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Document 62015CJ0524

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 20. März 2018.
Strafverfahren gegen Luca Menci.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bergamo.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen.
Rechtssache C-524/15.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:197

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

20. März 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer – Sanktionen – Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem – Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion – Vorliegen derselben Straftat – Art. 52 Abs. 1 – Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem – Voraussetzungen“

In der Rechtssache C‑524/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo, Italien) mit Entscheidung vom 16. September 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Oktober 2015, in dem Strafverfahren gegen

Luca Menci,

Beteiligte:

Procura della Repubblica,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.‑C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: V. Giacobblo-Peyronnel, Verwaltungsrätin, dann R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2016,

aufgrund des Beschlusses vom 25. Januar 2017 zur Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Menci, vertreten durch G. Broglio, V. Meanti und I. Dioli, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo, avvocato dello Stato,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,

Irlands, zunächst vertreten durch E. Creedon, dann durch M. Browne, G. Hodge und A. Joyce als Bevollmächtigte im Beistand von M. Gray, Barrister,

der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas, G. de Bergues, F.‑X. Bréchot, S. Ghiandoni und E. de Moustier als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer, M. Owsiany-Hornung und F. Tomat als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Luca Menci wegen Mehrwertsteuerstraftaten.

Rechtlicher Rahmen

EMRK

3

Art. 4 („Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden“) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:

„(1)   Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.

(2)   Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.

(3)   Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.“

Unionsrecht

4

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt, welche Umsätze der Mehrwertsteuer unterliegen.

5

Art. 273 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

Italienisches Recht

6

In Art. 13 Abs. 1 des Decreto Legislativo n. 471 – Riforma delle sanzioni tributarie non penali in materia di imposte dirette, di imposta sul valore aggiunto e di riscossione dei tributi, a norma dell’articolo 3, comma 133, lettera q, della legge 23 dicembre 1996, n. 662 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 471 – Reform der nicht strafrechtlichen Steuersanktionen im Bereich der direkten Steuern, der Mehrwertsteuer und des Steuereinzugs gemäß Art. 3 Abs. 133 Buchst. q des Gesetzes Nr. 662 vom 23. Dezember 1996), vom 18. Dezember 1997 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 5 vom 8. Januar 1998) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 471/97) hieß es:

„Wer es ganz oder teilweise unterlässt, innerhalb der vorgesehenen Fristen Abschlagszahlungen, wiederkehrende Zahlungen, die Ausgleichszahlung oder den sich aus der Erklärung ergebenden Steuersaldo, in diesen Fällen abzüglich des Betrags der wiederkehrenden Zahlungen und der Abschlagszahlungen, auch wenn sie nicht abgeführt wurden, zu leisten, wird mit einer Verwaltungssanktion belegt, die 30 % des jeweils nicht geleisteten Betrags entspricht, auch wenn sich infolge der Berichtigung bei der Überprüfung der jährlichen Erklärung festgestellter Schreib- oder Rechenfehler eine höhere Steuer oder ein geringerer abzugsfähiger Überschuss ergibt. …“

7

Art. 10bis Abs. 1 des Decreto Legislativo n. 74 – Nuova disciplina dei reati in materia di imposte sui redditi e sul valore aggiunto, a norma dell’articolo 9 della legge 25 giugno 1999, n. 205 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 74 – Erlass einer Neuregelung für Straftaten im Bereich der Einkommensteuer und der Mehrwertsteuer gemäß Art. 9 des Gesetzes Nr. 205 vom 25. Juni 1999), vom 10. März 2000 (GURI Nr. 76 vom 31. März 2000, S. 4) bestimmte in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 74/2000):

„Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wird bestraft, wer die nach der Jahressteuererklärung geschuldeten oder sich aus der den Steuerpflichtigen ausgestellten Bescheinigung ergebenden Steuerabzüge nicht innerhalb der Frist zur Vorlage der Jahressteuererklärung des Steuerabführungspflichtigen abführt, wenn der geschuldete Betrag im jeweiligen Besteuerungszeitraum 50000 Euro übersteigt.“

8

Art. 10ter („Nichtabführung der Mehrwertsteuer“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 sah in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung in Abs. 1 vor:

„Art. 10bis findet innerhalb der dort festgelegten Grenzen auch auf denjenigen Anwendung, der die nach der Jahressteuererklärung geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der für Abschlagszahlungen für den folgenden Steuerzeitraum geltenden Frist abführt.“

