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Document 62017CJ0214

Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 20. September 2018.
Alexander Mölk gegen Valentina Mölk.
Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht – Art. 4 Abs. 3 – Von der unterhaltsberechtigten Person bei der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person eingereichter Antrag auf Unterhaltsfestsetzung – Rechtskräftige Entscheidung – In der Folge bei derselben Behörde eingereichter Antrag der verpflichteten Person auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhalts – Rügelose Einlassung der berechtigten Person – Bestimmung des anwendbaren Rechts.
Rechtssache C-214/17.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:744

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

20. September 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Haager Protokoll über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht – Art. 4 Abs. 3 – Von der unterhaltsberechtigten Person bei der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person eingereichter Antrag auf Unterhaltsfestsetzung – Rechtskräftige Entscheidung – In der Folge bei derselben Behörde eingereichter Antrag der verpflichteten Person auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhalts – Rügelose Einlassung der berechtigten Person – Bestimmung des anwendbaren Rechts“

In der Rechtssache C‑214/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 28. März 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 25. April 2017, in dem Verfahren

Alexander Mölk

gegen

Valentina Mölk

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund (Berichterstatter) sowie der Richter S. Rodin und E. Regan,

Generalanwalt : M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Mölk, vertreten durch Rechtsanwalt L. Lorenz,

der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und M. Cancela Carvalho als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Mai 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 des mit Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 (ABl. 2009, L 331, S. 17) im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligten Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht (im Folgenden: Haager Protokoll).

2

Es ergeht im Rahmen eines Unterhaltsrechtsstreits zwischen Herrn Alexander Mölk und dessen Tochter Valentina Mölk.

Rechtlicher Rahmen

Haager Protokoll

3

Art. 3 („Allgemeine Regel in Bezug auf das anzuwendende Recht“) des Haager Protokolls lautet:

„(1)   Sofern in diesem Protokoll nichts anderes bestimmt ist, ist für Unterhaltspflichten das Recht des Staates maßgebend, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.

(2)   Wechselt die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt, so ist vom Zeitpunkt des Aufenthaltswechsels an das Recht des Staates des neuen gewöhnlichen Aufenthalts anzuwenden.“

4

Art. 4 („Besondere Regeln zugunsten bestimmter berechtigter Personen“) des Haager Protokolls bestimmt:

„(1)   Die folgenden Bestimmungen sind anzuwenden in Bezug auf Unterhaltspflichten

a)

der Eltern gegenüber ihren Kindern;

(2)   Kann die berechtigte Person nach dem in Artikel 3 vorgesehenen Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erhalten, so ist das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden.

(3)   Hat die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates angerufen, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, so ist ungeachtet des Artikels 3 das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden. Kann die berechtigte Person jedoch nach diesem Recht von der verpflichteten Person keinen Unterhalt erhalten, so ist das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person anzuwenden.

…“

5

Art. 7 („Wahl des anzuwenden Rechts für die Zwecke eines einzelnen Verfahrens“) des Haager Protokolls lautet:

„(1)   Ungeachtet der Artikel 3 bis 6 können die berechtigte und die verpflichtete Person allein für die Zwecke eines einzelnen Verfahrens in einem bestimmten Staat ausdrücklich das Recht dieses Staates als das auf eine Unterhaltspflicht anzuwendende Recht bestimmen.

(2)   Erfolgt die Rechtswahl vor der Einleitung des Verfahrens, so geschieht dies durch eine von beiden Parteien unterschriebene Vereinbarung in Schriftform oder erfasst auf einem Datenträger, dessen Inhalt für eine spätere Einsichtnahme zugänglich ist.“

6

Art. 8 („Wahl des anzuwendenden Rechts“) des Haager Protokolls bestimmt:

„(1)   Ungeachtet der Artikel 3 bis 6 können die berechtigte und die verpflichtete Person jederzeit eine der folgenden Rechtsordnungen als das auf eine Unterhaltspflicht anzuwendende Recht bestimmen:

b)

das Recht des Staates, in dem eine der Parteien im Zeitpunkt der Rechtswahl ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat;

(3)   Absatz 1 findet keine Anwendung auf Unterhaltspflichten betreffend eine Person, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, oder einen Erwachsenen, der aufgrund einer Beeinträchtigung oder der Unzulänglichkeit seiner persönlichen Fähigkeiten nicht in der Lage ist, seine Interessen zu schützen.

