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Document 62015CC0640

Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 27. Oktober 2016.
Tomas Vilkas.
Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (Irland).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 23 – Frist für die Übergabe der gesuchten Person – Möglichkeit, mehrmals ein neues Übergabedatum zu vereinbaren – Widerstand der gesuchten Person gegen ihre Übergabe – Höhere Gewalt.
Rechtssache C-640/15.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:826

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 27. Oktober 2016 ( 1 )

Rechtssache C‑640/15

Minister for Justice and Equality

gegen

Tomas Vilkas

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [Berufungsgericht, Irland])

„Europäischer Haftbefehl — Fristen für die Übergabe der gesuchten Person — Unmöglichkeit der Übergabe aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen — Höhere Gewalt — Persönliches Verhalten — Möglichkeit, mehr als einmal ein neues Übergabedatum zu vereinbaren — Voraussetzungen — Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Neue, erneut eintretende oder fortbestehende Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“

1. 

In Midnight Run, einem 1988 herausgekommenen Film, spielt Robert De Niro einen Kopfgeldjäger, der den Auftrag hat, einen ehemaligen Mafia-Rechnungsprüfer, der sich auf Kaution abgesetzt hat, zurück nach Los Angeles zu bringen. Nachdem er ihn in New York verhaftet hat, begeben sie sich an Bord eines gewerblichen Fluges. Vor dem Start wird der Rechnungsprüfer jedoch unruhig und gewalttätig. Der Pilot fordert sie auf, das Flugzeug zu verlassen. Sie sind gezwungen, stattdessen eine lange Reise durch das ganze Land nach Los Angeles anzutreten, und das Filmposter verspricht ein wenig überraschend, dass „dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft sein könnte“ ( 2 ).

2. 

Für Herrn Vilkas, den Rechtsmittelgegner in der vorliegenden Rechtssache, endete die Film-Analogie, so sie überhaupt gezogen werden kann, offenbar in der ersten Phase: dem Ausschluss von einem gewerblichen Flug wegen Gewalttätigkeit während des Übergabeverfahrens von einem Mitgliedstaat an einen anderen. Allerdings scheint diese konkrete Szene zweimal gedreht worden zu sein.

3. 

Gegen den Rechtsmittelführer wurden von litauischen Behörden zwei Europäische Haftbefehle erlassen. Der Übergabe wurde seitens der ausstellenden Justizbehörde in Irland zugestimmt. Sie sollte mittels eines gewerblichen Fluges stattfinden. Zu dem vereinbarten Zeitpunkt wurde der Rechtsmittelgegner jedoch unruhig, aggressiv und weigerte sich, sich an Bord des Flugzeugs zu begeben. Der Pilot weigerte sich, ihn an Bord zu lassen. Zwei Wochen später schlug ein zweiter Versuch einer Übergabe aufgrund einer sehr ähnlichen Kette von Ereignissen fehl. Die Übergabe wurde erneut durch aggressives Verhalten von Herrn Vilkas unmöglich.

4. 

Vor diesem Hintergrund ersucht der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), das vorlegende Gericht, um Hinweise zur Auslegung von Art. 23 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 3 ). Das vorlegende Gericht fragt den Gerichtshof, ob es nach Art. 23 des Rahmenbeschlusses zulässig ist, mehr als einmal ein neues Datum für die Übergabe der gesuchten Person zu vereinbaren, und, wenn ja, unter welchen Voraussetzungen. Der Gerichtshof wird somit um eine Prüfung der Frage ersucht, ob Art. 23 Abs. 3 mehrmals angewendet werden kann und welche Situationen nach dieser Bestimmung als „Umstände, die sich dem Einfluss“ der Mitgliedstaaten „entziehen“, anzusehen sind.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

5.

Art. 23 („Frist für die Übergabe der Person“) des Rahmenbeschlusses lautet wie folgt:

„(1)   Die Übergabe der gesuchten Person erfolgt so bald wie möglich zu einem zwischen den betreffenden Behörden vereinbarten Zeitpunkt.

(2)   Die Übergabe erfolgt spätestens zehn Tage nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls.

(3)   Ist die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Absatz 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich, setzen sich die vollstreckende und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich miteinander in Verbindung und vereinbaren ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(4)   Die Übergabe kann aus schwerwiegenden humanitären Gründen, z. B. wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung offensichtlich eine Gefährdung für Leib oder Leben der gesuchten Person darstellt, ausnahmsweise ausgesetzt werden. Die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls erfolgt, sobald diese Gründe nicht mehr gegeben sind. Die vollstreckende Justizbehörde setzt die ausstellende Justizbehörde unverzüglich davon in Kenntnis und vereinbart ein neues Übergabedatum. In diesem Fall erfolgt die Übergabe binnen zehn Tagen nach dem vereinbarten neuen Termin.

(5)   Befindet sich die betreffende Person nach Ablauf der in den Absätzen 2 bis 4 genannten Fristen noch immer in Haft, wird sie freigelassen.“

B – Irisches Recht

6.

Die Fristen für die Übergabe sind in Section 16(3) bis (5A) des European Arrest Warrant Act 2003 (Gesetz über den Europäischen Haftbefehl von 2003) geregelt, der dem ersuchenden Gericht zufolge Art. 23 des Rahmenbeschlusses umsetzt. Die relevanten Bestimmungen lauten wie folgt:

„Section 16

(3)   Ein Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) wird vorbehaltlich Section 18 mit dem Ablauf von 15 Tagen ab dem Datum des Beschlusses wirksam, oder er wird zu einem früheren Datum wirksam, das der High Court auf Antrag der zentralen Behörde des Staates mit Zustimmung der Person, die von dem Beschluss betroffen ist, bestimmt.

(3A)   Vorbehaltlich der Subsections (5) und (6) wird eine Person, die von einem wirksamen vorläufigen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2) betroffen ist, dem betreffenden Ausstellungstaat spätestens zehn Tage nach dem Wirksamwerden des Beschlusses gemäß Subsection (3) übergeben.

(4)   Fasst der High Court einen Beschluss gemäß Subsection (1) oder (2), muss er, sofern nicht eine Verschiebung der Übergabe gemäß Section 18 angeordnet wird,

(b)

anordnen, dass die Person bis zur Vollziehung des Beschlusses für einen Zeitraum, der 25 Tage nicht überschreiten darf, in Haft … genommen wird, und

(c)

anordnen, dass die Person dem High Court erneut vorgeführt wird,

(i)

wenn er oder sie nicht innerhalb der Übergabefrist gemäß Subsection (3A) übergeben worden ist, möglichst bald nach deren Ablauf oder,

(ii)

wenn die Person nach Einschätzung der zentralen Behörde des Staates aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss des Staates oder des jeweiligen Ausstellungsstaates entziehen, nicht innerhalb der in Ziff. (i) genannten Übergabefrist übergeben werden wird, vor deren Ablauf.

(5)   Wird eine Person dem High Court gemäß Subsection (4)(c) vorgeführt, muss der High Court,

(a)

sofern zu seiner Überzeugung feststeht, dass die Person aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss des Staates oder des betreffenden Ausstellungsstaates entziehen, nicht innerhalb der Übergabefrist gemäß Subsection (3A) übergeben worden ist oder gegebenenfalls nicht rechtzeitig übergeben werden wird,

(i)

mit Zustimmung der ausstellenden Justizbehörde ein neues Übergabedatum für die Person festlegen und

(ii)

anordnen, dass die Person bis zur Übergabe für einen Zeitraum, der zehn Tage ab dem gemäß Ziff. (i) festgelegten Datum nicht überschreiten darf, in Haft … genommen wird,

und

(b)

in allen anderen Fällen anordnen, dass die Person freigelassen wird.

(5A)   Eine Person, die von einem wirksamen vorläufigen Beschluss gemäß Subsection (5)(a) betroffen ist,

(a)

wird dem jeweiligen Ausstellungsstaat spätestens zehn Tage nach dem Wirksamwerden des Beschlusses übergeben oder

(b)

wird freigelassen, wenn die Übergabe nach Buchst. (a) nicht erfolgt ist.

