Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62017CJ0484

    Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 7. November 2018.
    K gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie.
    Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/86/EG – Recht auf Familienzusammenführung – Art. 15 – Ablehnung der Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels – Nationale Regelung, nach der eine Integrationsprüfung erfolgreich abgelegt werden muss.
    Rechtssache C-484/17.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:878

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

    7. November 2018 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2003/86/EG – Recht auf Familienzusammenführung – Art. 15 – Ablehnung der Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels – Nationale Regelung, nach der eine Integrationsprüfung erfolgreich abgelegt werden muss“

    In der Rechtssache C‑484/17

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 4. August 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 10. August 2017, in dem Verfahren

    K

    gegen

    Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten Kammer M. Vilaras in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter J. Malenovský, L. Bay Larsen (Berichterstatter), M. Safjan und D. Šváby,

    Generalanwalt: P. Mengozzi,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und M. H. S. Gijzen als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und G. Wils als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Drittstaatsangehörigen K und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) wegen dessen Ablehnung ihres Antrags auf Abänderung ihrer mit einer Beschränkung versehenen befristeten Aufenthaltserlaubnis und der Rücknahme dieser Aufenthaltserlaubnis.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In Art. 15 der Richtlinie 2003/86 heißt es:

    „(1)   Spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt und unter der Voraussetzung, dass dem Familienangehörigen kein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen als denen der Familienzusammenführung erteilt wurde, haben der Ehegatte oder der nicht eheliche Lebenspartner und das volljährig gewordene Kind – falls erforderlich auf Antrag – das Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel, der unabhängig von jenem des Zusammenführenden ist.

    Die Mitgliedstaaten können bei Ehegatten oder nicht ehelichen Lebenspartnern die Erteilung des in Unterabsatz 1 genannten Aufenthaltstitels auf Fälle, in denen die familiären Bindungen zerbrechen, beschränken.

    (4)   Die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer eines eigenen Aufenthaltstitels sind im nationalen Recht festgelegt.“

    Niederländisches Recht

    4

    Art. 3.51 des Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung von 2000) bestimmt:

    „1.   Die befristete Aufenthaltserlaubnis … kann mit einer mit nicht vorübergehenden humanitären Gründen in Zusammenhang stehenden Beschränkung einem Ausländer erteilt werden, der

    a)

    sich seit fünf Jahren in den Niederlanden als Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis mit der unter 1° genannten Beschränkung aufhält …:

    1°.

    Aufenthalt als Familienangehöriger einer Person mit unbefristetem Aufenthaltsrecht;

    5.   Art. 3.80a gilt für die in Abs. 1 Buchst. a 1° … genannten Ausländer.“

    5

    In Art. 3.80a dieser Verordnung heißt es:

    „1.   Ein Antrag auf Änderung einer Aufenthaltserlaubnis … in eine Aufenthaltserlaubnis mit einer mit nicht vorübergehenden humanitären Gründen in Zusammenhang stehenden Beschränkung wird abgelehnt, wenn der Antrag von einem Ausländer im Sinne von Art. 3.51 Abs. 1 Buchst. a 1° gestellt wurde, der nicht die Prüfung gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. a der Wet inburgering [Integrationsgesetz] erfolgreich abgelegt oder ein Diplom, Zertifikat oder sonstiges Dokument im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c des genannten Gesetzes erlangt hat.

    2.   Abs. 1 gilt nicht, wenn der Ausländer

    e)

    … von der Integrationspflicht befreit wurde …

    4.   Der Minister kann zudem von der Anwendung von Abs. 1 absehen, wenn dessen Anwendung seiner Ansicht nach zu schwerwiegenden Härtefällen führt.“

    6

    Art. 6 Abs. 1 der Wet inburgering (Integrationsgesetz) bestimmt:

    „Der Minister befreit den Integrationspflichtigen von der Integrationspflicht, wenn

    a)

    der Integrationspflichtige nachgewiesen hat, dass er wegen einer psychischen oder körperlichen Beeinträchtigung oder einer geistigen Behinderung dauerhaft nicht in der Lage ist, die Integrationsprüfung erfolgreich abzulegen;

    b)

    wenn er aufgrund von Anstrengungen, die der Integrationspflichtige nachweislich unternommen hat, zu dem Ergebnis kommt, dass es dem Integrationspflichtigen vernünftigerweise nicht möglich ist, der Integrationspflicht nachzukommen.“

    7

    Art. 7 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes lautet:

    „1.   Der Integrationspflichtige hat innerhalb von drei Jahren mündliche und schriftliche Kenntnisse der niederländischen Sprache auf zumindest dem Niveau A 2 des Europäischen Referenzrahmens für Sprachen sowie Kenntnisse der niederländischen Gesellschaft zu erwerben.

    2.   Der Integrationspflichtige hat seine Integrationspflicht erfüllt, wenn er

    a)

    die vom Minister angeordnete Prüfung erfolgreich abgelegt hat oder

    b)

    ein Diplom, Zertifikat oder sonstiges Dokument im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Buchst. c erlangt hat.“

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    8

    Vom 17. März 1995 bis zum 25. Juli 2015 besaß K eine Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthalt bei ihrem Ehemann, einem Drittstaatsangehörigen. Am 21. Juli 2015 stellte K einen Antrag auf Abänderung dieser Erlaubnis in eine Aufenthaltserlaubnis zur Fortsetzung des Aufenthalts.

    9

    Am 1. Juli 2016 lehnte der Staatssekretär den Antrag ab, weil K nicht nachgewiesen habe, dass sie die Integrationsprüfung erfolgreich abgelegt habe oder von der Integrationspflicht ausgenommen oder befreit sei. Des Weiteren nahm er die K erteilte Aufenthaltserlaubnis für den Aufenthalt bei ihrem Ehemann rückwirkend zum 19. August 2011 zurück, weil sie von diesem Tag an nicht mehr unter derselben Anschrift wie ihr Ehemann gewohnt habe.

    10

    Nachdem K Widerspruch eingelegt hatte, bestätigte der Staatssekretär mit Bescheid vom 21. Dezember 2016 seinen ersten Bescheid.

    11

    Gegen diesen Bescheid erhob K Klage bei der Rechtbank den Haag zittingsplaats Middelburg (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Middelburg, Niederlande). Mit Urteil vom 4. April 2017 wies dieses Gericht die Klage ab.

    12

    K legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein.

    13

    Der Staatssekretär erteilte K mit Wirkung vom 20. April 2017 einen eigenen Aufenthaltstitel, da sie als Anhang zur Berufungsschrift eine Bescheinigung des Dienst Uitvoering Onderwijs (Zentrum für Bildungsdienste, Niederlande) vorgelegt hatte, aus der sich ergab, dass sie mindestens viermal versucht hatte, die Integrationsprüfung erfolgreich abzulegen, und dass sie über 600 Stunden des Integrationskurses besucht hatte. Indes bestätigte der Staatssekretär die rückwirkend zum 19. August 2011 erfolgte Rücknahme der K für den Aufenthalt bei ihrem Ehemann erteilten Aufenthaltserlaubnis.

    14

    Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die von den niederländischen Rechtsvorschriften vorgesehene Integrationsanforderung mit Art. 15 der Richtlinie 2003/86 vereinbar ist.

    15

    Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die vorsieht, dass der Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel eines Ausländers, der sich seit mehr als fünf Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, abgelehnt werden kann, weil der Ausländer den im nationalen Recht vorausgesetzten Integrationsmaßnahmen nicht nachgekommen ist?

    Zur Vorlagefrage

    16

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, nach der der Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel eines Drittstaatsangehörigen, der sich seit mehr als fünf Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, abgelehnt werden kann, weil der Drittstaatsangehörige nicht nachgewiesen hat, dass er die Integrationsprüfung betreffend Sprache und Gesellschaft dieses Mitgliedstaats erfolgreich abgelegt hat.