(4)   Ungeachtet des von den Parteien nach Absatz 1 bestimmten Rechts ist das Recht des Staates, in dem die berechtigte Person im Zeitpunkt der Rechtswahl ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, dafür maßgebend, ob die berechtigte Person auf ihren Unterhaltsanspruch verzichten kann.

(5)   Das von den Parteien bestimmte Recht ist nicht anzuwenden, wenn seine Anwendung für eine der Parteien offensichtlich unbillige oder unangemessene Folgen hätte, es sei denn, dass die Parteien im Zeitpunkt der Rechtswahl umfassend unterrichtet und sich der Folgen ihrer Wahl vollständig bewusst waren.“

Verordnung (EG) Nr. 4/2009

7

Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen (ABl. 2009, L 7, S. 1) bestimmt:

„Diese Verordnung findet Anwendung auf Unterhaltspflichten, die auf einem Familien-, Verwandtschafts‑ … oder eherechtlichen Verhältnis oder auf Schwägerschaft beruhen.

…“

8

Art. 3 („Allgemeine Bestimmungen“) der Verordnung Nr. 4/2009 bestimmt:

„Zuständig für Entscheidungen in Unterhaltssachen in den Mitgliedstaaten ist

a)

das Gericht des Ortes, an dem der Beklagte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder

b)

das Gericht des Ortes, an dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, …

…“

9

Art. 5 („Durch rügelose Einlassung begründete Zuständigkeit“) der Verordnung Nr. 4/2009 lautet:

„Sofern das Gericht eines Mitgliedstaats nicht bereits nach anderen Vorschriften dieser Verordnung zuständig ist, wird es zuständig, wenn sich der Beklagte auf das Verfahren einlässt. Dies gilt nicht, wenn der Beklagte sich einlässt, um den Mangel der Zuständigkeit geltend zu machen.“

10

Art. 15 („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 4/2009 bestimmt:

„Das auf Unterhaltspflichten anwendbare Recht bestimmt sich für die Mitgliedstaaten, die durch das [Haager Protokoll] gebunden sind, nach jenem Protokoll.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Herr Mölk hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich, seine Tochter, Frau Mölk, in Italien.

12

Herr Mölk ist aufgrund eines Beschlusses des Bezirksgerichts Innsbruck (Österreich) vom 10. Oktober 2014 verpflichtet, an Frau Mölk einen monatlichen Unterhaltsbeitrag zu leisten.

13

Der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck erging gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls in Anwendung österreichischen Rechts, und zwar auf einen Unterhaltsfestsetzungsantrag hin, den die berechtigte Person, Frau Mölk, bei dem Gericht gestellt hatte.

14

2015 beantragte Herr Mölk beim selben Gericht, den Unterhaltsbeitrag ab dem 1. Februar 2015 wegen Verringerung seines Nettoeinkommens herabzusetzen. Frau Mölk beantragte die Abweisung des Herabsetzungsbegehrens.

15

Mit Beschluss vom 11. Dezember 2015 wies das Bezirksgericht Innsbruck den Antrag von Herrn Mölk in Anwendung italienischen Rechts ab, das seiner Auffassung nach gemäß Art. 3 Abs. 1 des Haager Protokolls anzuwenden war, weil Frau Mölk zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Italien gehabt habe.

16

Mit Beschluss vom 9. März 2016 bestätigte das Landesgericht Innsbruck (Österreich) als Rekursgericht die Entscheidung des Bezirksgerichts, legte seiner Beurteilung aber österreichisches Recht zugrunde.