…“

II – Sachverhalt, Vorabentscheidungsfragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

7.

Am 9. Juli 2015 erließ der High Court (Hohes Gericht, Irland) als vollstreckende Justizbehörde zwei Beschlüsse über die Übergabe von Herrn Vilkas (des Rechtsmittelführers) an die Republik Litauen. Mit diesen Beschlüssen wurden zwei Europäische Haftbefehle vollstreckt, die von einem litauischen Gericht (der ausstellenden Justizbehörde) ausgestellt worden waren. Die Beschlüsse wurden nach dem nationalen Verfahrensrecht am 24. Juli 2015 wirksam.

8.

Nach Section 16 (3A) des European Arrest Warrant Act 2003 musste die zentrale Behörde Irlands (der Minister for Justice and Equality [Minister für Justiz und Gleichstellung], der Rechtsmittelführer der vorliegenden Rechtssache; im Folgenden: Rechtsmittelführer) den Rechtsmittelgegner dem Ausstellungsstaat „spätestens zehn Tage“ nach dem Wirksamwerden der Beschlüsse übergeben. In der vorliegenden Rechtssache bedeutete dies spätestens am 3. August 2015. Es wurde mit den litauischen Behörden vereinbart, die Übergabe am 31. Juli 2015 mittels eines gewerblichen Fluges durchzuführen. Zu diesem Zeitpunkt weigerte sich der Rechtsmittelgegner jedoch, sich an Bord des Flugzeugs zu begeben. Er wurde derart unruhig und aggressiv, dass der Pilot des Fluges sich weigerte, ihn an Bord zu lassen.

9.

Es wurde eine neue Vereinbarung für die Übergabe des Rechtsmittelgegners getroffen. Der High Court (Hohes Gericht) bestimmte den Termin auf den 6. August 2015 und nahm ihn in Haft. Am 13. August 2015 wurde ein zweiter Übergabeversuch unternommen, wiederum mittels eines gewerblichen Fluges. Erneut machte das Verhalten des Rechtsmittelgegners seine Übergabe unmöglich.

10.

Der Rechtsmittelführer nahm sofort Kontakt zu den litauischen Behörden auf, um einen neuen Termin für die Übergabe zu vereinbaren. Dieses Mal war angesichts des Verhaltens des Rechtsmittelgegners in der Vergangenheit vorgesehen, ihn auf dem Seeweg auf das europäische Festland und sodann auf dem Landweg nach Litauen zu transportieren. Die Vorbereitungen für diese Art von Transport waren komplizierter, so dass das neue Übergabedatum – vorbehaltlich der Zustimmung des High Court (Hohes Gericht) – auf den 15. September 2015 terminiert war.

11.

Am 14. August 2015 lehnte der High Court (Hohes Gericht) auf der Grundlage seiner Auslegung von Section l6(3) bis (5A) des European Arrest Warrant Act 2003 seine Zuständigkeit für einen Antrag auf Festlegung eines neuen Übergabedatums ab. Der Antrag wurde abgewiesen, und der Rechtsmittelgegner wurde aus der Haft entlassen. Gegen diese Entscheidung hat die zentrale Behörde Irlands Rechtsmittel beim vorlegenden Gericht, dem Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland), eingelegt. Zur Klärung von Section 16(3) bis (5A) des European Arrest Warrant Act 2003 sieht das vorlegende Gericht die Unterstützung des Gerichtshofs als notwendig an, da diese Bestimmungen Art. 23 des Rahmenbeschlusses umsetzen.

12.

Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1.

Sieht Art. 23 des Rahmenbeschlusses es vor und/oder lässt es zu, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird?

2.

Bejahendenfalls, trifft dies in einem oder in allen der nachfolgenden Fälle zu: Wenn die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der in Abs. 2 genannten Frist bereits aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich war, deshalb ein neues Übergabedatum vereinbart worden ist und festgestellt wird, dass die betreffenden Umstände

i)

fortdauern oder,

ii)

nachdem sie weggefallen waren, erneut eingetreten sind oder,

iii)

nachdem sie weggefallen waren, andere derartige Umstände eingetreten sind, aufgrund deren die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der im Hinblick auf das neue Übergabedatum vorgesehenen Frist unmöglich ist oder wahrscheinlich unmöglich sein wird?

13.

Mit Beschluss vom 24. November 2015 hat das vorlegende Gericht beim Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache die Anwendung des beschleunigten Verfahrens nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs beantragt. Dieser Antrag ist mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 23. Dezember 2015 zurückgewiesen worden ( 4 ).

14.

Schriftliche Erklärungen sind von Herrn Vilkas, der irischen, der französischen, der litauischen, der österreichischen und der polnischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission eingereicht worden. Herr Vilkas, die irische und die litauische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 20. Juli 2016 mündlich vorgetragen.

III – Würdigung

15.

Mit seiner ersten Frage möchte der Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) vom Gerichtshof wissen, ob Art. 23 des Rahmenbeschlusses zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird. Die zweite Frage konzentriert sich auf die Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses und ersucht um Auslegung der „Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“.

A – Erste Frage: mehr als einmalige Vereinbarung eines neuen Übergabedatums

16.

Das vorlegende Gericht stellt die erste Frage allgemein unter Bezug auf Art. 23 des Rahmenbeschlusses. Zwei Absätze dieser Bestimmung – Art. 23 Abs. 3 und 4 des Rahmenbeschlusses – lassen unter besonderen Umständen die Vereinbarung eines neuen Übergabedatums zu, nachdem die Frist von zehn Tagen nach der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 23 Abs. 2 abgelaufen ist. Art. 23 Abs. 3 sieht die Möglichkeit vor, ein neues Übergabedatum zu vereinbaren, wenn die Übergabe innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 genannten Frist aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, unmöglich war. Diese Bestimmung ist in der vorliegenden Rechtssache einschlägig.

17.

Im ersten Teil der vorliegenden Schlussanträge werde ich Art. 23 Abs. 3 anhand seines Wortlauts, seiner Systematik und seines Ziels prüfen. Da die Auslegung dieser Bestimmung unmittelbare Auswirkungen darauf hat, ob die gesuchte Person in Haft behalten werden kann, werde ich anschließend die Vereinbarkeit des vorgeschlagenen Ansatzes mit dem in Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Grundrecht auf Freiheit prüfen.

1. Grammatische Auslegung von Art. 23 Abs. 3

18.

Nach Ansicht des Rechtsmittelgegners lässt der eindeutige Wortlaut von Art. 23 nicht zu, mehr als einmal ein neues Übergabedatum festzulegen. Die Kommission und alle Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, sind anderer Ansicht.

19.

Erstens ist hervorzuheben, dass der Wortlaut von Art. 23 des Rahmenbeschlusses die Zahl der Übergabeversuche in keiner Weise begrenzt. Der Wortlaut dieser Bestimmung und auch seine Überschrift beziehen sich nur auf die Frist für die tatsächliche Übergabe.

20.

Geht man allein vom Wortlaut der Bestimmung aus, ist die logische Schlussfolgerung somit, dass Art. 23 nichts enthält, was mehr als einem Übergabeversuch innerhalb der Höchstfristen nach den Abs. 2 bis 4 entgegenstände, sofern dies praktisch möglich ist.

21.

Zweitens schließt der Verweis auf die „in Absatz 2 genannte Frist“ in Art. 23 Abs. 3 entgegen dem Vortrag des Rechtsmittelgegners die Möglichkeit nicht eindeutig aus, mehr als einmal ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

22.

Der Rechtsmittelführer ist der Ansicht, die Formulierung „die in Absatz 2 genannte Frist“ beziehe sich auf den festen Zeitraum ab dem Zeitpunkt der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Folglich erlaube Art. 23 Abs. 3 nur die Festlegung eines einzigen neuen Übergabedatums.

23.