9

Art. 20 („Verhältnis zwischen Strafverfahren und Steuerverfahren“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 sieht in Abs. 1 vor:

„Das behördliche Steuerprüfungsverfahren zur Festsetzung des beizutreibenden Betrags und das finanzgerichtliche Verfahren können während des laufenden Strafverfahrens wegen derselben Tat oder wegen einer Tat, deren Feststellung für den Verfahrensausgang maßgebend ist, nicht ausgesetzt werden.“

10

Art. 21 („Verwaltungssanktionen für unter das Strafrecht fallende Taten“) des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Die zuständige Behörde verhängt jedenfalls die Verwaltungssanktionen für Steuerstraftaten, für die eine Mitteilung des Verdachts einer Straftat vorliegt.

(2)   Diese Sanktionen sind gegenüber anderen als den in Art. 19 Abs. 2 bezeichneten Personen nur vollstreckbar, wenn das Strafverfahren durch einen Einstellungsbeschluss oder ein rechtskräftiges Urteil beendet wird, in dem der Angeklagte freigesprochen wird oder mit der Feststellung freigesprochen wird, dass die Tat keine strafrechtliche Relevanz hat. Im letztgenannten Fall beginnt die Frist für die Beitreibung mit dem Tag der Bekanntgabe des Einstellungsbeschlusses oder des Urteils gegenüber der zuständigen Behörde; die Bekanntgabe erfolgt durch die Kanzlei des Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

11

Gegen Herrn Menci wurde ein Verwaltungsverfahren durchgeführt, in dem ihm vorgeworfen wurde, es als Inhaber des gleichnamigen Einzelunternehmens unterlassen zu haben, die sich aus der Jahressteuererklärung für das Steuerjahr 2011 ergebende Mehrwertsteuer in Höhe von insgesamt 282495,76 Euro innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abzuführen.

12

In diesem Verfahren erging eine Entscheidung der Amministrazione Finanziaria (Finanzverwaltung, Italien), mit der sie Herrn Menci aufgab, die geschuldete Mehrwertsteuer abzuführen, und gegen ihn auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 eine Verwaltungssanktion in Höhe von 30 % der Steuerschuld (84748,74 Euro) verhängte. Diese Entscheidung wurde bestandskräftig. Dem Antrag auf Ratenzahlung von Herrn Menci wurde stattgegeben, woraufhin dieser die ersten Raten zahlte.

13

Nach dem endgültigen Abschluss dieses Verwaltungsverfahrens wurde durch Anklageschrift der Procura della Repubblica (Staatsanwaltschaft, Italien) gegen Herrn Menci wegen derselben Tat ein Strafverfahren beim Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo, Italien) eingeleitet, mit der Begründung, die Nichtabführung von Mehrwertsteuer sei eine Straftat nach Art. 10bis Abs. 1 und Art. 10ter Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000.

14

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Strafverfahren und das Verwaltungsverfahren nach den Bestimmungen des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 getrennt voneinander zu führen seien und in die Zuständigkeit der Strafverfolgungsbehörden bzw. der Verwaltungsbehörden fielen. Keines dieser beiden Verfahren dürfe ausgesetzt werden, um das Ergebnis des anderen Verfahrens abzuwarten.

15

Art. 21 Abs. 2 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000, wonach die von der zuständigen Verwaltungsbehörde wegen Steuerstraftaten verhängten Verwaltungssanktionen nur vollstreckbar seien, wenn das Strafverfahren durch einen Einstellungsbeschluss oder ein rechtskräftiges Urteil, in dem der Angeklagte freigesprochen werde oder mit der Feststellung freigesprochen werde, dass die Tat keine strafrechtliche Relevanz habe, beendet worden sei, lasse es zu, dass gegen eine Person wie Herrn Menci ein Strafverfahren durchgeführt werde, nachdem sie bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion belegt worden sei.

16

Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bergamo (Gericht von Bergamo) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 50 der Charta, wie er im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK sowie der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen ist, der Möglichkeit entgegen, ein Strafverfahren wegen einer Tat (Nichtabführung der Mehrwertsteuer) durchzuführen, für die der Angeklagte bereits mit einer unwiderruflichen Verwaltungssanktion belegt wurde?

Zur Vorlagefrage

17

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Charta im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion belegt wurde.

