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Document 62016CJ0254

    Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 6. Juli 2017.
    Glencore Agriculture Hungary Kft. gegen Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság.
    Vorabentscheidungsersuchen der Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 183 – Grundsatz der steuerlichen Neutralität – Vorsteuerabzug – Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses – Überprüfungsverfahren – Geldbuße, die im Zuge eines solchen Verfahrens gegen den Steuerpflichtigen verhängt wird – Verlängerung der Erstattungsfrist – Ausschluss der Zahlung von Verzugszinsen.
    Rechtssache C-254/16.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:522

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

    6. Juli 2017 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem — Richtlinie 2006/112/EG — Art. 183 — Grundsatz der steuerlichen Neutralität — Vorsteuerabzug — Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses — Überprüfungsverfahren — Geldbuße, die im Zuge eines solchen Verfahrens gegen den Steuerpflichtigen verhängt wird — Verlängerung der Erstattungsfrist — Ausschluss der Zahlung von Verzugszinsen“

    In der Rechtssache C‑254/16

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 24. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Mai 2016, in dem Verfahren

    Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft.,

    gegen

    Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

    unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal sowie der Richter A. Rosas und E. Jarašiūnas (Berichterstatter),

    Generalanwalt: M. Wathelet,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft., vertreten durch D. Kelemen und Z. Várszegi, ügyvédek,

    der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, G. Koós und A. M. Pálfy als Bevollmächtigte,

    der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Vláčil und M. Smolek als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und L. Havas als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Glencore Agriculture Hungary Kft., vormals Glencore Grain Hungary Kft. (im Folgenden: Glencore), und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen der Zahlung von Verzugszinsen im Zusammenhang mit der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

    „Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.

    …“

    Ungarisches Recht

    4

    Wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, wird gemäß § 37 Abs. 4 der Adózás rendjéről szóló 2003. évi XCII. törvény (Gesetz Nr. XCII von 2003 über die Besteuerungsordnung, Magyar Közlöny 2003/131 [XI. 14.], im Folgenden: Besteuerungsordnung) die Gewährung einer dem Steuerzahler zustehenden Haushaltszuwendung in den Anhängen dieses Gesetzes oder in einem gesonderten Gesetz festgelegt. Die Haushaltszuwendung und die zurückgeforderte Mehrwertsteuer sind nach dem Tag des Eingangs des Antrags oder der Erklärung und frühestens 30 Tage nach Fälligkeit der Zuwendung bzw. 75 Tage nach Fälligkeit der Mehrwertsteuer zu zahlen. Wird die Haushaltszuwendung von der Steuerverwaltung festgesetzt, wird sie innerhalb einer Frist von 30 Tagen gewährt, die mit dem Inkrafttreten der Festsetzungsentscheidung beginnt.

    5

    Gemäß § 37 Abs. 4 Buchst. c der Besteuerungsordnung ist die Frist für die Auszahlung, wenn die Prüfung der Begründetheit des Anspruchs innerhalb von 30 Tagen nach dem Tag des Eingangs des Antrags (der Erklärung) eingeleitet und wegen einer Behinderung der Prüfung eine Geldbuße auferlegt oder eine Zwangsvorführung angeordnet wurde, vom Tag der Übergabe des über die Prüfung aufgenommenen Protokolls an zu berechnen.

    6

    Gemäß § 37 Abs. 6 der Besteuerungsordnung zahlt die Steuerbehörde, wenn sie die Erstattung verspätet vornimmt, für jeden Tag des Verzugs Zinsen in Höhe des Verzugszuschlags. Trotz verspäteter Erstattung besteht jedoch kein Zinsanspruch, wenn die Verzögerung auf mangelnde Sorgfalt des Steuerzahlers oder der zur Übermittlung der erforderlichen Angaben verpflichteten Person zurückzuführen ist.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    7

    Glencore ist ein mehrwertsteuerpflichtiges Unternehmen, das im Getreidehandel tätig ist. Es stellte bei der Steuerverwaltung einen Antrag auf Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses in Höhe von 4485975000 ungarischen Forint (HUF) (ungefähr 12,4 Mio. Euro) für September 2011 für die gezahlte Vorsteuer.