Diese Ansicht teile ich nicht. Wie von der Kommission und der polnischen Regierung vorgetragen, ist der Verweis auf „die in Absatz 2 genannte Frist“ in Art. 23 Abs. 3 alles andere als eindeutig und kann in unterschiedlicher Weise verstanden werden.

24.

Nach Ansicht der Kommission ist die Formulierung „die in Absatz 2 genannte Frist“ als Verweis auf die Dauer dieser Frist auszulegen: zehn Tage. Diesem Ansatz zufolge, der von der irischen Regierung unterstützt wird, würde nach dem erstmaligen Eintreten der „Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“, ab dem vereinbarten neuen Übergabedatum eine neue Frist von zehn Tagen greifen. Träten innerhalb dieser Frist von zehn Tagen neue „Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“, ein, wäre es möglich, ein neues Übergabedatum zu vereinbaren.

25.

Eine weitere Auslegung könnte in Betracht kommen: Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses lässt eine Ausnahme zu, wenn die Übergabe innerhalb der in Abs. 2 genannten Frist nicht durchgeführt werden kann. Demnach könnte bei jedem neuen Übergabedatum, das sich aus der wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 ergibt, auch die Voraussetzung erfüllt sein, dass die Übergabe innerhalb der ursprünglichen „in Absatz 2 genannten“ Frist unmöglich war.

26.

Meines Erachtens ist der Verweis auf die „in Absatz 2 genannte Frist“ in Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses im Einklang mit der allgemeinen Ausrichtung des Art. 23 zu verstehen. Wie bereits bemerkt, regelt diese Bestimmung die Fristen für die Übergabeversuche und nicht deren Anzahl.

27.

Jedenfalls zeigen die vom Rechtsmittelgegner und von der Kommission vorgetragenen unterschiedlichen Auslegungsvarianten, dass der Wortlaut des Art. 23 Abs. 3 zwar sehr nahelegt, dass der Verweis auf die „in Absatz 2 genannte Frist“ sich auf die Fristen für die Versuche und nicht auf ihre Anzahl bezieht, der Wortlaut dieser Bestimmung jedoch einen abschließenden Schluss nicht zulässt. Zu prüfen sind daher der Kontext und Zweck dieser Bestimmung.

2. Systematische und teleologische Auslegung

28.

Art. 23 Abs. 3 ist innerhalb des Art. 23 eine Ausnahme. Sein Zweck ist, diejenigen begrenzten Sonderfälle zu berücksichtigen, in denen eine Übergabe innerhalb der „normalen“ Frist nach Art. 23 Abs. 2 aufgrund von „Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“, unmöglich war. Dies ermöglicht eine Abweichung von der ansonsten knappen Frist unter sehr begrenzten Umständen, die, wie bei allen gesetzlichen Ausnahmeregelungen, eng auszulegen sind.

29.

Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses fungiert somit als eine Absicherung, die der Komplexität von Übergabeverfahren Rechnung trägt, die naturgemäß komplexe internationale Reisevorbereitungen mit sich bringen. Ähnliche oder entsprechende Ausnahmen finden sich traditionell in Auslieferungsübereinkommen ( 5 ). Art. 23 Abs. 3 soll daher verhindern, dass ein Europäischer Haftbefehl, dessen Vollstreckung die vollstreckende Justizbehörde bereits zugestimmt hat, durch ungewöhnliche oder zufällige, außerhalb des regulären Verfahrensablaufs stehende Ereignisse beeinträchtigt wird. Art. 23 Abs. 3 dient letztlich dazu, eine „zufällige“ Straflosigkeit zu verhindern ( 6 ).

30.

Daher bin ich in Übereinstimmung mit der litauischen Regierung der Ansicht, dass der Ausnahmecharakter der Umstände, unter denen Art. 23 Abs. 3 anwendbar wird, selbst ein Argument gegen eine vorbestehende Begrenzung der Zahl zulässiger Vereinbarungen eines neuen Übergabedatums ist. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es zu recht absurden Ergebnissen kommt. Um ein extremes Beispiel zu geben, könnte nach einem Versuch einer Übergabe, der wegen eines Vulkanausbruchs und des daran anschließenden Flugverbots fehlgeschlagen ist, die Vereinbarung eines zweiten Versuchs durch ein Erdbeben vereitelt werden.

31.

Ferner ist, um weiterhin auf der systematischen Ebene zu bleiben, zu betonen, dass Art. 23 ganz am Ende eines recht komplexen Übergabeverfahrens steht, das in Kapitel 2 des Rahmenbeschlusses geregelt ist. Seine Anwendung kommt erst in Betracht, nachdem alle anderen notwendigen Schritte, insbesondere die Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls nach Art. 15, seitens der vollstreckenden Justizbehörde bereits erfolgt sind. Im Fall eines wiederholten Eintretens von „Umständen, die sich dem Einfluss … entziehen“, würde eine Auslegung, die mehr als einmalige neue Übergabetermine nach Art. 23 Abs. 3 ausschließt, dem Erfolg des Gesamtverfahrens im Weg stehen.

32.

Die Kommission und die Mitgliedstaaten, die Erklärungen eingereicht haben, haben sich ebenfalls stark auf die allgemeinen Ziele des Rahmenbeschlusses gestützt. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs hebt hervor, dass dieses Instrument durch die Einführung eines neuen vereinfachten und wirksameren Systems der Erleichterung und Beschleunigung der justiziellen Zusammenarbeit dient. Dies geschieht, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten allgemeineren Ziels beizutragen, „zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, [was] ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus[setzt]“ ( 7 ). Das Ziel, die justizielle Zusammenarbeit zu beschleunigen, kommt insbesondere in der Behandlung der Fristen für den Erlass von Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl ( 8 ) sowie in den Fristen für die tatsächliche Übergabe zum Ausdruck.

33.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist, wenn verschiedene Auslegungen möglich sind, derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der betreffenden Bestimmung und des betreffenden Rechtsinstruments zu wahren geeignet ist ( 9 ). Eine Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, die die Vereinbarung eines neuen Übergabedatums mehr als einmal zulässt, wenn die Voraussetzungen dieser Bestimmung erfüllt sind, trägt zweifellos zur Verwirklichung der Ziele des Rahmenbeschlusses bei, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen.

3. Zwischenergebnis

34.

Aus diesen Gründen sollte Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses meines Erachtens dahin ausgelegt werden, dass er zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird.

35.

Diese Auslegung hat eindeutig Auswirkungen auf die Möglichkeit, die gesuchte Person in Haft zu behalten. Die fortgesetzte Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses verhindert, dass Art. 23 Abs. 5 zur Anwendung kommt, der für den Fall, dass sich die gesuchte Person in Haft befindet, zu ihrer Freilassung verpflichtet. Ferner stellt die Verpflichtung zur Freilassung der gesuchten Person nach Art. 23 Abs. 5, wie von der Kommission in der mündlichen Verhandlung zu Recht vorgetragen und entgegen der Ansicht der französischen und der litauischen Regierung, im Gegensatz zu einer „vorläufigen Haftentlassung“ nach Art. 12 des Rahmenbeschlusses eine echte und unbedingte Freilassung dar. Folglich kann die sich aus Art. 12 des Rahmenbeschlusses ergebende Verpflichtung, die erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person zu treffen, allein auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls nicht fortbestehen, sobald Art. 23 Abs. 5 greift.

36.

Auf einer allgemeinen Ebene stimme ich mit dem Rechtsmittelgegner darin überein, dass die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses unter Achtung des Rechts auf Freiheit in Art. 6 der Charta auszulegen sind ( 10 ). Wie in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses bestimmt und vom Gerichtshof bestätigt, lässt dieses Instrument die Pflicht unberührt, die in der Charta verankerten Grundrechte zu achten ( 11 ).

37.

