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Document 62016CC0367

Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 6. September 2017.
Openbaar Ministerie gegen Dawid Piotrowski.
Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Übergabeverfahren zwischen Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung abzulehnen ist – Art. 3 Nr. 3 – Minderjährige – Erfordernis der Prüfung des Mindestalters, um strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden zu können, oder einer Einzelfallprüfung der zusätzlichen Voraussetzungen, die das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats vorsieht, um einen Minderjährigen konkret verfolgen oder verurteilen zu können.
Rechtssache C-367/16.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:636

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 6. September 2017 ( 1 )

Rechtssache C‑367/16

Strafverfahren

gegen

Dawid Piotrowski

(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel [Appellationshof Brüssel, Belgien])

„Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist – Minderjähriger – Strafrechtliche Verantwortlichkeit – Prinzip der ‚Vorrangigkeit der Erziehung‘ – Recht eines Kindes – Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

1. 

Hintergrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens des Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) ist die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Belgien, den die polnischen Behörden am 17. Juli 2014 gegen Dawid Piotrowski, einen in Belgien ansässigen polnischen Staatsangehörigen, wegen Vollstreckung von zwei Freiheitsstrafen erlassen haben.

2. 

Konkret hat der Gerichtshof in dieser Rechtssache erstmals Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 2 ) in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 ( 3 ) (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) auszulegen. Diese Vorschrift normiert einen Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, wenn die Person, gegen die der Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.

3. 

In diesen Schlussanträgen werde ich erläutern, weshalb Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass der in dieser Vorschrift genannte Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, nicht schon deswegen Anwendung findet, weil der Straftäter, gegen den dieser Haftbefehl erlassen wurde, minderjährig ist.

4. 

Sodann werde ich darlegen, weshalb ich der Auffassung bin, dass Art. 3 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 4 ) dahin auszulegen ist, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe eines Minderjährigen ablehnen kann, wenn gegen diesen aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat nach dem Recht dieses Staates keine Strafe verhängt werden kann. Der Vollstreckungsmitgliedstaat hat dagegen den Minderjährigen stets dann zu übergeben, wenn aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat die im Ausstellungsmitgliedstaat verwirkte Strafe nach Art und Höhe einer Strafe entspricht, die auch im Vollstreckungsmitgliedstaat hätte verwirkt oder verhängt werden können.

5. 

Wird die Übergabe des Minderjährigen vom Vollstreckungsmitgliedstaat abgelehnt, hat dieser gegenüber dem Minderjährigen die Betreuungspflichten im Rahmen der Erziehungshilfe zu erfüllen, zu der er verpflichtet ist.

I. Rechtlicher Rahmen

A.  Unionsrecht

6.

Die Erwägungsgründe 5 bis 8 und 10 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten wie folgt:

„(5)

Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(7)

Da das Ziel der Ersetzung des auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 beruhenden multilateralen Auslieferungssystems von den Mitgliedstaaten durch einseitiges Vorgehen nicht ausreichend erreicht werden kann und daher wegen seines Umfangs und seiner Wirkungen besser auf Unionsebene zu erreichen ist, kann der Rat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip nach Artikel [3 EUV] und Artikel 5 [EUV] Maßnahmen erlassen. Entsprechend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip nach dem letztgenannten Artikel geht der vorliegende Rahmenbeschluss nicht über das für die Erreichung des genannten Ziels erforderliche Maß hinaus.

(8)

Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

(10)

Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. …“

7.

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des genannten Rahmenbeschlusses lautet:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

8.

Art. 3 des Rahmenbeschlusses nennt die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist. Er lautet:

„Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend ‚vollstreckende Justizbehörde‘ genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,

3.

wenn die Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters für die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.“

9.

Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lautet:

„(1)   Die vollstreckende Justizbehörde entscheidet über die Übergabe der betreffenden Person nach Maßgabe dieses Rahmenbeschlusses und innerhalb der darin vorgesehenen Fristen.

(2)   Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen, insbesondere hinsichtlich der Artikel 3 bis 5 und Artikel 8; sie kann eine Frist für den Erhalt dieser zusätzlichen Informationen festsetzen, wobei die Frist nach Artikel 17 zu beachten ist.

(3)   Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

B.  Belgisches Recht

10.

Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wurde durch Art. 4 Nr. 3 der Wet betreffende het Europees aanhoudingsbevel (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl) vom 19. Dezember 2003 (im Folgenden: Gesetz über den Europäischen Haftbefehl) ( 5 ) in belgisches Recht umgesetzt. Diese Bestimmung sieht vor, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird, wenn die Person, gegen die der Haftbefehl ergangen ist, nach belgischem Recht aufgrund ihres Alters für die Taten, die diesem Haftbefehl zugrunde liegen, noch nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.

11.