18

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in Bezug auf die Mehrwertsteuer u. a. aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19

Zudem verpflichtet Art. 325 AEUV die Mitgliedstaaten, zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union richten, abschreckende und wirksame Maßnahmen zu ergreifen; insbesondere müssen sie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen die finanziellen Interessen der Union richtet, dieselben Maßnahmen ergreifen wie zur Bekämpfung von Betrug, der sich gegen ihre eigenen Interessen richtet. Dabei umfassen die finanziellen Interessen der Union u. a. die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 30 und 31 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

20

Die Mitgliedstaaten können, um die vollständige Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer in ihrer Gesamtheit und damit den Schutz der finanziellen Interessen der Union zu gewährleisten, die anwendbaren Sanktionen frei wählen. Dabei kann es sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder um eine Kombination aus beiden handeln. Strafrechtliche Sanktionen können allerdings unerlässlich sein, um bestimmte Fälle von schwerem Mehrwertsteuerbetrug wirksam und abschreckend zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 33 und 34).

21

Die von den nationalen Steuerbehörden verhängten Verwaltungssanktionen und wegen Mehrwertsteuerstraftaten eingeleiteten Strafverfahren wie die im Ausgangsverfahren fraglichen sollen die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherstellen und Betrug bekämpfen. Daher sind sie als Durchführung der Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie von Art. 325 AEUV und somit als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 27, sowie vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 16). Sie müssen daher das in Art. 50 der Charta verbürgte Grundrecht wahren.

22

Zudem sind die durch die EMRK anerkannten Grundrechte zwar, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts, und nach Art. 52 Abs. 3 der Charta haben die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Jedoch stellt die EMRK, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 44, sowie vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Nach den Erläuterungen zu Art. 52 der Charta soll mit dessen Abs. 3 die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, „ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird“ (Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47, und vom 14. September 2017, K., C‑18/16, EU:C:2017:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Daher ist die Prüfung der Vorlagefrage anhand der durch die Charta verbürgten Grundrechte und insbesondere ihres Art. 50 vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25

Art. 50 der Charta lautet: „Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“ Der Grundsatz ne bis in idem verbietet somit eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 34).

Zur strafrechtlichen Natur der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen

26

Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen wie den im Ausgangsverfahren fraglichen sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37, und vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 35).

27

Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren fraglichen straf- und verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen im Sinne von Art. 50 der Charta strafrechtlicher Natur sind, doch kann der Gerichtshof in seiner Vorabentscheidung Klarstellungen vornehmen, um diesem Gericht eine Richtschnur für seine Auslegung zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2014, Mahdi, C‑146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28

Im vorliegenden Fall ist zunächst festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Verfolgung in einem Strafverfahren und die sich daraus möglicherweise ergebenden Sanktionen anhand der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien zweifelsfrei als strafrechtlich einzustufen sind. Hingegen stellt sich die Frage, ob das in Bezug auf Herrn Menci durchgeführte Verwaltungsverfahren und die bestandskräftige Verwaltungssanktion, die ihm am Ende dieses Verfahrens auferlegt wurde, strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.

29

Hinsichtlich des ersten in Rn. 26 des vorliegenden Urteils angeführten Kriteriums ergibt sich insoweit aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass das Verfahren, das zur Verhängung der Verwaltungssanktion führte, im nationalen Recht als Verwaltungsverfahren eingestuft wird.

30

Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 26 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind.

31

In Bezug auf das zweite Kriterium, das sich auf die Art der Zuwiderhandlung bezieht, ist zu prüfen, ob die fragliche Sanktion insbesondere eine repressive Zielsetzung verfolgt (vgl. Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda, C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 39). Dem ist zu entnehmen, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist und dass der bloße Umstand, dass sie auch eine präventive Zielsetzung verfolgt, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion nehmen kann. Wie der Generalanwalt in Nr. 113 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, liegt es nämlich in der Natur strafrechtlicher Sanktionen, dass sie sowohl auf die Repression als auch auf die Prävention rechtswidriger Verhaltensweisen abzielen. Dagegen ist eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, nicht strafrechtlicher Natur.