Ich stimme jedoch mit der Ansicht der Regierungen Irlands und des Vereinigten Königreichs darin überein, dass eine Auslegung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses dahin, dass er zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird, an sich noch nicht zu einem Ergebnis führt, das gegen Art. 6 der Charta verstößt. Der Grund hierfür ist einfach: Art. 23 Abs. 3 enthält weder eine Anordnung noch eine Regelung einer Freiheitsentziehung ( 12 ). Der Rahmenbeschluss sieht bewusst davon ab, in die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Regelung der Übergabehaft einzugreifen. Die Übergabe hängt nicht davon ab, dass die gesuchte Person in Haft ist. Dies wird durch Art. 12 des Rahmenbeschlusses bestätigt, wonach im Fall der Festnahme einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls die vollstreckende Justizbehörde zu entscheiden hat, ob die gesuchte Person in Haft zu halten ist. Ferner schreibt der Rahmenbeschluss, selbst soweit die vollstreckende Justizbehörde während des Übergabeverfahrens verpflichtet ist, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die materiellen Voraussetzungen für eine tatsächliche Übergabe weiterhin gegeben sind ( 13 ), keine Haft vor und regelt auch nicht deren Dauer oder Bedingungen, die Sache des nationalen Rechts bleiben ( 14 ).

4. Grenzen

38.

Dass der Rahmenbeschluss selbst eine Freiheitsentziehung nicht regelt, bedeutet jedoch nicht, dass es für eine mögliche wiederholte Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses keine Grenzen gibt. Ganz im Gegenteil: Bei der Anwendung von Art. 23 Abs. 3 müssen die Mitgliedstaaten zwei Arten von Grenzen einhalten: erstens diejenigen innerhalb des Rahmenbeschlusses, und zweitens diejenigen außerhalb des Rahmenbeschlusses, die sich aus dem in Art. 6 der Charta verankerten Grundrecht auf Freiheit und Sicherheit ergeben.

a) Grenzen aufgrund des Rahmenbeschlusses

39.

Eine Reihe von Beschränkungen sind im Rahmenbeschluss selbst enthalten.

40.

Erstens ist eine wiederholte Anwendung von Art. 23 Abs. 3 nur aufgrund von Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, zulässig, was, wie ich in Beantwortung der zweiten Vorabentscheidungsfrage feststellen werde, eng auszulegen ist.

41.

Zweitens unterliegen die Mitgliedstaaten stets der Verpflichtung nach Art. 23 Abs. 1, die gesuchte Person so bald wie möglich zu übergeben.

42.

Drittens bleibt die Möglichkeit einer wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 durch strikte Fristen beschränkt. Die vollstreckende Justizbehörde ist verpflichtet, sich unverzüglich mit der ausstellenden Justizbehörde in Verbindung zu setzen und ein neues Übergabedatum zu vereinbaren, wonach erneut die Zehntagesfrist gilt.

43.

Schließlich führt die Nichteinhaltung einer der Fristen, sei es nach Art. 23 Abs. 2 oder nach Art. 23 Abs. 3, vor allem sofort dazu, dass Art. 23 Abs. 5 greift, der die Entlassung der gesuchten Person aus der Haft anordnet.

44.

Somit beinhaltet Art. 23 Abs. 3 durch die Festlegung strikter Fristen zur Beschleunigung der justiziellen Zusammenarbeit eine Sorgfaltspflicht. Dies trägt zur Wahrung von Art. 6 der Charta in seiner Auslegung in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Buchst. f der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei. Wie bereits im Vorschlag der Kommission festgehalten, dienen Fristen nicht nur der Beschleunigung der Verfahren im Interesse der Wirksamkeit der justiziellen Zusammenarbeit und der gegenseitigen Anerkennung, sondern korrespondieren auch mit dem Recht der Rechtsunterworfenen auf eine gerichtliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist ( 15 ). Wie von der polnischen Regierung vorgetragen, dient Art. 23 auch dem Schutz der gesuchten Person davor, infolge von Verzögerungen im Übergabeverfahren übermäßig lange Zeit in Haft zu bleiben.

b) Grenzen aufgrund grundrechtlicher Verpflichtungen

45.

Soweit die Mitgliedstaaten über eine Freiheitsentziehung entscheiden, um Verpflichtungen aus dem Rahmenbeschluss nachzukommen, handeln sie im Geltungsbereich des Unionsrechts. Sie unterliegen daher der Charta nach deren Art. 51 Abs. 1.

46.

Die Mitgliedstaaten sind insbesondere zur Achtung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit in Art. 6 der Charta verpflichtet. Aus Art. 52 Abs. 3 der Charta geht hervor, dass soweit dieses Instrument Rechte enthält, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, diese die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der EMRK verliehen wird ( 16 ). Gemäß den Erläuterungen zur Charta entspricht Art. 6 der Charta dem Art. 5 EMRK ( 17 ). Nach Art. 5 Abs. 1 EMRK darf die Freiheit nur in den dort aufgeführten besonderen Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden.

47.

Trotz der Unterschiede zu herkömmlichen Auslieferungsregelungen ( 18 ), die der Rahmenbeschluss überwinden soll ( 19 ), ist anerkannt, dass für eine Übergabehaft aufgrund des Europäischen Haftbefehls der Schutzstandard des Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK gilt ( 20 ). Diese Bestimmung bezieht sich auf die „rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung … bei Personen, gegen die ein … Auslieferungsverfahren im Gange ist“.

48.

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK ergeben sich wesentliche, für eine Übergabehaft nach Art. 23 des Rahmenbeschlusses relevante Voraussetzungen. Erstens ist eine Freiheitsentziehung nur gerechtfertigt, wenn das Verfahren mit der „gebotenen Sorgfalt“ durchgeführt wird. Zweitens muss die Freiheitsentziehung „rechtmäßig“ sein, womit auch Anforderungen an die „Qualität des Gesetzes“ verbunden sind. Drittens müssen nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen von Grundrechten – wie die Freiheitsentziehung – mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen. Diese drei Grenzen werden nun nacheinander geprüft.

49.

Die erste Grenze wirkt sich vorwiegend auf die Gesamtdauer der Übergabehaft aus. Die Inhaftierung ist nicht mehr gerechtfertigt, wenn das Verfahren nicht mit der erforderlichen Sorgfalt durchgeführt wird ( 21 ). Die vollstreckende Justizbehörde darf die betreffende Person nur in Haft behalten, solange das Übergabeverfahren „mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt worden ist und somit keine übermäßig lange Inhaftierung vorliegt“ ( 22 ). Wie oben in Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt, untermauern die Fristen nach Art. 23 des Rahmenbeschlusses die Voraussetzung der gebotenen Sorgfalt.

50.

Die zweite Grenze setzt voraus, dass jede Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK „rechtmäßig“ sein muss. Demnach muss jede Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 EMRK „auf gesetzlich vorgeschriebene Weise“ erfolgen ( 23 ). Sie muss den materiellen und prozessualen Vorschriften des nationalen Rechts entsprechen und dem Ziel gerecht werden, den Einzelnen vor Willkür zu schützen ( 24 ). Bei der Beurteilung der „Rechtmäßigkeit“ der Freiheitsentziehung kommt dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit eine herausragende Bedeutung zu. Die Voraussetzung der „Rechtmäßigkeit“ bezieht sich daher auch auf die „Qualität des Rechts“: „Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass die Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung nach nationalem Recht klar definiert sind und dass das Recht selbst in seiner Anwendung vorhersehbar ist …“ ( 25 ).

51.

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 23 Abs. 3 einen rechtlichen Rahmen zur Rechtfertigung einer fortdauernden Übergabehaft bietet. Diese Bestimmung definiert jedoch nicht die konkreten Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung.

52.

Im Einklang mit den von Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache N. angeführten Argumenten sind bei der Prüfung, ob Einschränkungen des Rechts auf Freiheit den Voraussetzungen der Rechtmäßigkeit und der „Qualität des Rechts“ genügen, nicht nur die relevanten Bestimmungen des Unionsrechts, sondern auch die des nationalen Rechts zu berücksichtigen ( 26 ). Für die Prüfung der Voraussetzung der „Rechtmäßigkeit“ hat der EGMR nämlich anerkannt, dass Instrumente der internationalen Zusammenarbeit Rechtsgrundlage für die Auslieferungshaft sein können. Im Zusammenhang mit dem Kriterium der „Qualität des Rechts“ (der notwendigen Zugänglichkeit, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit) hat der EGMR indes festgestellt, dass weil diese Instrumente keine umfassende Regelung des zu einzuhaltenden Verfahrens enthalten, das nationale Recht zu prüfen ist ( 27 ).

