellungsentscheidung entgegenstehe.

    94.

    Zu diesem Vorbringen ist darauf hinzuweisen, dass jeder Antrag auf internationalen Schutz unter Prüfung des besonderen Falls des Antragstellers zu behandeln ist. Wie der Gerichtshof ausgeführt hat, folgt aus den Anforderungen einer individuellen und vollständigen Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz, dass Anträge, die von den Angehörigen einer Familie getrennt gestellt werden, auch wenn bei ihnen Maßnahmen zum Umgang mit etwaigen Zusammenhängen ergriffen werden können, bezogen auf die Situation jedes einzelnen Betroffenen zu prüfen sind. Sie können daher nicht gemeinsam geprüft werden ( 38 ).

    95.

    Die Dublin‑III-Verordnung legt jedoch spezifische Kriterien fest, die sich auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken können. Dies ist u. a. bei Familienangehörigen der Fall, die internationalen Schutz beantragen, wie dies in Art. 10 dieser Verordnung vorgesehen ist.

    96.

    Im vorliegenden Fall kann der Bruder eines Antragstellers auf internationalen Schutz angesichts der Definition in Art. 2 Buchst. g der Dublin‑III-Verordnung nicht als einer der „Familienangehörigen“ im Sinne dieser Bestimmung angesehen werden. Folglich können jedenfalls weder der Kassationsbeschwerdeführer noch sein Bruder in den Genuss der Anwendung von Art. 10 dieser Verordnung kommen ( 39 ). Außerdem fällt eine volljährige Person wie der Bruder des Kassationsbeschwerdeführers nicht in den Anwendungsbereich von Art. 11 dieser Verordnung.

    97.

    In der mündlichen Verhandlung hat der Kassationsbeschwerdeführer erklärt, sein Antrag beziehe sich auf Art. 17 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung, der eine Ermessensklausel vorsehe, nach der jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 dieser Verordnung beschließen könne, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig sei.

    98.

    Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung aber dahin auszulegen, dass er nicht dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der in Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Befugnis keinen Gebrauch zu machen, vorzusehen, wovon die Möglichkeit unberührt bleibt, diese Entscheidung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung anzufechten ( 40 ).

    99.

    Unter diesen Umständen erscheint der bloße Umstand, dass nach dem Erlass einer Entscheidung, mit der ein erster Mitgliedstaat einem Antragsteller auf internationalen Schutz den Aufenthalt mit der Begründung verweigert, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung seines Antrags zuständig sei, der Bruder des Antragstellers in diesem ersten Mitgliedstaat ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nicht als ein nachträglich eingetretener Umstand, der sich im Rahmen der Anwendung der Dublin‑III-Verordnung in Verbindung mit Art. 47 der Charta auf die Bestimmung des für die Prüfung des Antrags des Antragstellers auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats auswirken kann.

    V. Ergebnis

    100.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) wie folgt zu antworten:

    Art. 27 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass einem Antragsteller auf internationalen Schutz kein Rechtsbehelf zur Verfügung steht, der es ihm ermöglicht, sich auf Umstände zu berufen, die nach dem Erlass der ihm gegenüber erlassenen Überstellungsentscheidung eingetreten und geeignet sind, sich auf die Bestimmung des für die Prüfung seines Antrags zuständigen Mitgliedstaats auszuwirken. Zur Bestimmung des für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats müssen solche nachträglich eingetretenen Umstände von demselben nationalen Gericht wie dem, das über die Überstellungsentscheidung entschieden hat – auch im Rahmen eines anderen Verfahrens –, oder im Wege eines vor einem anderen nationalen Gericht eingeleiteten Verfahrens berücksichtigt werden können, sofern diese Verfahren einen wirksamen und schnellen Rechtsbehelf darstellen, dessen Ergebnis das mit dem Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung befasste Gericht bindet, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) Diese Fallgestaltung ist von derjenigen zu unterscheiden, in der die vom Antragsteller angeführten Tatsachen bereits zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz vorlagen, eine Frage, um die es in der derzeit anhängigen Rechtssache C‑18/20, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Folgeantrag auf internationalen Schutz), geht.

    ( 3 ) Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31).

    ( 4 ) ABl. 2009, L 243, S. 1.

    ( 5 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60).

    ( 6 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

    ( 7 ) Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 1980, S. 14584.

    ( 8 ) Urteil vom 10. Dezember 2020, J & S Service (C‑620/19, EU:C:2020:1011, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 9 ) Urteil vom 26. Juli 2017, Mengesteab (C‑670/16, EU:C:2017:587, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 10 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 36).

    ( 11 ) Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 94), und vom 10. Dezember 2013, Abdullahi (C‑394/12, EU:C:2013:813, Rn. 60).

    ( 12 ) Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 88). Der Gerichtshof hat das Urteil des EGMR vom 21. Januar 2011, M.S.S./Belgien und Griechenland (CE:ECHR:2011:0121JUD003069609), erwähnt.

    ( 13 ) EGMR, 23. Mai 2007, Salah Sheekh/Niederlande (CE:ECHR:2007:0111JUD000194804, § 136).

    ( 14 ) Ravarani, G., Évaluation de la crédibilité des demandeurs d’asile: charge de la preuve et limites de l’examen par la CEDH, Cour EDH, 2017, https://www.echr.coe.int/Documents/Speech_20170127_Ravarani_JY_FRA.pdf.

