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Document 62015CC0404

    Schlussanträge des Generalanwalts Y. Bot vom 3. März 2016.
    Pál Aranyosi und Robert Căldăraru.
    Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 4 – Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung – Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat.
    Verbundene Rechtssachen C-404/15 und C-659/15 PPU.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:140

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    YVES BOT

    vom 3. März 2016 ( 1 )

    Rechtssachen C‑404/15 und C‑659/15 PPU

    Pál Aranyosi (C‑404/15)

    und

    Robert Căldăraru (C‑659/15 PPU)

    (Vorabentscheidungsersuchen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen [Deutschland])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2002/584/JI — Zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel erlassene Europäische Haftbefehle — Übergabe der gesuchten Personen an die ausstellenden Justizbehörden — Art. 1 Abs. 3 — Grundrechte — Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat — Risiken unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung — Erfordernis einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit beim Erlass Europäischer Haftbefehle“

    I – Einleitung

    1.

    Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führt dazu, dass die gesuchte Person in Haft genommen wird. Berechtigt ein auch nur potenziell oder wahrscheinlich erniedrigender Charakter der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat wegen systemischer Mängel der dortigen Haftanstalten die vollstreckenden Justizbehörden dazu, die Übergabe der betreffenden Person zu verweigern?

    2.

    Aus Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 2 ) ergibt sich nämlich, dass er „nicht die Pflicht [berührt], die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten“.

    3.

    Dahinter steht die Frage, ob das Gewicht des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung an eine Grenze stößt, wenn das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten aufgrund einer potenziellen Beeinträchtigung der Grundrechte, deren Achtung von ihnen erwartet wird, gestört ist.

    4.

    Die gegenseitige Anerkennung, die gerade durch den Europäischen Haftbefehl selbst umgesetzt wird, ist aber nach einer gängigen Formulierung der „Eckstein“ ( 3 ) des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dessen Schaffung sich die Europäische Union in den Verträgen zum Ziel gesetzt hat.

    5.

    Der Gerichtshof wird daher hier eine Abwägung zwischen der Achtung der Grundrechte der übergebenen Person und der absoluten Notwendigkeit der Verwirklichung dieses gemeinsamen Raums, insbesondere durch den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, vorzunehmen haben. Ihm wird sich somit die Frage stellen, ob die von ihm für andere Bereiche des Unionsrechts herausgearbeiteten Grundsätze, wie sie im Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) in Bezug auf das Gemeinsame Europäische Asylsystem enthalten sind, auf den speziellen Mechanismus des Europäischen Haftbefehls übertragen werden können, wobei die Gefahr besteht, diesen Mechanismus zu blockieren, eine Straftat ungeahndet zu lassen und äußerst schwerwiegende Folgen für die vollstreckenden Justizbehörden herbeizuführen.

    6.

    In Wirklichkeit scheint mir die Lösung aus dem Gleichgewicht des durch den Europäischen Haftbefehl geschaffenen Systems ableitbar zu sein, aus dem heute die Konsequenzen zu ziehen sind. Unter Aufrechterhaltung des ihm durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung verliehenen Gewichts ist die Lösung der impliziten oder expliziten Bezugnahme auf bestimmte tragende Grundsätze und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts, dem Rahmenbeschluss zu entnehmen.

    7.

    Ich werde erläutern, weshalb die ausstellenden Justizbehörden, wenn sie mit einer allgemeinen Überbelegung der Haftanstalten konfrontiert sind, die grundrechtswidrige materielle Haftbedingungen zur Folge hat, verpflichtet sind, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, um das Erfordernis des Erlasses eines Europäischen Haftbefehls im Hinblick sowohl auf die Art der Straftat als auch auf die konkreten Modalitäten der Strafvollstreckung anzupassen.

    8.

    Da der Europäische Haftbefehl ein insbesondere hinsichtlich der Voraussetzungen für seinen Erlass durch das Unionsrecht geschaffenes und geregeltes Instrument ist, müssen sich die Justizbehörden, die ihn erlassen wollen, nicht nur vergewissern, dass er die inhaltlichen und formalen Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses erfüllt, sondern auch, dass er im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeht. Eine solche, die bessere Handhabung der Voraussetzungen und insbesondere der Folgen der Übergabe der gesuchten Person ermöglichende Prüfung ist so zu verstehen, dass sie im weiteren Sinne zu den Pflichten gehört, die dem Ausstellungsmitgliedstaat in Bezug auf die Wahrung der Grundrechte der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls übergebenen Person obliegen, und folglich als Garantie des Vertrauensvorschusses, den ihm die vollstreckenden Justizbehörden entgegenbringen müssen.