32

Im vorliegenden Fall sieht Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 für die Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer eine Verwaltungssanktion vor, die zu den vom Steuerpflichtigen zu zahlenden Mehrwertsteuerbeträgen hinzukommt. Zwar wird diese Sanktion, wie die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen ausführt, herabgesetzt, wenn die Steuer innerhalb einer bestimmten Frist nach der Nichtabführung tatsächlich gezahlt wird. Gleichwohl wird mit der Sanktion die verspätete Abführung der geschuldeten Mehrwertsteuer geahndet. Somit ist davon auszugehen, was im Übrigen auch der Einschätzung des vorlegenden Gerichts entspricht, dass die Verwaltungssanktion eine repressive Zielsetzung verfolgt, was für eine Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta typisch ist.

33

Zum dritten Kriterium ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der im Ausgangsverfahren fraglichen Verwaltungssanktion gemäß Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97 um eine Geldbuße in Höhe von 30 % der geschuldeten Mehrwertsteuer handelt, die neben dieser Steuer zu zahlen ist. Diese Sanktion weist – wie zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens unstreitig ist – einen hohen Schweregrad auf, der geeignet ist, die Einschätzung zu stützen, dass die Sanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta ist. Dies zu prüfen ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts.

Zum Vorliegen derselben Straftat

34

Schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta geht hervor, dass er es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 18). Wie das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung ausführt, richten sich die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur, um die es im Ausgangsverfahren geht, gegen dieselbe Person, nämlich gegen Herrn Menci.

35

Für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben (vgl. entsprechend Urteile vom 18. Juli 2007, Kraaijenbrink, C‑367/05, EU:C:2007:444, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 16. November 2010, Mantello, C‑261/09, EU:C:2010:683, Rn. 39 und 40). Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen.

36

Ferner sind die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein kann.

37

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den Angaben in der Vorlageentscheidung, dass Herr Menci mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur belegt wurde, weil er es unterlassen hatte, die sich aus der Jahressteuererklärung für das Steuerjahr 2011 ergebende Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abzuführen, und dass die im Ausgangsverfahren fragliche Verfolgung in einem Strafverfahren dieselbe Unterlassung betrifft.

38

Die italienische Regierung führt zwar in ihren schriftlichen Erklärungen aus, dass die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion am Ende einer Verfolgung in einem Strafverfahren wie der im Ausgangsverfahren fraglichen – im Gegensatz zu der in Rede stehenden Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur – ein subjektives Element verlange. Jedoch kann der Umstand, dass die Verhängung dieser strafrechtlichen Sanktion von einem im Vergleich zur Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur zusätzlichen Tatbestandsmerkmal abhängt, für sich allein die Identität der betreffenden materiellen Tat nicht in Frage stellen. Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheinen daher die Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur und die Verfolgung in einem Strafverfahren, um die es im Ausgangsverfahren geht, dieselbe Straftat zu betreffen.

39

Somit ist davon auszugehen, dass es nach der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung zulässig ist, eine Person wie Herrn Menci wegen einer Straftat der Nichtabführung der nach der Steuererklärung für ein Steuerjahr geschuldeten Mehrwertsteuer in einem Strafverfahren zu verfolgen, nachdem gegen diese Person wegen derselben Tat eine bestandskräftige Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta verhängt wurde. Eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen stellt aber eine Einschränkung des in diesem Artikel verbürgten Grundrechts dar.

Zur Rechtfertigung der Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Rechts

40

Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 55 und 56), entschieden, dass eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verbürgten Grundsatzes ne bis in idem nach Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden kann.

41

Gemäß Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

42

Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass die Möglichkeit, strafrechtliche Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur zu kumulieren, gesetzlich vorgesehen ist.

43

Zudem wahrt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta. Nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte lässt sie eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nämlich nur unter abschließend festgelegten Voraussetzungen zu und stellt damit sicher, dass das in Art. 50 verbürgte Recht als solches nicht in Frage gestellt wird.

44

Hinsichtlich der Frage, ob die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem, die sich aus einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ergibt, einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, ist der dem Gerichtshof vorliegenden Akte zu entnehmen, dass mit dieser Regelung die Erhebung der gesamten geschuldeten Mehrwertsteuer gewährleistet werden soll. In Anbetracht der Bedeutung, die die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten zur Erreichung dieses Ziels beimisst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Dezember 2017, M.A.S. und M.B., C‑42/17, EU:C:2017:936, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung), kann eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur gerechtfertigt sein, wenn zur Erreichung eines solchen Ziels mit diesen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden, die gegebenenfalls verschiedene Aspekte desselben rechtswidrigen Verhaltens betreffen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

45

Insoweit erscheint es bei Zuwiderhandlungen im Bereich der Mehrwertsteuer legitim, dass ein Mitgliedstaat zum einen mit der Verhängung von gegebenenfalls pauschal festgesetzten Verwaltungssanktionen von jedem vorsätzlichen oder nicht vorsätzlichen Verstoß gegen die Regeln über die Erklärung und Erhebung der Mehrwertsteuer abschrecken und ihn ahnden will, und zum anderen von schweren Verstößen gegen diese Regeln, die für die Gesellschaft besonders schädlich sind und die Verhängung schwererer strafrechtlicher Sanktionen rechtfertigen, abschrecken und sie ahnden will.