Das vorlegende Gericht führt dazu aus, dass im belgischen Recht das Strafmündigkeitsalter auf 18 Jahre festgesetzt ist. Ein Minderjähriger über 16 Jahre kann jedoch strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, wenn er Verkehrsverstöße begangen hat oder sein Verfahren vom Jugendrichter abgegeben wurde.

12.

Nach Art. 36 Nr. 4 der Wet betreffende de jeugdbescherming, het ten laste nemen van minderjarigen die een als misdrijf omschreven feit hebben gepleegd en het herstel van de door dit feit veroorzaakte schade (Gesetz über den Jugendschutz, die Betreuung Minderjähriger, die eine als Straftat qualifizierte Tat begangen haben, und die Wiedergutmachung des durch diese Tat verursachten Schadens) vom 8. April 1965 ( 6 ) in der für das Ausgangsverfahren geltenden Fassung (im Folgenden: Jugendschutzgesetz) erkennt die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht, Belgien) über die Anträge der Staatsanwaltschaft mit Bezug auf Personen, die wegen einer als Straftat qualifizierten Tat, die sie vor Vollendung des 18. Lebensjahrs begangen haben, verfolgt werden.

13.

Nach Art. 57bis § 1 des genannten Gesetzes kann, wenn eine wegen einer als Straftat qualifizierten Tat an die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) verwiesene Person zum Zeitpunkt dieser Tat 16 Jahre alt oder älter war und die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) der Ansicht ist, dass eine Betreuungs-, Schutz- oder Erziehungsmaßnahme nicht angebracht ist, dieses Gericht die Sache durch eine mit Gründen versehene Entscheidung an die Staatsanwaltschaft abgeben, damit die Verfolgung, je nach begangener Straftat, entweder vor einer spezifischen Kammer der Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) oder vor einem Assisenhof erfolgt.

14.

Nach dieser Bestimmung kann die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) die Sache jedoch nur dann abgeben, wenn eine der folgenden Bedingungen erfüllt ist, nämlich wenn gegen die betreffende Person bereits eine oder mehrere in Art. 37 § 2, § 2bis oder § 2ter des Jugendschutzgesetzes erwähnte Maßnahmen oder bereits ein Wiedergutmachungsangebot, wie in den Art. 37bis bis 37quinquies dieses Gesetzes erwähnt, angeordnet wurden oder wenn es sich um eine in den Art. 373, 375, 393 bis 397, 400, 401, 417ter, 417quater und 471 bis 475 des Strafgesetzbuches erwähnte Tat oder um den Versuch handelt, eine in den Art. 393 bis 397 des Strafgesetzbuches erwähnte Tat zu begehen.

15.

Art. 57bis § 1 des Jugendschutzgesetzes bestimmt weiterhin, dass die Begründung der Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) die Persönlichkeit der betreffenden Person, ihr Umfeld und ihren Reifegrad betrifft. Diese Bestimmung kann auch dann angewandt werden, wenn der Betreffende zum Zeitpunkt des Urteils das Alter von 18 Jahren bereits erreicht hat. In diesem Fall wird er einem Minderjährigen gleichgestellt.

16.

Nach Art. 57bis § 2 des genannten Gesetzes kann die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) in Anwendung dieses Artikels eine Sache erst abgeben, nachdem dieses Gericht eine Sozialuntersuchung und psycho-medizinische Untersuchung hat durchführen lassen. Ziel der Untersuchung ist es, die Lage je nach der Persönlichkeit der betreffenden Person, ihrem Umfeld sowie ihrem Reifegrad zu beurteilen. Dabei werden die Art, die Häufigkeit und die Schwere der ihr angelasteten Taten in Betracht gezogen, sofern sie zur Beurteilung ihrer Persönlichkeit beitragen.

17.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) eine Sache abgeben, ohne eine Sozialuntersuchung durchführen zu lassen und/oder ohne über den Bericht der psycho-medizinischen Untersuchung zu verfügen.

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

18.

Am 17. Juli 2014 erließ der Sąd Okręgowy w Białymstoku (Bezirksgericht Białystok, Polen) gegen Herrn Piotrowski, einen polnischen Staatsangehörigen, einen Europäischen Haftbefehl auf der Grundlage zweier rechtskräftiger Verurteilungen.

19.

Das Gericht verurteilte Herrn Piotrowski mit Urteil vom 15. September 2011 zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten wegen Diebstahls, genauer gesagt wegen eines Fahrraddiebstahls, und mit Urteil vom 10. September 2012 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten wegen falscher Angaben zu einem schweren Attentat. Die beiden Freiheitsstrafen sind noch vollständig zu verbüßen.

20.