    8

    Auf diesen Antrag hin und vor der beantragten Erstattung leitete die Steuerverwaltung ein Verfahren zur Prüfung der Begründetheit des Erstattungsanspruchs ein. Im Rahmen dieses Verfahrens richtete sie zahlreiche Ersuchen um Datenübermittlung an Glencore und verhängte drei Geldbußen, weil das Unternehmen bestimmte dieser Ersuchen verspätet beantwortet und dadurch die Durchführung des Prüfungsverfahrens behindert habe.

    9

    Am 13. November 2013 zahlte die Steuerverwaltung einen Betrag von 1858301000 HUF (ungefähr 5,9 Mio. Euro) zur Teilerstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an Glencore. Diese forderte von der Steuerverwaltung, ihr einen Betrag von 411910990 HUF (ungefähr 1,3 Mio. Euro) als Verzugszinsen für den Zeitraum vom 4. Dezember 2011 – an dem ihrer Ansicht nach die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses abgelaufen war – bis zum 13. November 2013 zu zahlen.

    10

    Die Steuerverwaltung wies dies mit der Begründung zurück, dass gegen Glencore wegen Behinderungen der Prüfung der Begründetheit des Erstattungsanspruchs eine Geldbuße verhängt worden sei und dass dementsprechend die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses und gegebenenfalls die Verzugszinsen gemäß der einschlägigen ungarischen Regelung ab dem Zeitpunkt der Übergabe des über diese Prüfung aufgenommenen Protokolls zu berechnen seien. Es liege daher keine verspätete Erstattung vor, und Glencore habe, da es gerade die Nichtübermittlung der erforderlichen Daten gewesen sei, die die Durchführung der Prüfung und die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses behindert habe, keinen Anspruch auf Verzugszinsen.

    11

    Am 5. November 2015 focht Glencore die ablehnende Entscheidung der Steuerverwaltung vor dem Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) an.

    12

    Glencore macht vor diesem Gericht geltend, dass die ungarischen Rechtsvorschriften, nach denen die Zahlung von Verzugszinsen vom Zeitpunkt der Übergabe des Protokolls, mit dem das Verfahren zur Prüfung der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses abgeschlossen werde, an zu berechnen sei, gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und der Steuerneutralität, verstießen. Das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Prüfungsverfahren habe aus Gründen, die nichts mit der verspäteten Vorlage der geforderten Unterlagen, sondern hauptsächlich mit Handlungen der Steuerverwaltung zu tun hätten, mehr als zwei Jahre gedauert. Zudem habe die Steuerverwaltung Glencore aufgegeben, ihr im Lauf der ersten beiden Wochen dieses Verfahrens große Datenmengen zu übermitteln, und Glencore dabei jeweils nur drei Arbeitstage für die Übermittlung der Daten gewährt. Die Steuerverwaltung hätte die beantragte Mehrwertsteuererstattung innerhalb der Frist von 45 Tagen vornehmen müssen, die in § 37 der Besteuerungsordnung für Anträge, die einen Betrag von über 500000 HUF (ungefähr 1600 Euro) beträfen, vorgesehen sei. Da sie dies nicht getan habe, hätte sie ihr Verzugszinsen zahlen müssen. Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gebiete, dass der Mehrwertsteuerüberschuss dem Steuerpflichtigen innerhalb einer angemessenen Frist erstattet werde und dass der Zeitpunkt dieser Erstattung nicht durch Verfahrenshandlungen der Steuerbehörden beeinflusst werden könne.

    13

    Die Steuerverwaltung beantragt, die Klage von Glencore abzuweisen, und macht geltend, dass die Verhängung von Geldbußen wegen der verspäteten Übermittlung der für die Steuerprüfung erforderlichen Unterlagen auf das Fehlverhalten von Glencore zurückzuführen sei und dass die Frist für die Erstattung der Mehrwertsteuer aufgrund der Nachlässigkeit des Unternehmens verlängert worden sei.

    14

    Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof bereits entschieden habe, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität es verbiete, dass die Mitgliedstaaten die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an Voraussetzungen knüpften, die den Steuerpflichtigen eine zusätzliche Belastung auferlegten, indem sie deren finanzielle Situation beeinflussten, und dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen hätten, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist erfolge und ihre Modalitäten nicht als solche ein finanzielles Risiko für den Steuerpflichtigen mit sich brächten. Der Gerichtshof habe außerdem festgestellt, dass Steuerpflichtige, denen der Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb eines als angemessen zu qualifizierenden Zeitraums erstattet worden sei, einen Anspruch auf Verzugszinsen hätten und dass es der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukomme, im Einklang mit den Grundsätzen der Äquivalenz und der Effektivität die Bedingungen für die Zahlung von Verzugszinsen festzulegen.