17

Es könne bei unverändertem gewöhnlichem Aufenthalt beider Parteien nicht schon deswegen zu einer Änderung des vom Bezirksgericht in seinem Beschluss vom 10. Oktober 2014 angewandten Rechts kommen, weil die verpflichtete Person nur wenige Monate später, als der Beschluss bereits rechtskräftig gewesen sei, einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags gestellt habe.

18

Herr Mölk erhob beim vorlegenden Gericht Revisionsrekurs. Er strebt die Beurteilung des Unterhaltsanspruchs nach italienischem Recht an. Er meint, seinem Antrag wäre bei richtiger Anwendung dieses Rechts stattzugeben gewesen.

19

Das vorlegende Gericht fragt sich, welches Recht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens anzuwenden ist. Es weist darauf hin, dass hierzu in der Lehre zwei Auffassungen vertreten würden.

20

Nach der einen Auffassung sei gemäß Art. 3 des Haager Protokolls das Recht des Staates anzuwenden, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt habe, auch wenn es nicht das Recht des Staates sei, dessen Behörde den ursprünglichen Unterhaltstitel geschaffen habe.

21

Nach der anderen Auffassung sei auf die Entscheidung über die Änderung einer inländischen oder einer anerkannten ausländischen Entscheidung das derzeitige Unterhaltsstatut anzuwenden.

22

Der Oberste Gerichtshof (Österreich) hat das Verfahren deshalb ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist Art. 4 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen, dass auf den Antrag einer verpflichteten Person auf Herabsetzung eines rechtskräftig festgelegten Unterhaltsbeitrags wegen geänderter Einkommensverhältnisse auch dann das Recht des Staates maßgeblich ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn der bisher zu bezahlende Unterhaltsbeitrag auf deren Antrag gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls vom Gericht nach dem Recht des Staates festgesetzt worden war, in dem die verpflichtete Person ihren unveränderten gewöhnlichen Aufenthalt hat?

2.

Falls die Frage 1 bejaht wird:

Ist Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, auch dadurch „anruft“, dass sie sich in ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art. 5 der Verordnung Nr. 4/2009 durch Bestreiten in der Sache einlässt?

Zu den Vorlagefragen

23

Der Gerichtshof ist für die Auslegung des Haager Protokolls zuständig (Urteil vom 7. Juni 2018, KP, C‑83/17, EU:C:2018:408, Rn. 25).

Zu Frage 1

24

Mit Frage 1 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, wo der zu zahlende Unterhaltsbeitrag auf Antrag der berechtigten Person gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls rechtskräftig nach dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht festgesetzt worden ist, dieses Recht auch für einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags maßgeblich ist, den die verpflichtete Person in der Folge bei der zuständigen Behörde des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen die berechtigte Person stellt.

25

Die berechtigte Person kann erreichen, dass nach Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls ungeachtet von dessen Art. 3 das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden ist, indem sie – wie hier Frau Mölk – ihren Antrag bei der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person stellt.

26

Fraglich ist, ob Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls, wenn die verpflichtete Person – wie hier Herr Mölk – in der Folge bei derselben Behörde einen Antrag stellt, insoweit fortwirkt, als das in dem vorausgegangenen Verfahren anwendbare Recht auch in diesem neuen Verfahren anzuwenden ist, obwohl dies in der genannten Bestimmung nicht ausdrücklich vorgesehen ist.

27

Zur Beantwortung dieser Frage ist Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls auszulegen. Dabei ist nicht nur der Wortlaut der Bestimmung zu berücksichtigen, sondern auch deren Kontext und die Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der die Bestimmung gehört.

28

Was den Kontext von Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls angeht, ist festzustellen, dass diese Bestimmung zu einem durch das Haager Protokoll eingeführten System von Anknüpfungsregeln gehört, nach dem grundsätzlich das Recht des Staates anzuwenden ist, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art. 3 des Haager Protokolls). Nach Ansicht der Verfasser des Haager Protokolls weist dieses Recht den engsten Bezug zur Situation der unterhaltsberechtigten Person auf und ist daher zur Regelung der konkreten Probleme, auf die sie möglicherweise stößt, am besten geeignet (Urteil vom 7. Juni 2018, KP, C‑83/17, EU:C:2018:408, Rn. 42).