Mit Verfügung vom 6. Juni 2016 ordnete der Onderzoekrechter van de Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg Brussel (Untersuchungsrichter des niederländischsprachigen Gerichts erster Instanz Brüssel, Belgien) die Inhaftnahme von Herrn Piotrowski zwecks Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls und Übergabe an die polnischen Behörden wegen der Verurteilung vom 10. September 2012 an. In derselben Verfügung stellte der Untersuchungsrichter jedoch fest, dass der Europäische Haftbefehl hinsichtlich der Verurteilung vom 15. September 2011 nicht vollstreckt werden könne, da Herr Piotrowski zur Tatzeit minderjährig gewesen sei.

21.

Am 7. Juni 2016 legte der Procureur des Konings (Prokurator des Königs, Belgien) gegen diese Verfügung Rechtsmittel ein, soweit mit ihr die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls bezüglich der Verurteilung vom 15. September 2011 abgelehnt worden war. Er führte aus, gegen einen Minderjährigen, der älter als 16 Jahre sei, könnten die belgischen Behörden einen Europäischen Haftbefehl erlassen, wenn die Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) die Sache nach Maßgabe des Jugendschutzgesetzes abgegeben habe. In diesem Fall prüfe das Jugendgericht konkret die Lage des Minderjährigen, um festzustellen, ob er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und strafrechtlich verfolgt werden könne.

22.

Gehe es dagegen um die Vollstreckung eines von den Behörden eines anderen Mitgliedstaats ausgestellten Europäischen Haftbefehls, sei diese konkrete Prüfung nicht erforderlich und nur das Kriterium des Alters zu berücksichtigen, d. h. festzustellen, ob die betreffende Person zum Tatzeitpunkt 16 Jahre alt gewesen sei. Von diesem Alter an könne nämlich die strafrechtliche Verantwortlichkeit gegeben sein, ohne dass es im Rahmen des Übergabe- oder Auslieferungsrechts darauf ankomme, welche weiteren Voraussetzungen für die Einleitung der Strafverfolgung nach belgischem Recht erfüllt sein müssten. Der belgische Richter sei insoweit für die Entscheidung über die strafrechtliche Verfolgung nicht zuständig und könne der Behörde, die den Übergabe- oder Auslieferungsantrag gestellt habe, auch keine Bedingungen stellen, die dem nationalen Recht dieser Behörde fremd seien.

23.

Das vorlegende Gericht, der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel), sieht sich tatsächlich zwei einander widersprechenden Urteilen zu der Frage gegenüber, ob ein Minderjähriger im Alter von 16 Jahren im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls übergeben werden kann.

24.

In einem Urteil vom 6. Februar 2013 ( 7 ) stellte nämlich die Zweite Kammer, französischsprachige Abteilung, des Hof van Cassatie (Kassationshof, Belgien), im Wesentlichen fest, dass das Abgabeverfahren auf eine Person, die von den Behörden eines anderen Staates strafrechtlich verfolgt werde, keine Anwendung finde und daher im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der einen Minderjährigen betreffe, nicht angewandt werden könne. Eine Übergabe dieses Minderjährigen sei deshalb nicht möglich.

25.

Dagegen entschied der Hof van Cassatie (Kassationshof) in Vollsitzung mit Urteil vom 11. Juni 2013 ( 8 ), dass das dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beinhalte, dass das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht über die Strafverfolgung entscheiden könne. Dies schließe daher aus, dass das belgische Gericht vorab prüfe, ob eine Betreuungs-, Schutz- oder Erziehungsmaßnahme im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abgabeentscheidung der Familie- en jeugdrechtbank (Familien- und Jugendgericht) angebracht sei. Folglich hänge die Übergabe einer zum Zeitpunkt der Tat – in dem betreffenden Fall eines Totschlags – mindestens 16 Jahre alten Person nicht von einer Abgabeentscheidung ab, so dass diese Person im Sinne von Art. 4 Nr. 3 des Gesetzes über den Europäischen Haftbefehl strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden könne.

26.

Angesichts der aus dieser Rechtsprechung folgenden Unsicherheit hat das vorlegende Gericht daher beschlossen, den Gerichtshof anzurufen.

III. Die Vorlagefragen

27.

Aufgrund von Zweifeln hinsichtlich der Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 hat der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl dahin auszulegen, dass eine Übergabe von Personen nur zulässig ist, wenn diese Personen nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats als volljährig gelten, oder gestattet es der vorerwähnte Artikel dem Vollstreckungsmitgliedstaat, auch Minderjährige zu übergeben, die aufgrund der nationalen Vorschriften ab einem bestimmten Alter (und gegebenenfalls bei Erfüllung einer Reihe von Bedingungen) strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können?

2.