    15

    Allerdings enthalte die Rechtsprechung des Gerichtshofs keine hinreichend klaren Hinweise dazu, welche Folgen von der Steuerverwaltung verhängte Geldbußen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden hätten. Die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses an Glencore nach Ablauf eines Zeitraums von ungefähr zwei Jahren statt innerhalb der Regelfrist von 45 Tagen stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dar, weshalb dem Antrag des Unternehmens auf Zahlung von Verzugszinsen stattzugeben sei. Es verstoße auch gegen diesen Grundsatz, wenn die Steuerverwaltung die betreffende nationale Regelung missbräuchlich wörtlich auslege und sich so durch die Verhängung einer Geldbuße wegen Nichterfüllung einer Verpflichtung zur Übermittlung von Daten die Möglichkeit verschaffe, Steuerprüfungen zeitlich unbeschränkt fortzuführen, ohne zur Zahlung von Verzugszinsen verpflichtet zu sein.

    16

    Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses bis zum Tag der Übergabe des über eine Steuerprüfung aufgenommenen Protokolls verlängert wird, wenn im Rahmen des innerhalb von 30 Tagen ab dem Eingang des Erstattungsantrags eingeleiteten Prüfungsverfahrens gegen den Steuerpflichtigen eine Geldbuße wegen Pflichtversäumnis verhängt wird?

    2.

    Steht Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Anbetracht der Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung entgegen, die im Fall der verspäteten Erstattung die Zahlung von Verzugszinsen dann ausschließt, wenn die Behörde im Rahmen einer mit der Erstattung in Verbindung stehenden Prüfung gegen den Steuerpflichtigen eine mit seiner Pflicht zur Kooperation zusammenhängende Sanktion verhängt hat, obgleich sich die Prüfung, die mehrere Jahre gedauert hat, aus Gründen, die nicht in erster Linie dem Steuerpflichtigen zuzurechnen sind, in die Länge gezogen hat?

    3.

    Sind Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen, dass der Anspruch auf Zinsen wegen unter Verstoß gegen das Unionsrecht einbehaltener oder nicht zugewiesener Steuern ein subjektives Recht ist, das sich unmittelbar aus dem Unionsrecht selbst ergibt, so dass es ausreicht, den Verstoß gegen das Unionsrecht und die unterbliebene Steuererstattung nachzuweisen, um vor den Gerichten und den anderen Behörden der Mitgliedstaaten Zinsen beanspruchen zu können?

    4.

    Verhält sich das vorlegende Gericht, falls es unter Berücksichtigung der Antworten auf die vorstehenden Fragen im Ausgangsverfahren feststellt, dass die nationale Regelung des Mitgliedstaats gegen Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt, unionsrechtskonform, wenn es es als einen Verstoß gegen Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie ansieht, dass in den Entscheidungen der Behörden des Mitgliedstaats abgelehnt wird, Verzugszinsen zu zahlen?

    Zu den Vorlagefragen

    17

    Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach dann, wenn von der Steuerverwaltung ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet und gegen einen Steuerpflichtigen wegen mangelnder Kooperation eine Geldbuße verhängt wird, der Zeitpunkt für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses bis zur Übergabe des Protokolls über diese Prüfung an den Steuerpflichtigen hinausgeschoben und die Zahlung von Verzugszinsen verweigert werden kann, selbst wenn die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens übermäßig lang und nicht zur Gänze auf das Verhalten des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist. Für den Fall, dass dies zu bejahen ist, fragt das vorlegende Gericht, an welche unionsrechtlichen Vorgaben es bei der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits gebunden ist.

    18

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar weder eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss noch den Zeitpunkt vorsieht, ab dem solche Zinsen geschuldet werden, dieser Umstand allein jedoch nicht den Schluss erlaubt, dass dieser Artikel dahin auszulegen ist, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten hinsichtlich der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von jeglicher unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind (Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 27 und 28, sowie vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 19).

    19

    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergeben sich nämlich aus Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und der im Bereich der Mehrwertsteuer geltenden allgemeinen Grundsätze bestimmte spezifische Regeln, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses beachten müssen (vgl. Urteil vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    20

    So hat der Gerichtshof entschieden, dass die von einem Mitgliedstaat festgelegten Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird. Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Mehrwertsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entsteht (Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 33, und vom 28. Juli 2011, Kommission/Ungarn, C‑274/10, EU:C:2011:530, Rn. 45, sowie Beschluss vom 17. Juli 2014, Delphi Hungary Autóalkatrész Gyártó, C‑654/13, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2127, Rn. 31).