53.

Hieraus ergibt sich eine ganz konkrete Folge für eine wiederholte Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses. Die Voraussetzung der „Qualität des Rechts“ führt dazu, dass eine freiheitsentziehende Maßnahme nur dann aufgrund wiederholter „Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“, rechtmäßig fortgesetzt werden darf, wenn die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses in Verbindung mit den umsetzenden nationalen Vorschriften den Anforderungen der Zugänglichkeit, Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit genügen.

54.

Was die dritte Grenze angeht, ist im Blick zu behalten, dass die vollstreckende Justizbehörde auch durch das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Wie der Gerichtshof festgestellt hat, folgt aus Art. 52 Abs. 1 der Charta, dass ein Europäischer Haftbefehl eine unbefristete Aufrechterhaltung der Inhaftierung der gesuchten Person nicht rechtfertigen kann ( 28 ). Folglich muss die vollstreckende Justizbehörde beim Erlass der Entscheidung, die Freiheitsentziehung für die Zwecke der Anwendung von Art. 23 Abs. 3 aufrechtzuerhalten, ähnlich wie der Gerichtshof im Urteil Lanigan festgestellt hat, eine konkrete Prüfung der Sachlage vornehmen und dabei alle zur Beurteilung der Frage, ob die Dauer der Freiheitsentziehung gerechtfertigt ist, relevanten Gesichtspunkte heranziehen, u. a. die Strafe, die für die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Taten droht oder verhängt wurde, die Fluchtgefahr, das Handeln der zuständigen Behörden und schließlich „den Beitrag der gesuchten Person zur Verfahrensdauer“ ( 29 ).

55.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die die Übergabehaft regelnden nationalen Vorschriften in Verbindung mit Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses sowie ihre Anwendung in der vorliegenden Rechtssache diese drei Voraussetzungen erfüllen.

5. Antwort auf die erste Frage

56.

Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ist meines Erachtens dahin auszulegen, dass er zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird. Im Fall einer wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 darf die gesuchte Person nach Art. 6 der Charta der Grundrechte nur dann in Haft behalten werden, wenn das Übergabeverfahren dem Erfordernis der gebotenen Sorgfalt genügt, wenn die relevanten Vorschriften des nationalen Rechts vorhersehbar, zugänglich und bestimmt sind und wenn die Freiheitsentziehung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

B – Zweite Frage

57.

Wenn die erste Frage bejaht wird, wird mit der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts um eine Klarstellung der Umstände ersucht, unter denen nach Art. 23 Abs. 3 ein neues Übergabedatum mehr als einmal vereinbart werden kann. Das vorlegende Gericht nennt verschiedene Möglichkeiten: wenn festgestellt wird, dass die „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“, fortdauern; oder wenn festgestellt wird, dass sie, nachdem sie weggefallen waren, erneut eingetreten sind; oder wenn andere Umstände eingetreten sind, aufgrund deren die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der vorgesehenen Frist unmöglich ist oder wahrscheinlich unmöglich sein wird.

58.

Der gemeinsame Ausgangspunkt aller dieser Szenarien ist das Vorliegen von „Umständen, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“. Im vorliegenden Teil der Schlussanträge werde ich daher zunächst diesen Begriff untersuchen. Sodann werde ich prüfen, ob persönliches Verhalten als ein „Umstand, der sich dem Einfluss“ der Mitgliedstaaten „entzieht“, angesehen werden kann. Drittens werde ich diesen Begriff in den Kontext eines fortbestehenden, erneut eintretenden oder neuen Übergabehindernisses nach Art. 23 Abs. 3 stellen.

1. „Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen“, oder „höhere Gewalt“?

59.

Der Wortlaut von Art. 23 Abs. 3 weicht in den verschiedenen Sprachfassungen des Rahmenbeschlusses voneinander ab. In der englischen und in der Mehrheit der Sprachfassungen ist in dieser Bestimmung von „Umständen, die sich dem Einfluss“ der Mitgliedstaaten „entziehen“, die Rede ( 30 ). Andere Sprachfassungen verwenden den Begriff höhere Gewalt ( 31 ).

60.

Diese Abweichung ist nicht folgenlos. Nach ihrer Definition durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs in verschiedenen Zusammenhängen bezeichnet höhere Gewalt ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse, auf die derjenige, der sich auf höhere Gewalt beruft, keinen Einfluss hat und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können ( 32 ). Dagegen lässt sich die Ansicht vertreten, dass „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“, sich nur auf eines der Elemente der Definition der höheren Gewalt beziehen. Sie bilden so eine logische Teilmenge der höheren Gewalt. Sie würden somit eine größere Bandbreite von Fällen erfassen ( 33 ).

61.

Eine Untersuchung der Vorarbeiten belegt jedoch, wie von der litauischen Regierung vorgetragen, dass die Formulierung „Umstände, die sich dem Einfluss entziehen“, im Sinne von Art. 23 Abs. 3 dem herkömmlichen Begriff der höheren Gewalt in seiner Auslegung durch den Gerichtshof entsprechen sollte.

62.

In der im ursprünglichen Vorschlag der Kommission enthaltenen englischen Fassung des Entwurfs des Art. 23 Abs. 3 war von „Umständen, die sich dem Einfluss entziehen“ die Rede (allerdings nur in Bezug auf den Vollstreckungsmitgliedstaat) ( 34 ). In der Begründung des Kommissionsvorschlags wurde gleichwohl der Begriff höhere Gewalt verwendet. Diese Begründung erläuterte ferner, dass der Wortlaut der Abs. 2 und 3 des Art. 23 sich an Art. 11 des Übereinkommens von 1995 orientiere ( 35 ). Der Wortlaut dieser Bestimmung verwendet in der eindeutigen Mehrheit der verbindlichen Sprachfassungen den Begriff „höhere Gewalt“ ( 36 ).

63.

Im Kommissionsvorschlag selbst wurde der erläuternde Bericht zum Übereinkommen von 1995 erwähnt, wonach der Begriff „höhere Gewalt“ im strengen Wortsinne auszulegen war ( 37 ). Das Erfordernis einer engen Auslegung ergibt sich auch daraus, dass Art. 23 Abs. 3 eine Ausnahme von der normalen Anwendung des Übergabeverfahrens darstellt ( 38 ) und sich auf die Freiheitsentziehung der gesuchten Person auswirken kann.

64.

Kurz gesagt sind die Begriffe „Umstände, die sich dem Einfluss entziehen“, und „höhere Gewalt“ meines Erachtens für die Zwecke von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses als gleichbedeutend anzusehen.

2. Höhere Gewalt und persönliches Verhalten im Kontext von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses

65.

Der Gerichtshof hat in verschiedenen Zusammenhängen festgestellt, dass höhere Gewalt nicht nur die absolute Unmöglichkeit erfasst ( 39 ). Er hat zwei wesentliche Merkmale der höheren Gewalt benannt, die für die Auslegung dieses Begriffs im Kontext des Rahmenbeschlusses relevant sind. Erstens ein objektives Merkmal, das sich auf die Art der Umstände bezieht: Die Umstände müssen ungewöhnlich und unvorhersehbar sein und außerhalb der Sphäre desjenigen liegen, der sich auf diese Ausnahme beruft. Zweitens ein subjektives Merkmal: die Verpflichtung, „sich gegen die Folgen ungewöhnlicher Ereignisse zu wappnen, indem, ohne übermäßige Opfer zu bringen, geeignete Maßnahmen getroffen werden“ ( 40 ).

66.

Die Beurteilung dieser beiden Merkmale ist jedoch kontextabhängig. Sie kann in den verschiedenen Bereichen des Unionsrechts unterschiedlich sein ( 41 ).

67.