    ( 15 ) Vgl. u. a. EGMR, 23. März 2016, F.G./Schweden (CE:ECHR:2016:0323JUD004361111, § 115).

    ( 16 ) Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 88).

    ( 17 ) Urteil vom 23. Januar 2019, M.A. u. a. (C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 84).

    ( 18 ) Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass die belgischen Behörden diese Frage im Ausgangsverfahren in Bezug auf den Kassationsbeschwerdeführer eingehend geprüft hatten.

    ( 19 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Ghezelbash (C‑63/15, EU:C:2016:409, Rn. 44).

    ( 20 ) Urteil vom 7. Juni 2016, Karim (C‑155/15, EU:C:2016:410, Rn. 22).

    ( 21 ) Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a. (C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 64).

    ( 22 ) Urteil vom 25. Oktober 2017 (C‑201/16, im Folgenden: Urteil Shiri, EU:C:2017:805).

    ( 23 ) Urteil Shiri (Rn. 46).

    ( 24 ) Urteil vom 25. Januar 2018 (C‑360/16, im Folgenden: Urteil Hasan, EU:C:2018:35).

    ( 25 ) Urteil Hasan (Rn. 31). In jener Rechtssache ist der Gerichtshof somit den Schlussanträgen des Generalanwalts Bot (C‑360/16, EU:C:2017:653, Nr. 79) gefolgt, wonach sich die gerichtliche Überprüfung der Überstellungsentscheidung auch auf zeitlich nach der angefochtenen Entscheidung liegende rechtliche und tatsächliche Gesichtspunkte erstrecken und eventuelle Entwicklungen bei Umständen einschließen können muss, die zur Bestimmung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz relevant sind.

    ( 26 ) Der Gerichtshof hat diese Auslegung in Bezug auf die Sechsmonatsfrist im Urteil vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 66 bis 69), erneut vertreten.

    ( 27 ) Vgl. Hruschka, C., und Maiani, F., „Dublin III Regulation (EU) no 604/2013“, in: Hailbronner, K., und Thym, D. (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law: A Commentary, 2. Aufl., C. H. Beck/Hart/Nomos, 2016, S. 1478 bis 1604, insbesondere S. 1567, wonach Art. 27 Abs. 1 der Dublin‑III-Verordnung ebenso wie Art. 46 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 eine umfassende Ex-nunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt.

    ( 28 ) Zur Bedeutung dieser Bestimmung vgl. Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 93). Wie der Gerichtshof ausführt, hebt der Ausdruck „ex nunc“ hervor, dass das Gericht verpflichtet ist, eine Beurteilung vorzunehmen, bei der gegebenenfalls neue, nach Erlass der angefochtenen Entscheidung aufgetretene Gesichtspunkte berücksichtigt werden.

    ( 29 ) Urteil vom 9. September 2020, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Ablehnung eines Folgeantrags – Rechtsbehelfsfrist) (C‑651/19, EU:C:2020:681, Rn. 33 bis 35).

    ( 30 ) Urteil vom 10. Dezember 2020, J & S Service (C‑620/19, EU:C:2020:1011, Rn. 31).

    ( 31 ) Der EGMR hat entschieden, dass die Staaten mit der Annahme von Art. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, der besondere Garantien für Verfahren zur Ausweisung von Ausländern enthält, klar ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, diese Verfahren nicht in den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK einzubeziehen (EGMR, 5. Oktober 2000, Maaouia/Frankreich, CE:ECHR:2000:1005JUD003965298, § 37). Gleichwohl stellen die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) zu Art. 47 der Charta klar: „Im Unionsrecht gilt das Recht auf ein Gerichtsverfahren nicht nur für Streitigkeiten im Zusammenhang mit zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen. Dies ist eine der Folgen der Tatsache, dass die Union eine Rechtsgemeinschaft ist, wie der Gerichtshof [im Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament (294/83, EU:C:1986:166)] festgestellt hat. Mit Ausnahme ihres Anwendungsbereichs gelten die Garantien der EMRK jedoch in der Union entsprechend.“

    ( 32 ) EGMR, 22. November 1995, Bryan/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1995:1122JUD001917891, § 47).

    ( 33 ) EGMR, 21. Oktober 2011 (CE:ECHR:2011:0721JUD003218104, §§ 151 bis 157).

    ( 34 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile Shiri (Rn. 44) und Hasan (Rn. 31).

    ( 35 ) Urteil vom 13. März 2007 (C‑432/05, EU:C:2007:163).

    ( 36 ) Vgl. zu diesem Gesetz Carlier, J.‑Y., „Évolution procédurale du statut de l’étranger: constats, défis, propositions“, Journal des tribunaux, Nr. 6425, 12. Februar 2011, S. 117.

    ( 37 ) Urteil vom 18. November 2020, Syndicat CFTC (C‑463/19, EU:C:2020:932, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 38 ) Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 58).

    ( 39 ) Das vorlegende Gericht weist im Übrigen in seiner Entscheidung darauf hin, dass der Kläger nicht bestreitet, dass Art. 10 der Dublin‑III-Verordnung auf ihn nicht anwendbar ist.

    ( 40 ) Urteil vom 23. Januar 2019, M.A. u. a. (C‑661/17, EU:C:2019:53, Rn. 79).

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