Für den Fall, dass die Übergabe von Minderjährigen nicht nach Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses verboten ist: Ist diese Vorschrift dann dahin auszulegen, dass

a)

das Bestehen einer (theoretischen) Möglichkeit, Minderjährige nach nationalem Recht ab einem bestimmten Alter zu bestrafen, als Kriterium genügt, um die Übergabe zu erlauben (mit anderen Worten durch Vornahme einer abstrakten Prüfung auf der Grundlage des Kriteriums des Alters, ab dem eine Person als strafrechtlich verantwortlich gilt, ohne etwaigen zusätzlichen Bedingungen Rechnung zu tragen), oder

b)

weder der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 noch der Wortlaut von Art. 3 Nr. 3 dieses Rahmenbeschlusses der Vornahme einer konkreten Einzelfallprüfung durch den Vollstreckungsmitgliedstaat entgegenstehen, bei der verlangt werden kann, dass in Bezug auf die im Rahmen der Übergabe gesuchte Person die gleichen Bedingungen für die strafrechtliche Verantwortlichkeit erfüllt sind, wie sie für die eigenen Staatsangehörigen des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters zum Zeitpunkt der Taten, aufgrund der Art der zur Last gelegten Straftat und möglicherweise sogar aufgrund von Vorstrafen im Ausstellungsmitgliedstaat, die zu einer Erziehungsmaßnahme geführt haben, gelten, selbst wenn diese Bedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat nicht bestehen?

3.

Falls der Vollstreckungsmitgliedstaat eine konkrete Prüfung vornehmen darf, ist dann zur Vermeidung von Straflosigkeit kein Unterschied zu machen zwischen einer Übergabe zum Zweck der Strafverfolgung und einer Übergabe zum Zweck der Strafvollstreckung?

IV. Würdigung

28.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass meines Erachtens kein Zweifel daran besteht, dass der in Art. 3 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannte Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, nicht schon deswegen Anwendung findet, weil der Straftäter, gegen den dieser Haftbefehl erlassen wurde, minderjährig ist.

29.

Aus den vorbereitenden Arbeiten für den Erlass des genannten Rahmenbeschlusses ergibt sich nämlich, dass der Gesetzgeber der Union die Lage der Minderjährigen durch Einfügung einer Änderung während des Gesetzgebungsverfahrens berücksichtigte: So braucht ein Mitgliedstaat einen Minderjährigen, gegen den ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wurde, nicht zu übergeben, wenn er nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund seines Alters nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann. Das Europäische Parlament, das diese Änderung vornahm, rechtfertigte dies mit dem Hinweis, dass, „[wenn] die gesuchte Person als minderjährig in dem Vollstreckungsmitgliedstaat [gilt], … dieser Staat die Möglichkeit haben [sollte], die Vollstreckung des Haftbefehls abzulehnen“ ( 9 ).

30.

Dieser Grund für die Ablehnung einer Vollstreckung, der ursprünglich als Möglichkeit vorgesehen war, wurde zu einem der Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden muss, und ist heute in Art. 3 Nr. 3 des genannten Rahmenbeschlusses niedergelegt.

31.

Ich weise außerdem darauf hin, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit nicht mit der vollen Strafmündigkeit verwechselt werden darf, da es sich um zwei ganz unterschiedliche Begriffe handelt. Minderjährige können für die von ihnen begangenen Taten strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Die volle Strafmündigkeit dagegen ist ein Begriff zur Festlegung des Alters, von dem an eine Person dem allgemeinen Strafrecht unterliegt.

32.

Somit ist offenkundig, dass der Gesetzgeber der Union mit dieser Vorschrift, wonach die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaats es ablehnt, eine Person, die „aufgrund ihres Alters“ für die von ihr begangene Handlung „nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann“, an die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats abzugeben, nicht auf Personen abzielte, die noch nicht voll strafmündig sind, sondern auf Minderjährige, die nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.

33.

Meines Erachtens ist daher Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass der in dieser Vorschrift genannte Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, nicht schon deswegen Anwendung findet, weil der Straftäter, gegen den dieser Haftbefehl erlassen wurde, minderjährig ist.

34.

Nunmehr ist zu prüfen, ob – wie das vorlegende Gericht im Wesentlichen fragt – der Begriff der „strafrechtlichen Verantwortlichkeit“ im Sinne der genannten Vorschrift den Vollstreckungsmitgliedstaat berechtigt, für die Übergabe des Minderjährigen an den Ausstellungsmitgliedstaat die Lage des Minderjährigen zu prüfen, um zu klären, ob alle nach seinem nationalen Recht erforderlichen Voraussetzungen einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Minderjährigen erfüllt sind.

35.

Die Vorlagefragen betreffen das für Minderjährige geltende Recht. Ihre Beantwortung muss also die spezifischen Eigenheiten dieses Rechts berücksichtigen, das einerseits die herkömmlichen Mechanismen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zugrunde legt, andererseits aber dabei Regeln einführt, die deren Funktionsweise und deren Ansatz grundlegend modifizieren.

36.

Was zunächst die herkömmlichen Regeln des Mechanismus der strafrechtlichen Verantwortlichkeit betrifft, ist daran zu erinnern, dass der Täter, um wegen einer konkreten Handlung, die nach dem Recht des Begehungsortes unter Strafe steht, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen zu werden, folgende Merkmale verwirklicht haben muss:

Er war sich bewusst, was er tat,

er wusste, dass die Tat verboten war, und

er wollte sie gleichwohl begehen.