    21

    Diese Frist kann grundsätzlich verlängert werden, um eine Steuerprüfung vorzunehmen, ohne dass eine solche verlängerte Frist als unangemessen anzusehen ist, sofern die Verlängerung nicht über das für die ordnungsgemäße Durchführung des Steuerprüfungsverfahrens Erforderliche hinausgeht (Urteil vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 53).

    22

    Der Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems verlangt, dass die finanziellen Verluste, die dem Steuerpflichtigen, wenn ihm der Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die fehlende Verfügbarkeit der fraglichen Geldbeträge entstehen, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden (Urteil vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 23).

    23

    Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich auch, dass es grundsätzlich gegen die Anforderungen von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt, wenn der Berechnung der von der Staatskasse geschuldeten Zinsen nicht der Tag als Verzinsungsbeginn zugrunde gelegt wird, an dem der Mehrwertsteuerüberschuss gemäß dieser Richtlinie hätte ausgeglichen werden müssen (Urteile vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 51, und vom 24. Oktober 2013, Rafinăria Steaua Română, C‑431/12, EU:C:2013:686, Rn. 24).

    24

    Ferner ist zu beachten, dass eine Regelung, die den Steuerbehörden gestattet, jederzeit, auch kurz bevor die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses fällig wird, eine Steuerprüfung einzuleiten, wodurch es möglich wird, die Frist für die Erstattung erheblich zu verlängern, den Steuerpflichtigen nicht nur finanziellen Nachteilen aussetzt, sondern es ihm auch unmöglich macht, den Zeitpunkt vorherzusehen, ab dem er über das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital verfügen kann, und ihm dadurch eine zusätzliche Belastung auferlegt (Beschluss vom 21. Oktober 2015, Kovozber, C‑120/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:730, Rn. 27).

    25

    Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Frist für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses zwar bis zu dem Zeitpunkt verlängert werden kann, zu dem dem Steuerpflichtigen das Protokoll zum Abschluss des ihn betreffenden Steuerprüfungsverfahrens übergeben wird, dies jedoch nur dann gilt, wenn dieses Verfahren nicht dazu führt, dass die Frist über das für die Durchführung des Steuerprüfungsverfahrens Erforderliche hinaus verlängert wird. Dauert dieses Verfahren übermäßig lang, dürfen dem Steuerpflichtigen die Verzugszinsen nicht vorenthalten werden.

    26

    Da das vorlegende Gericht in diesem Zusammenhang nach der Auswirkung des Verhaltens des Steuerpflichtigen fragt, dessen mangelnde Sorgfalt im Steuerprüfungsverfahren durch die Verhängung von Geldbußen geahndet wurde, ist festzustellen, dass zwar, wie die ungarische Regierung geltend macht, nicht zugelassen werden darf, dass ein Steuerpflichtiger, der dadurch, dass er die Zusammenarbeit mit der Steuerverwaltung verweigert und so die Durchführung des Steuerprüfungsverfahrens behindert, den Verzug bei der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses verursacht, für diesen Verzug Zinsen verlangen kann.

    27

    Jedoch können nationale Rechtsvorschriften oder Praktiken, nach denen die Steuerverwaltung allein deshalb, weil dem Steuerpflichtigen in dem ihn betreffenden Steuerprüfungsverfahren eine Geldbuße zur Ahndung seiner mangelnden Sorgfalt auferlegt wurde, diese Prüfung über einen nicht durch diese mangelnde Sorgfalt gerechtfertigten Zeitraum fortsetzen kann, ohne ihm Verzugszinsen zahlen zu müssen, nicht als mit den sich aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ergebenden Erfordernissen vereinbar angesehen werden.

    28

    In einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ist daher, um bestimmen zu können, ob Verzugszinsen geschuldet werden und wann gegebenenfalls die Verzinsungsfrist beginnt, zu prüfen, in welchem Maße die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens auf das Verhalten des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.

    29

    Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die erste Teilerstattung des Mehrwertsteuerüberschusses für den Monat September 2011 erst am 13. November 2013 erfolgt ist, also fast zwei Jahre nach Ablauf der im ungarischen Recht vorgesehenen Regelfrist.