46

Zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass nach diesem Grundsatz die in einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen vorgesehene Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht die Grenzen dessen überschreiten darf, was zur Erreichung der mit dieser Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist; stehen mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl, ist die am wenigsten belastende zu wählen, und die durch sie bedingten Nachteile müssen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, Müller Fleisch, C‑562/08, EU:C:2010:93, Rn. 43, vom 9. März 2010, ERG u. a., C‑379/08 und C‑380/08, EU:C:2010:127, Rn. 86, sowie vom 19. Oktober 2016, EL-EM-2001, C‑501/14, EU:C:2016:777, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach der in Rn. 20 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung die anwendbaren Sanktionen frei wählen können, um die vollständige Erhebung der Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zu gewährleisten. In Ermangelung einer Harmonisierung des Unionsrechts auf diesem Gebiet dürfen die Mitgliedstaaten daher sowohl eine Regelung vorsehen, in der Mehrwertsteuerstraftaten nur einmal Gegenstand von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sein können, als auch eine Regelung, die eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zulässt. Der bloße Umstand, dass sich der betreffende Mitgliedstaat für die Möglichkeit einer solchen Kumulierung entschieden hat, kann mithin die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht in Zweifel ziehen, da dem Mitgliedstaat sonst seine Wahlfreiheit genommen würde.

48

Dies vorausgeschickt, ist festzustellen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine solche Kumulierungsmöglichkeit vorsieht, zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels geeignet ist.

49

Zur zwingenden Erforderlichkeit einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sie klare und präzise Regeln aufstellen muss, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen in Frage kommt.

50

Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, sieht im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung, insbesondere Art. 13 Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 471/97, vor, unter welchen Voraussetzungen die Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer innerhalb der gesetzlichen Fristen mit einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur geahndet werden kann. Nach Art. 13 Abs. 1 kann unter den in Art. 10bis Abs. 1 und Art. 10ter Abs. 1 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 genannten Voraussetzungen auch eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zwei Jahren wegen einer solchen Unterlassung verhängt werden, wenn diese eine Jahressteuererklärung über einen Mehrwertsteuerbetrag von mehr als 50000 Euro betrifft.

51

Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist somit davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung klar und präzise vorsieht, unter welchen Umständen bei Nichtabführung der geschuldeten Mehrwertsteuer eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur in Frage kommt.

52

Sodann muss eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche sicherstellen, dass die Belastungen, die sich aus einer solchen Kumulierung für die Betroffenen ergeben, auf das zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend Erforderliche beschränkt bleiben.

53

Was zum einen die Kumulierung von Verfahren strafrechtlicher Natur betrifft, die, wie aus der Akte hervorgeht, unabhängig voneinander durchgeführt werden, folgt aus der in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderung, dass es Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung geben muss, um die mit einer solchen Kumulierung verbundene zusätzliche Belastung für die Betroffenen auf das zwingend Erforderliche zu beschränken.

54

Im vorliegenden Fall lässt die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung zwar selbst nach der Verhängung einer Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur, mit der das Verwaltungsverfahren endgültig beendet wird, noch die Einleitung einer Verfolgung in einem Strafverfahren zu. Jedoch geht aus den in Rn. 50 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Angaben in der Akte hervor, dass die Verfolgung in einem Strafverfahren nach dieser Regelung offenbar auf Straftaten beschränkt ist, die eine gewisse Schwere aufweisen, nämlich auf solche, die einen nicht abgeführten Mehrwertsteuerbetrag von über 50000 Euro betreffen. Für sie hat der nationale Gesetzgeber eine Freiheitsstrafe vorgesehen, deren Schwere die Notwendigkeit zu rechtfertigen scheint, zur Verhängung einer solchen Strafe ein vom Verwaltungsverfahren strafrechtlicher Natur unabhängiges Strafverfahren durchzuführen.