37.

Diese Merkmale (Bewusstsein, Einsicht und Wille) sind im Einzelfall konkret zu beurteilen und gehören unter Beachtung der Regeln eines fairen Verfahrens zu den Aufgaben des Ermittlungs- oder Untersuchungsrichters bzw. des erkennenden Gerichts. Es handelt sich hierbei um die Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats.

38.

Hinsichtlich der materiellen Besonderheiten, die durch das Jugendrecht eingeführt wurden, ist nunmehr aufzuzeigen, worin diese im Wesentlichen bestehen.

39.

Betrachtet man die allgemeinen Regeln, die für die strafrechtliche Verantwortlichkeit gelten, so ist ohne Weiteres klar, dass ihre Beachtung umso mehr Schwierigkeiten bereitet, je jünger der Minderjährige ist. Zur Lösung dieser Schwierigkeiten haben einige Mitgliedstaaten einen konkreten Ansatz gewählt, wie ich ihn in den Nrn. 36 und 37 der vorliegenden Schlussanträge beschrieben habe, während andere Mitgliedstaaten ein System eingeführt haben, das jede strafrechtliche Verantwortlichkeit unterhalb einer gesetzlich festgelegten Altersgrenze ausschließt.

40.

Bei der anwendbaren Sanktion zeigt sich sodann ein wesentlicher Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht, der im Grunde in der Trennung zwischen Verantwortlichkeit und Strafbarkeit besteht. So kann ein minderjähriger Straftäter zur Verantwortung gezogen werden, das Gesetz verbietet es aber aufgrund seines Alters, eine Strafe gegen ihn zu verhängen.

41.

Diese Lösung, die eigenartig oder gar besonders kompliziert erscheinen mag, ist in Wirklichkeit die Konkretisierung eines der grundlegenden Prinzipien, die dem Jugendrecht zugrunde liegen, nämlich des Prinzips der Vorrangigkeit der Erziehung.

42.

Dieses Prinzip bildete sich im Zuge der historischen Entwicklung dieses Zweigs des Strafrechts heraus, einer Entwicklung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere unter dem Einfluss der so genannten Theorien der „défense sociale“ (Sozialverteidigung) beschleunigte, die den Nachdruck auf die Prävention, die Erziehung und die Resozialisierung legten.

43.

Die Besonderheit des Jugendstrafrechts wird heute durch zahlreiche internationale Übereinkünfte unterstrichen, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Zu ihnen gehören die Konvention über die Rechte des Kindes ( 10 ) sowie die Rahmenbestimmungen der Vereinten Nationen für die Jugendgerichtsbarkeit (Beijing-Regeln) ( 11 ).

44.

Die Union hat dieser Besonderheit schon Rechnung getragen und sorgt dafür, dass sie in alle Politikbereiche der Union Eingang findet. So erläutert die Kommission in der EU-Agenda für die Rechte des Kindes ( 12 ), dass „[g]anz oben auf [dieser] EU-Agenda … die Entwicklung hin zu einer kindgerechteren Justiz in Europa [steht]“ und dass „[e]in Freiheitsentzug bei Kindern … stets nur das letzte Mittel sein und zeitlich auf das notwendige Mindestmaß beschränkt werden [sollte]“ ( 13 ). In der Richtlinie (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind ( 14 ), wird besonders hervorgehoben, dass diese Besonderheit des Jugendstrafrechts im Unionsrecht Berücksichtigung gefunden hat.

45.

Eben diese Notwendigkeit hat der Europarat in dem Bericht „Child-friendly juvenile justice: from rhetoric to reality“ (Eine kindgerechte Justiz: von der Theorie zur Praxis) ( 15 ) unterstrichen. In diesem Bericht drückt er sich noch deutlicher aus und ruft die Mitgliedstaaten insbesondere auf, für die strafrechtliche Verantwortlichkeit ein Mindestalter von 14 Jahren festzulegen sowie statt der traditionellen Strafverfolgung eine Palette von Lösungen vorzusehen, die den jüngeren Straftätern gerecht werden, und dafür zu sorgen, dass der Freiheitsentzug bei einem Minderjährigen so kurz wie möglich dauert und nur als letztes Mittel angewandt wird, indem insbesondere anstelle einer vorläufigen Festnahme und einer Inhaftierung nach Abschluss des Prozesses alternative Maßnahmen und Sanktionen ohne Freiheitsentzug getroffen werden, wie etwa Verwarnung oder Verweis, Erziehungsmaßregeln, Geldbuße, Überwachungsanordnungen, Ausbildungsprogramme usw. Alle diese Empfehlungen übernehmen im Wesentlichen die in der Konvention über die Rechte des Kindes ( 16 ) und den Beijing-Regeln ( 17 ) enthaltenen Bestimmungen.