Zu berücksichtigen ist daher der besondere Kontext des Rahmenbeschlusses. Dieses Instrument findet im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit dem Ziel der Beschleunigung und Vereinfachung von Übergabeverfahren Anwendung. Zu diesen Zwecken sind die strikten Fristen zu wahren. Schnelligkeit und Sorgfalt der Behörden sind daher bei der Übergabe von herausragender Bedeutung. Diese Gründe in Verbindung mit dem Ausnahmecharakter des Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses und seinen Auswirkungen auf die persönliche Freiheit führen in der Folge dazu, dass diese Merkmale streng und eher restriktiv zu beurteilen sind.

68.

Was das erste Merkmal der höheren Gewalt angeht, kann das Verhalten der gesuchten Person als ein „Umstand, der sich dem Einfluss … entzieht“, im Sinne von Art. 23 Abs. 3 angesehen werden, wenn es nicht vorherzusehen ist und außerhalb des Einflusses des Mitgliedstaats liegt, der sich darauf beruft. Aggressives Verhalten zum Zeitpunkt der Übergabe kann daher nur als ein unvorhergesehenes und durch äußere Ursachen hervorgerufenes Ereignis angesehen werden, wenn die den Behörden zur Verfügung stehenden Sachverhaltsangaben in keiner Weise auf das Eintreten eines solchen Szenarios hindeuteten. Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios ist der besondere tatsächliche Hintergrund des jeweiligen Einzelfalls von den nationalen Behörden gebührend zu berücksichtigen, u. a. im Hinblick etwa auf die Straftaten, derentwegen die Person gesucht wird oder verurteilt worden ist; das Verhalten während der Freiheitsentziehung; Voreintragungen und alle sonstigen Umstände, die ihren Hintergrund betreffen und sich möglicherweise aus der nationalen Akte ergeben.

69.

Die Kommission hat vorgetragen, dass Behörden vielfach auf Privatunternehmen als Vermittler des Transports zurückgreifen müssten: Dass gewerbliche Luftfahrtunternehmen sich weigern könnten, eine gewalttätige Person an Bord zu lassen, sei daher weitgehend als dem Einfluss der Behörden entzogen anzusehen.

70.

Ich stimme damit überein, dass ein solches Ereignis als dem (faktischen) Einfluss der Mitgliedstaaten entzogen angesehen werden kann. Die Reaktion des Piloten eines gewerblichen Luftfahrunternehmens im Fall unruhigen und/oder aggressiven Verhaltens eines Passagiers kann jedoch kaum als unvorhersehbares Ereignis angesehen werden. Vielmehr dürfte im Gegenteil eine solche Reaktion eines Piloten angesichts der bestehenden bekannten Sicherheitsvorschriften und ‑vorkehrungen für solche Ereignisse durchaus vorhersehbar sein.

71.

Diese Annahme schließt nicht aus, dass plötzliches, unerwartetes, gewalttätiges Verhalten der gesuchten Person an sich das erste Merkmal der Definition der höheren Gewalt erfüllen kann. Es steht allerdings der Ansicht entgegen, dass die natürliche und vorhersehbare Reaktion eines Piloten, der mit einem solchen Ereignis konfrontiert ist, an sich höhere Gewalt darstelle. Schließlich obliegt die Wahl der Art des Transports den Mitgliedstaaten. Für die Verantwortung für die getroffene Wahl gilt dies ebenso.

72.

Um zum zweiten Merkmal zu kommen, ist festzuhalten, dass zur Erfüllung des Erfordernisses, dass die „gebotene Sorgfalt“ angewendet wurde, um Behinderungen der Übergabe zu vermeiden, die von den Behörden der Mitgliedstaaten verlangte Sorgfalt besonders erhöht ist, wenn sie im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen tätig sind, und zwar erst recht zum kritischen Zeitpunkt der tatsächlichen Übergabe. Die in den Mitgliedstaaten für die Übergabe zuständigen Behörden müssen alle vernünftigen Anstrengungen unternehmen, um zu gewährleisten, dass die Person tatsächlich übergeben wird. Je nachdem, wie die gesuchte Person einzuschätzen ist, können Notfallpläne erforderlich sein.

73.

Bei der Anwendung dieser Sorgfalt müssen die auf die tatsächliche Übergabe gerichteten Anstrengungen in einem angemessenen Verhältnis zur konkreten Situation der gesuchten Person stehen, um nicht gegen Art. 4 der Charta zu verstoßen. Wie von der irischen Regierung vorgetragen, gilt nach der Rechtsprechung des EGMR für eine von einer Freiheitsentziehung betroffene Person, dass „jeder Rückgriff auf physische Gewaltanwendung, der nicht durch ihr eigenes Verhalten unbedingt erforderlich wird, die Menschenwürde beeinträchtigt und grundsätzlich gegen das Recht nach Art. 3 EMRK verstößt ( 42 ).

74.

Das Erfordernis, innerhalb des Übergabeverfahrens die Grundrechtsstandards zu wahren, das zu den gewöhnlichen Aufgaben der Behörden gehört, kann indes nicht herangezogen werden, um eine Überspannung des Begriffs „höhere Gewalt“ zu rechtfertigen. Die Erfordernisse der Einhaltung der Grundrechte können einem Mitgliedstaat, der sich auf höhere Gewalt beruft, nur dann zur Seite stehen, wenn auf der Grundlage der in Nr. 65 der vorliegenden Schlussanträge genannten Prüfung nach Ergreifen aller nach der gebotenen Sorgfalt erforderlichen Maßnahmen die Übergabe durch das unvorhersehbare Verhalten der gesuchten Person unmöglich war.

3. Fortbestehende, erneut eintretende oder neue „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“

75.

Im Licht der vorstehenden Würdigung könnte das aggressive Verhalten der gesuchten Person eine Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses rechtfertigen, wenn die Voraussetzungen für das Vorliegen höherer Gewalt erfüllt sind. Ob das Vorliegen von Umständen, „die sich dem Einfluss“ der Mitgliedstaaten „entziehen“, für eine wiederholte Anwendung von Art. 23 Abs. 3 aufgrund des wiederholten Vorkommens aggressiven Verhaltens bejaht werden kann – worauf die zweite Vorabentscheidungsfrage des vorlegenden Gerichts abzielt – bedarf einer weiteren Prüfung.

76.

Nach Ansicht der Kommission sowie der Regierungen Irlands und des Vereinigten Königreichs sind „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“ im Sinne von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses in allen drei, vom vorlegenden Gericht in seiner zweiten Frage aufgeführten Fällen – fortbestehende, erneut eintretende oder neue „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“ – zu bejahen.

77.

Meines Erachtens bedarf es jedoch eines differenzierteren Ansatzes. In den drei Arten von Fällen, die das vorlegende Gericht abstrakt darstellt, kann es nur dann zu einem erneuten Eintreten von „Umständen, die sich dem Einfluss … entziehen“ kommen, wenn beide oben in Nr. 65 genannten Merkmale der höheren Gewalt vorliegen. Ob dies der Fall ist, haben die nationalen Gerichte im Kontext des Sachverhalts der Rechtssache zu beurteilen. Zur Unterstützung der nationalen Gerichte bei ihrer Aufgabe mögen jedoch einige allgemeine Erwägungen beitragen.

78.

Im Hinblick auf den ersten Fall, nämlich die fortbestehenden Umstände, ist meines Erachtens mit der litauischen Regierung davon auszugehen, dass Umstände, die in der neu gesetzten Frist fortbestehen, grundsätzlich nicht als höhere Gewalt zu behandeln sind, weil diese Umstände aufgrund ihres Fortbestehens tatsächlich vorhersehbar wären. Besteht dieselbe Art außergewöhnlicher Umstände fort, wird wahrscheinlich keine sorgfältige nationale Behörde bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt ein weiteres Übergabedatum anberaumen.

79.