29

Art. 4 des Haager Protokolls enthält besondere Regeln zugunsten bestimmter berechtigter Personen, die subsidiär anwendbar sind, u. a. für die Unterhaltspflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern. So ist etwa nach Art. 4 Abs. 2 des Haager Protokolls das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden, wenn die berechtigte Person nach dem in Art. 3 des Haager Protokolls primär vorgesehenen Recht keinen Unterhalt erhalten kann.

30

Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls stellt eine Ausnahme von der darin aufgestellten Regel dar, nach der die zuständige Behörde grundsätzlich das Recht des Staates anwendet, in dem die berechtigte Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (siehe oben, Rn. 28). Die Anknüpfung erfolgt bei dieser Bestimmung umgekehrt als bei Art. 3 und Art. 4 Abs. 2 des Protokolls: Hat die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates angerufen, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist primär das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht anzuwenden (Urteil vom 7. Juni 2018, KP, C‑83/17, EU:C:2018:408, Rn. 44), sekundär, wenn die berechtigte Person nach diesem Recht keinen Unterhalt erhalten kann, das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person.

31

Da das Haager Protokoll vorsieht, dass anstelle des Rechts des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person primär das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zur Anwendung kommen kann, hat die berechtigte Person die Möglichkeit, durch Anrufung der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zu wählen.

32

Diese Möglichkeit dient dem Schutz der berechtigten Person, die im Verhältnis zur verpflichteten als die schwächere Partei angesehen wird. Ihr wird hinsichtlich des auf ihren Antrag anzuwendenden Rechts de facto das Recht der Rechtswahl eingeräumt. Ist das auf Antrag der berechtigten Person eingeleitete Verfahren durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen, gebietet Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls daher nicht, dass sich die Wirkungen der von der berechtigten Person getroffenen Rechtswahl auf ein neues, nicht durch sie, sondern durch die verpflichtete Person eingeleitetes Verfahren erstrecken.

33

Im Übrigen ist die Regel des Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls als Ausnahme von der Regel des Art. 3 des Protokolls eng auszulegen. Es ist unzulässig, ihren Anwendungsbereich auf Fälle auszudehnen, die die Tatbestandsmerkmale der Bestimmung nicht erfüllen.

34

Dieses Ergebnis wird bestätigt durch den von Herrn Andrea Bonomi erstellten Erläuternden Bericht zum Haager Protokoll (angenommen auf der Einundzwanzigsten Tagung der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht).

35

In dem Bericht heißt es in Rn. 67, dass die Abweichung von der grundsätzlichen Anknüpfung an das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts der berechtigten Person gerechtfertigt sein kann, wenn die berechtigte Person selbst beschließt, die Klage in dem Staat des Aufenthalts der verpflichteten Person zu erheben, während sie in dem Fall, in dem die Klage auf Betreiben der verpflichteten Person in diesem Land erhoben worden wäre, überzogen erscheint, z. B. im Fall eines Antrags auf Änderung einer Unterhaltsentscheidung.

36

Auch ein Vergleich von Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls mit dessen Vorschriften über die Wahl des auf eine Unterhaltspflicht anzuwendenden Rechts durch Vereinbarung der Parteien (Art. 7 und 8) bestätigt die Einschätzung, zu der der Gerichtshof in den vorstehenden Randnummern gelangt ist.

37

Nach Art. 8 des Haager Protokolls können die berechtigte und die verpflichtete Person jederzeit eine der in Abs. 1 dieses Artikels aufgeführten Rechtsordnungen als das auf eine Unterhaltspflicht anzuwendende Recht bestimmen. Die auf diese Weise bestimmte Rechtsordnung ist nicht in einem bestimmten Verfahren, sondern in allen Verfahren anwendbar, in denen es um die betreffende Unterhaltspflicht geht.