46.

Nach alledem hat die Strafe im Jugendstrafrecht nur subsidiären Charakter, und das erzieherische Moment steht im Vordergrund. Aus diesem Grund wird von der „Vorrangigkeit der Erziehung“ gesprochen.

47.

Diese Besonderheit ist von so großer Bedeutung, dass sie meines Erachtens zu den Grundrechten hinführt. Eine Bestätigung hierfür findet sich meiner Meinung nach in Art. 24 Abs. 2 der Charta, der bestimmt, dass „[b]ei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen … das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein [muss]“.

48.

Im Übrigen rechtfertigt und verlangt es das Wohl des Kindes, das traditionelle Schema der strafrechtlichen Reaktion den Erfordernissen anzupassen, die sich aus der Berücksichtigung des Wohls des Kindes angesichts seines Alters und des angestrebten Ziels ergeben, d. h. dafür zu sorgen, dass die repressiven gerichtlichen Maßnahmen es zulassen, die Resozialisierung und Erziehung des Kindes so weit wie möglich sicherzustellen.

49.

Bei einem Menschen, dessen Persönlichkeitsentwicklung aufgrund seines Alters noch nicht abgeschlossen ist, rechtfertigt es die Berücksichtigung des Kindeswohls, das im Übrigen auch im Interesse der Gesellschaft insgesamt liegt, besondere Maßnahmen im Hinblick sowohl auf die Ermittlungs- und Untersuchungsverfahren als auch auf die Urteilsverfahren zu treffen und die Skala der möglichen Reaktionen so zu diversifizieren, dass eine Erziehungsmaßregel als strafrechtliche Sanktion ausgesprochen werden kann, sofern das Gesetz dies erlaubt.

50.

Das Gesetz kann dies nämlich untersagen, indem es bestimmt, dass bis zu einem bestimmten Alter der Begriff der strafrechtlichen Sanktion unangemessen ist und dass die gegenüber einem jungen Minderjährigen getroffene Maßnahme nur in einem rein erzieherischen Kontext und nicht in einem gemischten Kontext von Sanktion und Erziehung stehen darf, was deren Sinn verfälschen sowie die Mitwirkung des Minderjährigen an dieser Maßnahme und damit deren Wirksamkeit gefährden würde.

51.

Angesichts der oben angeführten Grundsätze ist meines Erachtens festzustellen, dass ein System, das nicht zwischen Strafen für erwachsene Straftäter und denen für jugendliche Straftäter differenzierte, tatsächlich die Grundrechte des betreffenden Jugendlichen verletzen würde, da eine individuelle Festlegung der Strafe – die notwendige Voraussetzung für die Anwendung des Grundsatzes der Vorrangigkeit der Erziehung – unmöglich wäre, weil das Gesetz selbst dem Gericht seinen Ermessensspielraum nehmen würde.

52.

Tatsächlich zeigt ein Rechtsvergleich, dass zumindest im Recht der Mitgliedstaaten der Union diese Staaten ein System geschaffen haben, dass es dem Richter erlaubt, diese individuelle Festlegung durch zwei sich ergänzende Ansätze zu gewährleisten. Erstens durch die Diversifizierung der Strafen, die der Richter verhängen kann, und zweitens durch die erst von bestimmten Altersgrenzen an erlaubte Verhängung von Strafen, die der klassischen Freiheits- oder Geldstrafe nahe kommen.

53.

Daher kann bis zu einer bestimmten Altersgrenze keine Strafe verhängt werden. Jenseits dieser Altersgrenze kann für Straftaten, die in dem unmittelbar anschließenden Altersabschnitt begangen werden, die verhängte Strafe nur in einer Erziehungsmaßregel bestehen. Für den folgenden Altersabschnitt sind die normalerweise verwirkten, wegen des Grundsatzes der Vorrangigkeit der Erziehung jedoch als subsidiär angesehenen Strafen in jedem Fall zwingend zu ermäßigen und ihre grundsätzliche Anwendung ist im konkreten Fall besonders zu begründen. Stufenweise entsprechend den aufeinanderfolgenden Altersabschnitten nähert sich der jugendliche Straftäter so Schritt für Schritt dem Status der vollen Strafmündigkeit.

54.

Im Rahmen dieses Ansatzes befinden wir uns nunmehr in einem Bereich, in dem das Alter der für alle Mitgliedstaaten einheitliche Bezugspunkt ist. Zum einen hat in diesem Bereich jeder die freie Wahl, wie er die strafrechtliche Verantwortlichkeit der Minderjährigen bestimmen will, ist allerdings verpflichtet, die Wahl der anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen. Zum anderen ist es gestattet, durch Bezugnahme auf die verwirkte oder verhängte Strafe ein objektives Übereinstimmungskriterium festzulegen, das über Zusage oder Ablehnung der Übergabe entscheidet.