    30

    Glencore weist in ihren schriftlichen Erklärungen darauf hin, dass die Steuerverwaltung das Verfahren zur Prüfung der Begründetheit ihres Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses kurz vor Ablauf der Frist eingeleitet habe, die in den ungarischen Rechtsvorschriften für diese Erstattung vorgesehen sei. 41 Tage nach Einreichung ihrer Mehrwertsteuererklärung habe die Steuerverwaltung eine erste Geldbuße gegen sie verhängt, während die erste Teilerstattung, um die es im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht gehe, 755 Tage nach dieser Einreichung vorgenommen worden sei. Die Übergabe des Protokolls über die Ergebnisse der Steuerprüfung habe 539 Tage nach der letzten Aufforderung zur Übermittlung von Unterlagen durch die Steuerverwaltung stattgefunden.

    31

    Das vorlegende Gericht führt aus, in der ungarischen Regelung sei nicht vorgesehen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob Verzugszinsen geschuldet würden, zu berücksichtigen wäre, ob sich das Verhalten des Steuerpflichtigen, gegen den eine Geldbuße verhängt worden sei, tatsächlich auf die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens ausgewirkt habe. Die Steuerverwaltung könne ein solches Verfahren gegebenenfalls über lange Zeit fortführen, ohne dem Steuerpflichtigen Verzugszinsen zahlen zu müssen.

    32

    Es ist offensichtlich, dass eine solche nationale Regelung dann, wenn ein Prüfungsverfahren eingeleitet und im Zuge dieses Verfahrens eine Geldbuße gegen den Steuerpflichtigen verhängt wird, dazu führen kann, dass ihm das dem Mehrwertsteuerüberschuss entsprechende Kapital über lange Zeit vorenthalten und es ihm unmöglich gemacht wird, den Zeitpunkt vorherzusehen, ab dem er über dieses Kapital verfügen kann, und dass ihm sein Anspruch auf Verzugszinsen versagt wird.

    33

    Eine solche Regelung ist nicht mit den sich aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ergebenden Anforderungen, die in den Rn. 20 bis 22 des vorliegenden Urteils angeführt sind, vereinbar, nach denen der Mehrwertsteuerüberschuss innerhalb einer angemessenen Frist zu erstatten ist, widrigenfalls die dadurch zum Nachteil des Steuerpflichtigen entstandenen finanziellen Verluste durch die Zahlung von Verzugszinsen auszugleichen sind.

    34

    Zu den Pflichten des vorlegenden Gerichts ist festzustellen, dass die nationalen Gerichte das nationale Recht bei seiner Anwendung so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks der fraglichen Richtlinie auslegen müssen, um das in der Richtlinie festgelegte Ziel zu erreichen und damit Art. 288 Abs. 3 AEUV nachzukommen. Diese Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts ist dem System des AEU-Vertrags immanent, da den nationalen Gerichten dadurch ermöglicht wird, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten die volle Wirksamkeit des Unionsrechts sicherzustellen, wenn sie über die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten entscheiden (vgl. u. a. Urteil vom 11. April 2013, Rusedespred, C‑138/12, EU:C:2013:233, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    35

    Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für deren volle Wirksamkeit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Bestimmung aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    36

    Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach dann, wenn von der Steuerverwaltung ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet und gegen einen Steuerpflichtigen wegen mangelnder Kooperation eine Geldbuße verhängt wird, der Zeitpunkt für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses bis zur Übergabe des Protokolls über diese Prüfung an den Steuerpflichtigen hinausgeschoben und die Zahlung von Verzugszinsen verweigert werden kann, selbst wenn die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens übermäßig lang ist und nicht zur Gänze auf das Verhalten des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.

    Kosten

    37

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach dann, wenn von der Steuerverwaltung ein Steuerprüfungsverfahren eingeleitet und gegen einen Steuerpflichtigen wegen mangelnder Kooperation eine Geldbuße verhängt wird, der Zeitpunkt für die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses bis zur Übergabe des Protokolls über diese Prüfung an den Steuerpflichtigen hinausgeschoben und die Zahlung von Verzugszinsen verweigert werden kann, selbst wenn die Dauer des Steuerprüfungsverfahrens übermäßig lang ist und nicht zur Gänze auf das Verhalten des Steuerpflichtigen zurückzuführen ist.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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