    9.

    Schließlich werde ich darlegen, dass diese Prüfung der Verantwortung Rechnung tragen muss, die den Ausstellungsmitgliedstaat hinsichtlich der Wahrung der Grundrechte von Häftlingen nicht nur aufgrund von Art. 6 EUV, sondern auch aufgrund des grundsätzlichen Vorrangs des Unionsrechts und der Pflicht des Mitgliedstaats zu loyaler Zusammenarbeit trifft, sowie den Maßnahmen, die der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission notwendigerweise ergreifen müssen, um die Wirksamkeit des Systems zu stärken.

    II – Rechtlicher Rahmen

    10.

    Vor der Analyse der Probleme, die die dem Gerichtshof vorgelegten Fragen aufwerfen, sind zunächst die tragenden Grundsätze anzugeben, auf die sich meine Analyse stützen wird. Sie sind in den Verträgen zu finden.

    A – Die Verträge

    11.

    Nach den Art. 3 Abs. 2 EUV und 67 Abs. 1 AEUV besteht das Ziel der Union darin, als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts fortzubestehen und sich weiterzuentwickeln, in dem unter Achtung der Grundrechte jedes Einzelnen der freie Personenverkehr durch den Erlass geeigneter Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität gewährleistet wird.

    12.

    Zu diesem Zweck sieht Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV vor, dass die Union „die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an[erkennt], die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union [(im Folgenden: Charta)] niedergelegt sind“.

    13.

    Art. 6 Abs. 3 EUV lautet: „Die Grundrechte, wie sie in der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten [(im Folgenden: EMRK)] gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“

    14.

    In Titel V („Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags heißt es in Art. 82 AEUV, dass „[d]ie justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union … auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung [beruht]“. Dieser Grundsatz stellt wie gesagt den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten dar.

    B – Der Rahmenbeschluss

    15.

    Der durch den Rahmenbeschluss eingeführte Europäische Haftbefehl wurde geschaffen, um den klassischen Mechanismus der Auslieferung, die eine Entscheidung der Exekutive erfordert, durch ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Justizbehörden zu ersetzen, das auf den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten beruht ( 4 ).

    16.

    Mit dem Rahmenbeschluss wird ein neues vereinfachtes und wirksameres System der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, eingeführt ( 5 ), wobei die Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung stark eingeschränkt und Fristen für den Erlass von Entscheidungen in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl festgelegt werden ( 6 ).

    17.

    Durch die Einführung eines Verfahrens, das wirksamer und effizienter sein soll als das frühere Verfahren, stellt der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zunächst und vor allem einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung krimineller Aktivitäten in der Union dar. Indem er gewährleistet, dass Personen, die in einem der Mitgliedstaaten eine Straftat begangen haben, verfolgt, vor Gericht gestellt und verurteilt werden, stellt er heute eine wichtige Absicherung für die Abschaffung der Binnengrenzen in der Union dar und stärkt zudem den Schutz der Opfer von Straftaten, da er zum einen dafür sorgt, dass die Täter für die begangenen Taten vor Gericht gestellt und verurteilt werden können, und zum anderen dafür, dass sie schneller und wirksamer der Justiz zugeführt werden können.

    18.

    In den Erwägungsgründen 10 bis 13 des Rahmenbeschlusses heißt es:

    „(10)

    Grundlage für den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls ist ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten. Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 [EU] enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 [EU] mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird[ ( 7 ) ].

    (11)

    Der Europäische Haftbefehl soll in den Beziehungen zwischen Mitgliedstaaten alle früheren Instrumente bezüglich der Auslieferung ersetzen, einschließlich der Bestimmungen von Titel III des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, die die Auslieferung betreffen.

    (12)

    Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EU] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen.

    (13)

    Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

    19.

    Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses lautet:

    „(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

    (2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

    (3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

    20.

    Die Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses befassen sich mit den Gründen, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist oder abgelehnt werden kann.

    III – Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

    21.

    Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen sind im Rahmen der von der Generalstaatsanwaltschaft Bremen vorgenommenen Prüfung der Zulässigkeit einer Übergabe von Herrn Aranyosi und Herrn Căldăraru an die Justizbehörden ihres Herkunftsmitgliedstaats vorgelegt worden ( 8 ).