55.

Somit ist Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in diesem Sinne auszulegen. Die Bezugnahme auf das Alter in dieser Bestimmung betrifft das Alter, in dem eine Strafe gegen einen jugendlichen Täter verhängt werden kann. Es kann nämlich nicht angehen, dass bestimmte Mitgliedstaaten geltend machen, dass ihre nationalen Rechtsvorschriften eine Methode zur Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Minderjährigen in jedem einzelnen Fall durch die konkrete Prüfung vorsähen, ob die in den Nr. 36 und 37 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten drei Kriterien zusammen erfüllt seien, und mit dieser Begründung eine solche Prüfung in ihrer Eigenschaft als Vollstreckungsmitgliedstaat erneut vornehmen können. Dies würde nämlich auf die Wiedereinführung eines aufwändigen Auslieferungssystems hinauslaufen, das verlangen würde, dass sich der Vollstreckungsmitgliedstaat die gesamten Ermittlungs- oder Strafakten übermitteln lässt und prüft, ob das Verfahren in allen Einzelheiten seinem eigenen nationalen Verfahren entsprach.

56.

Dieser Fall wäre mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht zu vereinbaren. Dieser verpflichtet den Vollstreckungsmitgliedstaat, die Beurteilung des Ausstellungsmitgliedstaats hinsichtlich der im Fall der Strafverfolgung möglichen und im Fall der Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat erwiesenen Schuld zu übernehmen. Der Rahmenbeschluss beruht auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ( 18 ). Er kann daher nicht in einem Sinne ausgelegt werden, der zur Verneinung dieses Grundsatzes führen würde.

57.

Dagegen bleibt als wesentlicher Punkt die Frage, ob aufgrund seines Alters gegen den Minderjährigen eine Strafe verhängt werden darf. Um diese grundlegende Frage geht es in Art. 3 Nr. 3 des genannten Rahmenbeschlusses, der, wenn die Frage zu verneinen ist, dies als Grund normiert hat, um die Übergabe ohne Weiteres abzulehnen. Die Bestimmung stellt sicher, dass alle Mitgliedstaaten einen der Grundgedanken des Minderjährigenrechts ausnahmslos beachten. Damit wahrt sie die Grundrechte, die sich insbesondere aus Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben.

58.

Der Vollständigkeit halber ist hinzuzufügen, dass das Wesen des Jugendrechts, das grundsätzlich auf die Vorrangigkeit der Erziehung abstellt, es mit sich bringt, dass die Entscheidung über die Ablehnung der Übergabe aufgrund von Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht dazu führen darf, dass der Minderjährige ganz einfach „sich selbst“ überlassen wird. Vielmehr ergibt sich aus der Berücksichtigung des Wohls des Minderjährigen die Verpflichtung, auf einem anderen Weg für ihn Sorge zu tragen, d. h. über die Erziehungshilfe. Sie ist eine Art von Betreuung und Schutz zum Wohl des Minderjährigen, wenn seine Gesundheit, seine Sicherheit und seine Sittlichkeit gefährdet sind.

59.

Wenn sich hier die Frage nach einer Übergabe stellt, dann deshalb, weil es sich um eine Straftat handelt, die im Ausstellungsmitgliedstaat begangen wurde. Diese Straftat kann nicht durch Schuldunfähigkeit – wie dieser Begriff auch immer definiert werden mag – beseitigt werden. Man kann daher nicht die Ansicht vertreten, dass die Vornahme einer verbotenen Handlung – die von einer gewissen Schwere ist, da sie die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls erfüllt – als normal zu betrachten ist. Den Vollstreckungsmitgliedstaat trifft in diesem Fall also durchaus eine Betreuungspflicht, und zwar auch hier wiederum aufgrund der Grundrechte des Kindes. Im Übrigen geht es, wie gesagt, um die Ablehnung einer Übergabe, weil der Minderjährige im Vollstreckungsmitgliedstaat für die Verbüßung einer Strafe, auch wenn sie in einer Erziehungsmaßregel bestände, zu jung ist. Umso klarer besteht daher für diesen Staat die Pflicht zur Betreuung.

60.

Diese Auslegung, die sich an der Komplementarität der verschiedenen Aspekte des Jugendrechts orientiert, ist meines Erachtens geeignet, die Grundlage der spezifischen Regeln des Jugendrechts zu achten, die vor allem Ausdruck der grundlegenden Solidarität zwischen den Generationen und den Völkern ist. Ich bin tief davon überzeugt, dass die Regeln, die die Schaffung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ermöglichen, nicht in einem Sinne ausgelegt werden können, der diesem Ideal widerspricht, sondern nur in einem solchen, der es stärkt.

61.