38

Da die Rechtswahl auf Dauer erfolgt, haben die Verfasser des Haager Protokolls die Anwendung von dessen Art. 8, um die Gefahr negativer Auswirkungen, insbesondere für die berechtigte Person, zu minimieren, an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. So können etwa nur Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, das anzuwendende Recht gemäß Art. 8 des Protokolls wählen (Art. 8 Abs. 3 des Haager Protokolls). Und das von den Parteien bestimmte Recht ist nicht anzuwenden, wenn seine Anwendung für eine der Parteien offensichtlich unbillige oder unangemessene Folgen hätte, es sei denn, dass die Parteien im Zeitpunkt der Rechtswahl umfassend unterrichtet und sich der Folgen ihrer Wahl vollständig bewusst waren (Art. 8 Abs. 5 des Haager Protokolls).

39

Art. 7 des Haager Protokolls, der den Parteien ebenfalls eine Rechtswahlmöglichkeit einräumt, enthält keine solchen Schutzvorschriften. Die Rechtswahlmöglichkeit besteht aber lediglich in einem einzelnen Verfahren, so dass die Rechtswahl nur für das betreffende Verfahren, nicht aber für dieselbe Unterhaltspflicht betreffende Folgeverfahren gilt. Dadurch ist die Gefahr negativer Auswirkungen der Rechtswahl begrenzt.

40

Das Fehlen solcher Schutzvorschriften in Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls bestätigt ebenfalls die Einschätzung des Gerichtshofs, dass die Bestimmung nur auf ein einziges Verfahren anwendbar ist, nämlich das, das von der berechtigten Person unter den Voraussetzungen, die die Bestimmung ausdrücklich vorsieht, eingeleitet worden ist.

41

Würde die ursprüngliche Wahl des am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Rechts durch die berechtigte Person gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls bedeuten, dass dieses Recht auch in einem späteren, von der verpflichteten Person vor der zuständigen Behörde des Staates seines gewöhnlichen Aufenthalts eingeleiteten Verfahren anzuwenden ist, könnten auf diese Weise das Mindestalter gemäß Art. 8 Abs. 3 des Haager Protokolls und die übrigen Schutzvorschriften von dessen Art. 8 umgangen werden, wie der Generalanwalt in Nr. 48 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.

42

Somit ist festzustellen, dass Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls lediglich den Fall betrifft, dass die berechtigte Person in einem von ihr bei der zuständigen Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Personen eingeleiteten Verfahren mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht wählt. Die Bestimmung gilt nicht für ein späteres Verfahren, das eingeleitet wird, nachdem die Entscheidung im ursprünglichen Verfahren rechtskräftig geworden ist.

43

Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass das spätere Verfahren möglicherweise kurz nach dem ursprünglichen Verfahren eingeleitet worden ist und es widersprüchlich wäre, entgegengesetzte Anträge, die sich auf einen kurzen Zeitraum beziehen, in dem sich der gewöhnliche Aufenthalt der Parteien nicht geändert hat, nach zwei verschiedenen Rechtsordnungen zu beurteilen, wie die portugiesische Regierung geltend macht.

44

Die Bestimmung des anwendbaren Rechts kann nämlich nicht vom Zeitpunkt der Einleitung eines zweiten Verfahrens abhängen. Eine solche Auslegung ließe sich nicht mit dem Ziel der Vorhersehbarkeit vereinbaren, das mit dem Haager Protokoll verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. Juni 2018, KP, C‑83/17, EU:C:2018:408, Rn. 41).

45

Dass in aufeinanderfolgenden Verfahren zwischen denselben Parteien verschiedene Rechtsordnungen angewandt werden, ist zwar misslich, dürfte aber so im System der Kollisionsnormen des Haager Protokolls angelegt sein, wie der Generalanwalt in den Nrn. 42 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat.