55

Zum anderen muss die Kumulierung von Sanktionen strafrechtlicher Natur von Regeln begleitet sein, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen der Schwere der betreffenden Straftat entspricht, wobei sich eine solche Anforderung nicht nur aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergibt, sondern auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen. Diese Regeln müssen die zuständigen Behörden dazu verpflichten, im Fall der Verhängung einer zweiten Sanktion dafür zu sorgen, dass die Schärfe aller verhängten Sanktionen nicht die Schwere der festgestellten Straftat überschreitet.

56

Im vorliegenden Fall scheint aus Art. 21 des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 74/2000 hervorzugehen, dass er nicht nur die Aussetzung der Vollstreckung der Verwaltungssanktionen strafrechtlicher Natur während des laufenden Strafverfahrens vorsieht, sondern diese Vollstreckung auch nach der strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen endgültig verhindert. Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung ist zudem die freiwillige Zahlung der Steuerschuld, sofern sie sich auch auf die gegen den Betroffenen verhängte Verwaltungssanktion erstreckt, ein spezieller mildernder Umstand, der im Strafverfahren zu berücksichtigen ist. Somit ist davon auszugehen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung Voraussetzungen enthält, mit denen sichergestellt werden kann, dass die zuständigen Behörden die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat zwingend Erforderliche beschränken.

57

Daher ist vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht davon auszugehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche die Gewähr dafür bietet, dass die nach ihr zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des in Rn. 44 des vorliegenden Urteils genannten Ziels zwingend erforderlich ist.

58

Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung, die die in den Rn. 44, 49, 53 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Anforderungen erfüllt, zwar grundsätzlich geeignet erscheint, den notwendigen Ausgleich zwischen den verschiedenen in Rede stehenden Interessen sicherzustellen, doch muss sie von den nationalen Behörden und Gerichten auch in einer Weise angewandt werden, dass die Belastung, die sich im vorliegenden Fall für den Betroffenen aus der Kumulierung der Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen ergibt, nicht unverhältnismäßig im Hinblick auf die Schwere der begangenen Straftat ist.

59

Letztlich ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Verhältnismäßigkeit der konkreten Anwendung dieser Regelung im Rahmen des Ausgangsverfahrens zu beurteilen und dabei die Schwere der betreffenden Steuerstraftat gegen die Belastung abzuwägen, die sich für den Betroffenen aus der Kumulierung der im Ausgangsverfahren fraglichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt.

60

Schließlich haben nach Art. 52 Abs. 3 der Charta die in ihr enthaltenen Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird. Daher ist Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bei der Auslegung von Art. 50 der Charta zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Februar 2016, N., C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 77, und vom 5. April 2017, Orsi und Baldetti, C‑217/15 und C‑350/15, EU:C:2017:264, Rn. 24).

61

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat insoweit entschieden, dass eine Kumulierung von steuer- und strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, mit denen derselbe Verstoß gegen Steuergesetze geahndet wird, den in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK verankerten Grundsatz ne bis in idem nicht verletzt, wenn es zwischen dem Steuerverfahren und dem Strafverfahren einen hinreichend engen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang gibt (EGMR, 15. November 2016, A und B gegen Norwegen, CE:ECHR:2016:1115JUD002413011, § 132).

62

Wie sich aus den Rn. 44, 49, 53, 55 und 58 des vorliegenden Urteils ergibt, gewährleisten somit die Anforderungen, die Art. 50 der Charta in Verbindung mit ihrem Art. 52 Abs. 1 an eine etwaige Kumulierung von strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen mit verwaltungsrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur stellt, ein Schutzniveau für den Grundsatz ne bis in idem, das das in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt.

63

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung

eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,

Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und

Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.

64

Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.

Kosten

65

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der eine Person, die die geschuldete Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen abgeführt hat, in einem Strafverfahren verfolgt werden kann, obwohl sie wegen derselben Tat bereits mit einer bestandskräftigen Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 belegt wurde, sofern diese Regelung

eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung hat, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann, nämlich die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten, wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen,

Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung enthält, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird, und

Regeln vorsieht, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.

 

2.

Es ist Sache des nationalen Gerichts, sich unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens zu vergewissern, dass die Belastung, die sich für den Betroffenen aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung und aus der nach ihr zulässigen Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen konkret ergibt, nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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