Im zweiten Fall – in dem „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“, weggefallen sind, dann jedoch erneut eintreten – fehlt es ebenfalls am Merkmal der Unvorhersehbarkeit. Dies würde nur dann nicht gelten, wenn dieses erneute Eintreten an sich unvorhersehbar ist oder deshalb, weil beispielsweise die Situation mit einer Intensität oder unter Umständen wieder aufgetreten ist, durch die sich die Situation gegenüber dem ersten Ereignis wesentlich verändert.

80.

Im Hinblick auf das subjektive Merkmal der höheren Gewalt, wird in beiden Fällen fortbestehender bzw. erneut eintretender Umstände die Tatsache, dass sich eine ähnliche Situation bereits ereignet hat, natürlich die Schwelle der von nationalen Behörden anzuwendenden „gebotenen Sorgfalt“ erhöhen.

81.

Zusammenfassend wird durch das Vorbestehen bzw. Fortbestehen gleichartiger, zur Anwendung von Art. 23 Abs. 3 führender Umstände die mögliche Erfüllung der dem Begriff der höheren Gewalt wesenseigenen Voraussetzungen der Unvorhersehbarkeit und der gebotenen Sorgfalt besonders erschwert.

82.

Der dritte Fall betrifft die Situation, dass „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“, weggefallen sind, jedoch andere derartige Umstände eingetreten sind, aufgrund deren die Übergabe der gesuchten Person innerhalb der vorgesehenen Frist unmöglich ist oder wahrscheinlich unmöglich sein wird.

83.

Dieser dritte Fall hat meines Erachtens tatsächlich die größten Aussichten darauf, zur erneuten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses zu führen. Zugestanden sei, dass die Wahrscheinlichkeit nicht eben groß sein mag, dass im Laufe ein und desselben Übergabeverfahrens mehr als einmal verschiedene und echte Fälle höherer Gewalt eintreten. Weil die Wirklichkeit häufig merkwürdiger ist als die Fiktion, kann das Eintreten solcher Ereignisse jedoch sicherlich nicht ausgeschlossen werden.

84.

Im Ergebnis wird es, wenn der in den vorliegenden Schlussanträgen vertretenen engen Auslegung der höheren Gewalt gefolgt wird, zu einer wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses eindeutig nur in sehr außergewöhnlichen Fällen kommen. Ausgehend von diesem Verständnis könnte das aggressive Verhalten der gesuchten Person, die einen ersten Übergabeversuch vereitelt hat, nur dann als höhere Gewalt qualifiziert werden, wenn sich aus Sicht der nationalen Justizbehörden aus den Akten und dem Sachverhalt des Einzelfalls nichts ergab, wodurch sie einen solchen Geschehensablauf vernünftigerweise hätten vorhersehen können. Dagegen könnte die Wiederholung eines nahezu identischen Verhaltens, das einen späteren Übergabeversuch unmöglich macht, vernünftigerweise nicht als höhere Gewalt qualifiziert werden, es sei denn die zuständige Behörde hatte aufgrund des Sachverhalts der Rechtssache Grund zu der Annahme, dass dieses Szenario sich nicht erneut ereignen könne.

85.

Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage aller ihm zur Verfügung stehenden Sachverhaltsangaben festzustellen, ob die Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses in der vorliegenden Rechtssache ein zweites Mal erfüllt waren.

4. Antwort auf die zweite Frage

86.

Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ist meines Erachtens dahin auszulegen, dass er nur zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird, wenn die neuen oder erneut eingetretenen Umstände, aufgrund deren die Übergabe unmöglich ist, an sich einen neuen Fall von höherer Gewalt darstellen.

C – Nachtrag

87.

Es gibt zwei widerstreitende allgemeinere Interessen, die im Schatten der vorliegenden Rechtssache liegen und vielleicht nicht ganz klar zum Ausdruck kommen, aber sicherlich relevant sind: das grundlegende moralische Prinzip, dass es niemandem zugutekommen darf, wenn er sich rechtswidrig verhalten hat ( 43 ), und die Notwendigkeit, die Mitgliedstaaten dazu anzuhalten, das Übergabeverfahren im Hinblick auf seine Planung und seinen Vollzug verantwortungsbewusst anzugehen.

88.

Mit den vorliegenden Schlussanträgen wurde ein vernünftiger Kompromiss zwischen diesen beiden Interessen unter Wahrung der Grundrechte der gesuchten Person angestrebt: Im Fall, eng ausgelegter, neuer oder erneut eintretender Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, kann nach Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses mehr als einmal ein neues Übergabedatum festgelegt werden. Diese Möglichkeit unterliegt jedoch sowohl intern als auch extern klaren Grenzen. Intern, d. h. innerhalb des Rahmenbeschlusses, müssen echte Umstände, die sich dem Einfluss der Mitgliedstaaten entziehen, vorliegen – und nicht lediglich Situationen, die sich aus mangelnder Vorbereitung oder aus einer Zweckmäßigkeit für die Mitgliedstaaten ergeben. Liegen solche Umstände nicht vor, muss die gesuchte Person nach Art. 23 Abs. 5 sofort freigelassen werden. Extern gilt für die Dauer und Bedingungen der Haft aufgrund der wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 die Charta im Licht ihrer Auslegung durch den EGMR.

89.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmen der vorliegenden Schlussanträge sich auf die Auslegung des Begriffs „Umstände, die sich dem Einfluss … entziehen“, und die Möglichkeit einer wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 beschränkt. Zuzugestehen ist, dass die Rechtsfragen, die in den vorliegenden Schlussanträgen – die einer sachdienlichen Beantwortung der konkreten, in der vorliegenden Rechtssache vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen dienen – behandelt werden, die Auslegungsprobleme, die sich aus dem aktuellen Wortlaut von Art. 23 des Rahmenbeschlusses möglicherweise ergeben können, nicht erschöpfend erörtern. Insbesondere erfolgt mit den vorliegenden Schlussanträgen keine Stellungnahme zur rechtlichen Einordnung oder Gültigkeit eines Europäischen Haftbefehls, nachdem die Voraussetzungen von Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses erfüllt sind und die gesuchte Person somit zwingend aus der Haft zu entlassen ist.

IV – Ergebnis

90.

Nach alledem empfehle ich dem Gerichtshof, die ihm vom Court of Appeal (Berufungsgericht, Irland) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.

Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird. Im Fall einer wiederholten Anwendung von Art. 23 Abs. 3 darf die gesuchte Person nach Art. 6 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nur dann in Haft behalten werden, wenn das Übergabeverfahren dem Erfordernis der gebotenen Sorgfalt genügt, wenn die relevanten Vorschriften des nationalen Rechts vorhersehbar, zugänglich und bestimmt sind und wenn die Freiheitsentziehung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt.

2.

Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses ist dahin auszulegen, dass er nur zulässt, dass mehr als einmal ein neues Übergabedatum vereinbart wird, wenn die neuen oder erneut eingetretenen Umstände, aufgrund deren die Übergabe unmöglich ist, für sich einen neuen Fall von höherer Gewalt darstellen.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Midnight Run (1988), Regie: Martin Brest, produziert von Universal Pictures.

( 3 ) ABl. 2002, L 190, S. 1, in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

( 4 ) Beschluss Vilkas (C‑640/15, EU:C:2015:862).

( 5 ) Beispiele sind Art. 11 Abs. 3 des Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 1995, C 78, S. 2) und Art. 18 Abs. 5 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens von 1957. Für das letztere Übereinkommen wird die Ansicht vertreten, dass einer wiederholten Anwendung dieser Regelung nichts entgegenstehe (vgl. Manzanares Samaniego, J. L., El Convenio Europeo de Extradición, Bosch, Barcelona, 1986, S. 219).

( 6 ) Das Ziel, eine Straflosigkeit zu verhindern, hat der Gerichtshof im Unionsrecht als legitimes Ziel von allgemeinem Interesse anerkannt (vgl. Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 37 bis 39, und vom 27. Mai 2014, Spasic, C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 63 und 65).

( 7 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 8 ) Urteil vom 30. Mai 2013, F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 58).