    17

    Nach Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 haben der Ehegatte oder der nicht eheliche Lebenspartner und das volljährig gewordene Kind spätestens nach fünfjährigem Aufenthalt und unter der Voraussetzung, dass dem Familienangehörigen kein Aufenthaltstitel aus anderen Gründen als denen der Familienzusammenführung erteilt wurde, das – falls erforderlich auf Antrag bestehende – Recht auf einen eigenen Aufenthaltstitel, der unabhängig von dem des Zusammenführenden ist.

    18

    Demgegenüber stellt Art. 15 Abs. 4 dieser Richtlinie klar, dass die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer dieses Aufenthaltstitels im nationalen Recht festgelegt sind.

    19

    Aus der Zusammenschau dieser beiden Bestimmungen ergibt sich, dass nach fünfjährigem Aufenthalt im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zwar grundsätzlich ein Recht auf die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels besteht, der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten jedoch die Möglichkeit eingeräumt hat, die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels an bestimmte, von ihnen festzulegende Voraussetzungen zu knüpfen.

    20

    Aus den Rn. 49 bis 59 des heutigen Urteils, C und A (C‑257/17), geht hervor, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Mitgliedstaat die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitels an die erfolgreiche Ablegung einer Integrationsprüfung betreffend Sprache und Gesellschaft dieses Mitgliedstaats knüpft.

    21

    Aus den Rn. 60 bis 63 jenes Urteils ergibt sich jedoch, dass die Pflicht, diese Prüfung erfolgreich abzulegen, die nach einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden besteht, nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die Integration der betroffenen Drittstaatsangehörigen zu erleichtern, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

    22

    Zu diesem Zweck wird sich das vorlegende Gericht insbesondere zu vergewissern haben, dass für die Integrationsprüfung Grundkenntnisse verlangt werden, dass die nach der nationalen Regelung bestehende Anforderung nicht dazu führt, dass Drittstaatsangehörigen, die ihre Bereitschaft zur erfolgreichen Ablegung der Prüfung und ihre dafür unternommenen Anstrengungen nachgewiesen haben, die Erteilung eines eigenen Aufenthaltstitel verwehrt wird, dass die besonderen individuellen Umstände gehörig berücksichtigt werden und dass die Kosten für diese Prüfung nicht übermäßig hoch sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, K und A, C‑153/14, EU:C:2015:453, Rn. 54 bis 70).

    23

    Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass die zuständigen Behörden angesichts von Umständen wie Alter, Bildungsniveau, finanzielle Lage oder Gesundheitszustand der Familienangehörigen des Zusammenführenden die Möglichkeit haben müssen, diesen Familienangehörigen einen eigenen Aufenthaltstitel ohne erfolgreiche Ablegung der Integrationsprüfung zu erteilen, falls die Familienangehörigen aufgrund dieser Umstände nicht in der Lage sind, diese Prüfung abzulegen oder zu bestehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, K und A, C‑153/14, EU:C:2015:453, Rn. 58).

    24

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2003/86 einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der der Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel eines Drittstaatsangehörigen, der sich seit mehr als fünf Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, abgelehnt werden kann, weil der Drittstaatsangehörige nicht nachgewiesen hat, dass er die Integrationsprüfung betreffend Sprache und Gesellschaft dieses Mitgliedstaats erfolgreich abgelegt hat, nicht entgegensteht, soweit die konkreten Modalitäten der Pflicht, diese Prüfung erfolgreich abzulegen, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die Integration der Drittstaatsangehörigen zu erleichtern, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

    Kosten

    25

    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 15 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung steht einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, nach der der Antrag auf einen eigenen Aufenthaltstitel eines Drittstaatsangehörigen, der sich seit mehr als fünf Jahren im Rahmen einer Familienzusammenführung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, abgelehnt werden kann, weil der Drittstaatsangehörige nicht nachgewiesen hat, dass er die Integrationsprüfung betreffend Sprache und Gesellschaft dieses Mitgliedstaats erfolgreich abgelegt hat, nicht entgegen, soweit die konkreten Modalitäten der Pflicht, diese Prüfung erfolgreich abzulegen, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist, die Integration der Drittstaatsangehörigen zu erleichtern, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

    Top