    22.

    Im Rahmen der Rechtssache Aranyosi (C‑404/15) sind die deutschen Justizbehörden mit einem Ersuchen um Übergabe des Betroffenen befasst, das auf zwei Europäischen Haftbefehlen beruht, die am 4. November 2014 und am 31. Dezember 2014 vom Miskolci járásbíróság (Distriktgericht Miskolc, Ungarn) zum Zweck der Strafverfolgung erlassen wurden. Herr Aranyosi ist ein ungarischer Staatsangehöriger, der derzeit mit seiner Mutter in Bremerhaven (Deutschland) wohnt und dort eine Lebensgefährtin und ein kleines Kind hat.

    23.

    Ihm wird zum einen zur Last gelegt, bei einem Einbruch in ein Wohnhaus in Sajohidveg (Ungarn) 2500 Euro und 100000 ungarische Forint (HUF) (etwa 313 Euro) in bar sowie verschiedene Wertgegenstände entwendet zu haben; zum anderen soll er in eine Schule in Sajohidveg eingedrungen sein, dort Sachschäden verursacht haben und technische Geräte sowie Bargeld in Höhe von 244000 HUF (etwa 760 Euro) entwendet haben.

    24.

    Im Rahmen der Rechtssache Căldăraru (C‑659/15 PPU) sind die deutschen Justizbehörden mit einem Ersuchen um Übergabe des Betroffenen befasst, das auf einem am 29. Oktober 2015 von der Judecătoria Făgăraş (Gericht erster Instanz Fagaras, Rumänien) zum Zweck der Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten erlassenen Europäischen Haftbefehl beruht. Herr Căldăraru ist ein rumänischer Staatsangehöriger.

    25.

    Nachdem er am 17. Dezember 2013 wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt worden war, beging er am 5. August 2014, als er sich zum Wohnort seines Vaters begeben wollte, das gleiche Delikt.

    26.

    Herr Căldăraru wurde am 8. November 2015 in Bremen (Deutschland) festgenommen und befindet sich in Auslieferungshaft.

    27.

    Bei ihrer Vernehmung widersprachen Herr Aranyosi und Herr Căldăraru ihrer Übergabe an die ausstellenden Justizbehörden und erklärten sich nicht mit der Übergabe im vereinfachten Verfahren einverstanden.

    28.

    In beiden Rechtssachen fragte die Generalstaatsanwaltschaft Bremen bei den ausstellenden Justizbehörden an, in welcher Haftanstalt die Betroffenen im Fall der Übergabe inhaftiert würden, wobei sie auf nicht den europäischen Mindeststandards genügende Haftbedingungen Bezug nahm. Keine dieser Behörden konnte dazu Angaben machen, so dass sich für die Generalstaatsanwaltschaft Bremen die Frage stellte, ob die Übergaben angesichts des Wortlauts von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses und der Bestimmungen von § 73 IRG ( 9 ) zulässig sind.

    29.

    Die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen stehen daher in einem ganz speziellen Kontext, der durch Feststellungen gekennzeichnet ist, die nicht vom Europäischen Rat in Anwendung des in Art. 7 EUV vorgesehenen und im zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ausdrücklich angesprochenen Sanktionsmechanismus getroffen wurden, sondern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

    30.

    In seinem Urteil Iavoc Stanciu/Rumänien ( 10 ) und in seinem Piloturteil ( 11 ) Varga u. a./Ungarn ( 12 ) hat er nämlich festgestellt, dass eine allgemeine Funktionsstörung im rumänischen und im ungarischen System von Haftanstalten bestehe, die u. a. zu einer allgemeinen Überbelegung geführt habe und aufgrund deren die Inhaftierten während ihrer Haft unter Verstoß gegen die Art. 2, 3 und 5 EMRK einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt seien oder ausgesetzt zu sein drohten.

    31.

    In Anbetracht dessen, dass in Rumänien bis zu zehn Inhaftierte auf 9 m2 untergebracht sein können und somit über einen Lebensraum von weniger als 2 m2 verfügen und dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte insoweit mit mehreren Hundert Individualbeschwerden befasst ist, kommen wir nicht umhin, uns im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte der übergebenen Person die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu stellen, sei er zum Zweck der Strafverfolgung oder zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassen worden.

    32.

    Diese Feststellung wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bereits in den drei die Italienische Republik, die Republik Bulgarien und Ungarn betreffenden Piloturteilen getroffen ( 13 ).