( 9 ) Vgl. z. B. Urteil vom 7. Oktober 2010, Lassal (C‑162/09, EU:C:2010:592, Rn. 51). Vgl. insoweit auch Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 35 bis 42).

( 10 ) Vgl. ähnlich zu Art. 12, Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 54).

( 11 ) Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 53).

( 12 ) Der Bereich der Freiheitsentziehung im Strafverfahren ist derzeit auf der Unionsebene nicht geregelt. Der Rat hat die Kommission zwar aufgefordert, ein Grünbuch zur Untersuchungshaft vorzulegen, weitere Schritte zum Erlass unionsrechtlicher Instrumente in diesem Bereich sind jedoch nicht unternommen worden. Vgl. Grünbuch „Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im europäischen Rechtsraum – Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs“, Brüssel, 14. Juni 2011, KOM(2011) 327 endg. In der Frage der Übergabe- oder Auslieferungshaft weisen die Ansätze in den verschiedenen Mitgliedstaaten deutliche Unterschiede auf. Vgl. insbesondere Europäischer Ausschuss für Strafrechtsfragen – Sachverständigenausschuss für die Anwendung Europäischer Übereinkommen auf dem Gebiet des Strafrechts, „Vorläufige Festnahme und Freiheitsentziehung im Auslieferungsverfahren – im jeweiligen Land geltende Fristen [„European Committee on Crime Problems – Committee of Experts on the Operation of European conventions in the penal field, „Provisional arrest and detention pending extradition – time limits applicable in each country“], Straßburg, 2. Juli 2012, PC‑OC/Inf 71, abrufbar unter http://www.coe.int/tcj.

( 13 ) Vgl. in diesem Sinne zur Situation vor Ergehen der endgültigen Entscheidung über die Vollstreckung Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 61).

( 14 ) Nach Art. 12 ist die Entscheidung über eine Aufrechterhaltung der Haft „nach Maßgabe des Rechts des Vollstreckungsmitgliedstaats“ zu treffen. Nach Art. 12 ist ferner eine vorläufige Haftentlassung „nach Maßgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats“ jederzeit möglich. In diesem Fall hat die zuständige Behörde die vorläufige Haftentlassung mit „den ihres Erachtens erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung einer Flucht der gesuchten Person“ zu verbinden.

( 15 ) Vgl. Vorschlag der Kommission für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2001) 522 endg., S. 4.

( 16 ) Vgl. auch Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 56).

( 17 ) Vgl. Urteile vom 28. Juli 2016, JZ (C‑294/16 PPU, EU:C:2016:610, Rn. 48), und vom 15. Februar 2016, N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84, Rn. 47 und 77).

( 18 ) Vgl. insbesondere Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2006:552, Nrn. 38 bis 47).

( 19 ) Vgl. z. B. Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) Vgl. Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 56 bis 58).

( 21 ) Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 57).

( 22 ) Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 100), und vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 58).

( 23 ) Urteil des EGMR vom 26. Juni 2012, Toniolo/San Marino und Italien (CE:ECHR:2012:0626JUD004485310, Rn. 44).

( 24 ) Urteil des EGMR vom 19. Februar 2009, A. u. a./Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2009:0219JUD000345505, Rn. 164).

( 25 ) Urteil des EGMR vom 24. Juli 2014, Čalovskis/Lettland (CE:ECHR:2014:0724JUD002220513, Rn. 182).

( 26 ) Stellungnahme der Generalanwältin Sharpston in der Rechtssache N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:85, Rn. 131).

( 27 ) Urteile des EGMR vom 23. Oktober 2008, Soldatenko/Ukraine (CE:ECHR:2008:1023JUD000244007, Rn. 112), und vom 26. Juni 2012, Toniolo/San Marino und Italien (CE:ECHR:2012:0626JUD004485310, Rn. 46 bis 50).

( 28 ) Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru (C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 101).

( 29 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Lanigan (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 59).

( 30 ) Dies gilt z. B. für die bulgarische, die spanische, die tschechische, die deutsche, die estnische, die griechische, die kroatische, die lettische, die litauische, die maltesische, die niederländische, die polnische, die slowakische, die slowenische und die schwedische Fassung.

( 31 ) Insbesondere die französische, die italienische, die portugiesische, die rumänische und die finnische Fassung.

( 32 ) Vgl. z. B. Urteil vom 18. Juli 2013, Eurofit (C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 33 ) In einigen Instrumenten des Sekundärrechts wird diese Differenzierung ausdrücklich vorgenommen und auf gesonderte Regelungen für höhere Gewalt und für „Umstände, die sich dem Einfluss entziehen“, verwiesen. Dies galt für die (aufgehobene) Verordnung (EWG) Nr. 1380/75 der Kommission vom 29. Mai 1975 über die Durchführungsvorschriften für die Währungsausgleichsbeträge (ABl. 1975, L 139, S. 37). Vgl. hierzu Schlussanträge des Generalanwalts Lenz in der Rechtssache Denkavit France (266/84, EU:C:1985:425, Teil A Nr. 1, wonach „[d]er Begriff der höheren Gewalt … somit anders und zwar enger auszulegen [sein soll] als der der Gründe, die von einem Beteiligten nicht zu vertreten sind“).

( 34 ) Vorschlag für einen Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, KOM(2001) 522 endg. (ABl. 2001, C 332 E, S. 305).

( 35 ) Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 1995, C 78, S. 2).

( 36 ) In der spanischen, der dänischen, der deutschen, der griechischen, der französischen, der italienischen, der niederländischen, der portugiesischen und der finnischen Fassung. Lediglich in der englischen und der schwedischen Fassung wird dieser Begriff nicht verwendet.

( 37 ) Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – Erläuternder Bericht (ABl. 1996, C 375, S. 4).

( 38 ) Vgl. entsprechend Urteile vom 4. Februar 2016, C & J Clark International (C‑659/13 und C‑34/14, EU:C:2016:74, Rn. 191), und vom 18. Juli 2013, Eurofit (C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 37).

( 39 ) Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée und Rhône (C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 40 ) Urteil vom 18. Dezember 2007, Société Pipeline Méditerranée und Rhône (C‑314/06, EU:C:2007:817, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 41 ) Vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Eurofit (C‑99/12, EU:C:2013:487, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 42 ) Vgl. z. B. Urteile des EGMR vom 28. September 2015, Bouyid/Belgien (CE:ECHR:2015:0928JUD002338009, Rn. 88), und vom 4. Dezember 1995, Ribitsch/Österreich (CE:ECHR:1995:1204JUD001889691, Rn. 38).

( 43 ) In der mündlichen Verhandlung waren die litauische und die irische Regierung der Ansicht, dass das Verhalten des Rechtsmittelgegners als rechtsmissbräuchlich qualifiziert werden könne. Sie machten geltend, dass Herr Vilkas die Voraussetzungen für seine Freilassung nach Art. 23 Abs. 5 mit seinem gewalttätigen Verhalten künstlich herbeigeführt habe.

Meines Erachtens ist der Begriff des Rechtsmissbrauchs im vorliegenden Kontext nicht einschlägig. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert der Nachweis einer missbräuchlichen Praxis ein objektives Merkmal – dass trotz formaler Einhaltung der in der Unionsregelung vorgesehenen Bedingungen das Ziel dieser Regelung nicht erreicht wurde – und ein subjektives Merkmal, nämlich die Absicht, sich einen aus der Unionsregelung resultierenden Vorteil zu verschaffen, indem die Voraussetzungen für seine Erlangung künstlich geschaffen werden. Vgl. z. B. Urteil vom 18. Dezember 2014, McCarthy u. a. (C‑202/13, EU:C:2014:2450, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Ich habe Schwierigkeiten damit, inwieweit in dem gewalttätigen Widerstand gegen seine Übergabe eine formale Einhaltung einer im Unionsrecht vorgesehenen Bedingung durch den Rechtsmittelgegner zu sehen sein sollte. Allenfalls könnte in diesem Verhalten in einer Reihe von nationalen Rechtsordnungen eine Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung, oder wie immer ein solches Vergehen im nationalen Recht bezeichnet sein mag, zu sehen sein.

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