46

Somit ist auf Frage 1 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass in einem Fall, wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, wo der zu zahlende Unterhaltsbeitrag auf Antrag der berechtigten Person gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls rechtskräftig nach dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht festgesetzt worden ist, dieses Recht nicht auch für einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags maßgeblich ist, den die verpflichtete Person in der Folge bei einem Gericht des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen die berechtigte Person stellt.

Zu Frage 2

47

Mit Frage 2 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person im Sinne dieser Bestimmung „anruft“, wenn sie sich auf ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art. 5 der Verordnung Nr. 4/2009 durch Bestreiten in der Sache einlässt.

48

Wie oben zu Frage 1 ausgeführt, stellt Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls eine Ausnahme von der oben in Rn. 28 dargestellten primären Anknüpfungsregel dar. Es ist deshalb nicht zulässig, den Anwendungsbereich der Bestimmung auf Fälle auszudehnen, die deren Tatbestandsmerkmale nicht erfüllen.

49

Die Anwendung von Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls ist an zwei Voraussetzungen geknüpft. Es muss die Behörde des Staates angerufen worden sein, in dem die verpflichtete Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, und diese Behörde muss von der berechtigten Person angerufen worden sein, die Klage also durch sie erhoben worden sein.

50

Bei einer von der verpflichteten Person bei der Behörde des Staates ihres gewöhnlichen Aufenthalts erhobenen Klage kann die Zuständigkeit dieser Behörde gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 4/2009 zwar durch Einlassung der berechtigten Person auf das Verfahren begründet werden.

51

Eine solche Hinnahme der Zuständigkeit der Behörde des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person bedeutet aber nicht, dass diese auch von der berechtigten Person im Sinne von Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls „angerufen“ worden wäre.

52

Sonst würde, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht, das Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls als anwendbares Recht vorsieht, in allen Verfahren zur Anwendung kommen, die vor der Behörde des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person eingeleitet werden. Wie sich aus der Antwort auf Frage 1 ergibt, hat die berechtigte Person aber nur bei Verfahren, die sie selbst eingeleitet hat, gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls die Möglichkeit, mittelbar das am Ort des angerufenen Gerichts geltende Recht zu wählen.

53

Somit ist auf Frage 2 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls dahin auszulegen ist, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person nicht im Sinne dieser Bestimmung „anruft“, wenn sie sich auf ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art. 5 der Verordnung Nr. 4/2009 durch Bestreiten in der Sache einlässt.

Kosten

54

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4 Abs. 3 des mit Beschluss 2009/941/EG des Rates vom 30. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft gebilligten Haager Protokolls vom 23. November 2007 über das auf Unterhaltspflichten anzuwendende Recht ist dahin auszulegen, dass in einem Fall, wie dem, um den es im Ausgangsverfahren geht, wo der zu zahlende Unterhaltsbeitrag auf Antrag der berechtigten Person gemäß Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls rechtskräftig nach dem am Ort des angerufenen Gerichts geltenden Recht festgesetzt worden ist, dieses Recht nicht auch für einen Antrag auf Herabsetzung des festgesetzten Unterhaltsbeitrags maßgeblich ist, den die verpflichtete Person in der Folge bei einem Gericht des Staates, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, gegen die berechtigte Person stellt.

 

2.

Art. 4 Abs. 3 des Haager Protokolls vom 23. November 2007 ist dahin auszulegen, dass die berechtigte Person die zuständige Behörde des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der verpflichteten Person nicht im Sinne dieser Bestimmung „anruft “, wenn sie sich auf ein von der verpflichteten Person bei dieser Behörde eingeleitetes Verfahren im Sinne des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 4/2009 des Rates vom 18. Dezember 2008 über die Zuständigkeit, das anwendbare Recht, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen und die Zusammenarbeit in Unterhaltssachen durch Bestreiten in der Sache einlässt.

 

Fernlund

Rodin

Regan

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. September 2018.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident der Sechsten Kammer

C. G. Fernlund


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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