Im vorliegenden Fall geht es um den Antrag auf Übergabe eines Minderjährigen, bei dem nach belgischem Recht die Verhängung einer Sanktion nicht ausgeschlossen ist. Dazu müssten die Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats allerdings die Persönlichkeit des Minderjährigen, seine Vorgeschichte und die Frage seiner Einsichtsfähigkeit zum Zeitpunkt der Begehung der Tat untersuchen. Diese Fragen, insbesondere die, welche Sanktion gegen den Minderjährigen aufgrund seiner Persönlichkeit und seines Alters verhängt werden kann, stellen sich aber gleichfalls im Ausstellungsmitgliedstaat. Die Antwort auf diese Fragen ist somit Teil einer Beurteilung, die allein dem Gericht dieses Mitgliedstaats zukommt. Wollte man dieses Ergebnis ablehnen, liefe dies, unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, auf eine Zurückweisung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hinaus.

62.

Nach alledem ist daher meines Erachtens Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe eines Minderjährigen ablehnen kann, wenn gegen diesen aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat nach dem Recht dieses Staates keine Strafe verhängt werden kann. Der Vollstreckungsmitgliedstaat hat dagegen den Minderjährigen stets dann zu übergeben, wenn aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat die in dem Ausstellungsmitgliedstaat verwirkte Strafe nach ihrer Art und Höhe einer Strafe entspricht, die auch im Vollstreckungsmitgliedstaat hätte verwirkt oder verhängt werden können.

63.

Wird die Übergabe des Minderjährigen vom Vollstreckungsmitgliedstaat abgelehnt, hat dieser gegenüber dem Minderjährigen die Betreuungspflichten im Rahmen der Erziehungshilfe zu erfüllen, zu der er verpflichtet ist.

V. Ergebnis

64.

Nach alledem schlage ich vor, auf die vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.

Art. 3 Nr. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der Fassung des Rahmenbeschlusses 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass

der in dieser Vorschrift genannte Grund, aus dem die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, nicht schon deswegen Anwendung findet, weil der Straftäter, gegen den dieser Haftbefehl erlassen wurde, minderjährig ist;

der Vollstreckungsmitgliedstaat die Übergabe eines Minderjährigen ablehnen kann, wenn gegen diesen aufgrund seines Alters zur Zeit der Begehung der Straftat nach dem Recht dieses Staates keine Strafe verhängt werden kann;

der Vollstreckungsmitgliedstaat dagegen den Minderjährigen stets dann zu übergeben hat, wenn aufgrund seines Alters zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat die in dem Ausstellungsmitgliedstaat verwirkte Strafe nach ihrer Art und Höhe einer Strafe entspricht, die auch im Vollstreckungsmitgliedstaat hätte verwirkt oder verhängt werden können.

2.

Wird die Übergabe des Minderjährigen vom Vollstreckungsmitgliedstaat abgelehnt, hat dieser gegenüber dem Minderjährigen die Betreuungspflichten im Rahmen der Erziehungshilfe zu erfüllen, zu der er verpflichtet ist.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2002, L 190, S. 1.

( 3 ) ABl. 2009, L 81, S. 24.

( 4 ) Im Folgenden: Charta.

( 5 ) Belgisch Staatsblad vom 22. Dezember 2003, S. 60075.

( 6 ) Belgisch Staatsblad vom 15. April 1965, S. 4014.

( 7 ) Urteil Nr. P.13.0172.F, abrufbar auf der Internetseite http://jure.juridat.just.fgov.be/pdfapp/download_blob?idpdf=F‑20130206-3.

( 8 ) Urteil Nr. P.13.0780.N, abrufbar auf der Internetseite http://jure.juridat.just.fgov.be/pdfapp/download_blob?idpdf=F‑20130611-2.

( 9 ) Vgl. Bericht des Europäischen Parlaments vom 14. November 2001 über den Legislativvorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates zur Terrorismusbekämpfung (A5-0397/2001, Änderungsantrag 72), abrufbar auf der Internetseite http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//NONSGML+REPORT+A5-2001-0397+0+DOC+PDF+V0//DE. Hervorhebung nur hier.

( 10 ) Konvention, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 mit der Resolution 44/25 angenommen wurde und am 2. September 1990 in Kraft trat.

( 11 ) Sie wurden von derselben Generalversammlung mit der Resolution 40/33 vom 29. November 1985 angenommen.

( 12 ) Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, KOM(2011) 60 endgültig.

( 13 ) Vgl. S. 6 ff. dieser Mitteilung.

( 14 ) ABl. 2016, L 132, S. 1.

( 15 ) Bericht vom 19. Mai 2014, Dok. 13511.

( 16 ) Vgl. Art. 40 dieser Konvention.

( 17 ) Vgl. insbesondere Art. 17 dieser Regeln.

( 18 ) Vgl. Urteil vom 29. Juni 2017, Popławski (C‑579/15, EU:C:2017:503, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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