    33.

    Seine Rechtsprechung zeugt aber auch davon, dass es in den Haftanstalten der 47 Mitgliedstaaten des Europarats, zu denen auch die Mitgliedstaaten der Union gehören, wiederkehrende Probleme gibt.

    34.

    In Rechtssachen, die die Republik Litauen, die Republik Polen und die Republik Slowenien betrafen ( 14 ), hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Überbelegung von Haftanstalten ein solches Ausmaß erreicht habe, dass dieser Faktor für sich genommen ausreichen könne, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu bejahen. Zudem hat er, auch wenn hierzu kein Piloturteil ergangen ist, festgestellt, dass die Probleme infolge der Überbelegung von Haftanstalten in Belgien strukturellen, über die besondere Lage des konkreten Beschwerdeführers hinausgehenden Charakter hätten ( 15 ).

    35.

    Im Jahr 2011 haben das Europäische Parlament und die Kommission ihre Besorgnis über mögliche Beeinträchtigungen des gegenseitigen Vertrauens und der Funktionsfähigkeit der Instrumente zur gegenseitigen Anerkennung im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durch die Haftbedingungen in den genannten Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht ( 16 ).

    36.

    Fünf Jahre nach dieser Feststellung ist der Gerichtshof heute durch die vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen mit der Frage befasst.

    37.

    Da das Hanseatische Oberlandesgericht in Bremen es für erforderlich hielt, den Gerichtshof um die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses zu ersuchen, hat es nämlich beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass eine Auslieferung zum Zwecke der Strafverfolgung (Rechtssache C‑404/15) oder der Strafvollstreckung (Rechtssache C‑659/15 PPU) unzulässig ist, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat die Grundrechte der betroffenen Person und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, verletzen, oder ist er so auszulegen, dass der Vollstreckungsstaat in diesen Fällen die Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung von einer Zusicherung der Einhaltung von Haftbedingungen abhängig machen kann oder muss? Kann oder muss der Vollstreckungsstaat dazu konkrete Mindestanforderungen an die zuzusichernden Haftbedingungen formulieren?

    2.

    Sind Art. 5 und Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses so auszulegen, dass die ausstellende Justizbehörde auch berechtigt ist, Zusicherungen über die Einhaltung von Haftbedingungen zu machen, oder verbleibt es insoweit bei der innerstaatlichen Zuständigkeitsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats?

    38.

    Auch wenn sich die Fragen in der Rechtssache C‑404/15 auf die Vollstreckung eines zum Zweck der Strafverfolgung erlassenen Europäischen Haftbefehls beziehen, während die Fragen in der Rechtssache C‑659/15 PPU die Vollstreckung eines zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassenen Europäischen Haftbefehls betreffen, bietet es sich an, sie gemeinsam zu prüfen, da sie auf der gleichen Problematik beruhen. Außerdem werde ich die beiden vorgelegten Fragen zusammen prüfen, weil sie einander ergänzen und in Verbindung miteinander stehen.

    IV – Vorbemerkungen zu den Schwierigkeiten, die eine Übertragung der im Urteil N. S. u. a. herausgearbeiteten Grundsätze aufwirft

    39.

    Mehrere Mitgliedstaaten schlagen eine Übertragung des vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) ( 17 ) herausgearbeiteten Grundsatzes vor. Es trifft zu, dass sich dieser Gedanke recht spontan einstellt, aufgrund einer Sachverhaltsanalogie, die – wie der Baum, der den Wald verdeckt – die Aufmerksamkeit und den Gedankengang auf sich zieht.

    40.

    Diese Analogie beruht darauf, dass es in der Rechtssache, in der das genannte Urteil ergangen ist, wie in den vorliegenden Rechtssachen einen vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte aufgrund bei ihm eingelegter Individualbeschwerden festgestellten systemischen Mangel in dem Mitgliedstaat gab, in dem der Asylbewerber im Fall der Abschiebung inhaftiert werden sollte.

    41.

    Im Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) hat der Gerichtshof entschieden, dass die Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, verpflichtet sind, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen aufgrund der Instrumente, über die sie verfügen, nicht verborgen geblieben sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geeignet sind, den Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta auszusetzen ( 18 ).

    42.

    Nach den in diesem Urteil angestellten Erwägungen muss der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Asylbewerber befindet, den Asylantrag selbst prüfen, wenn der „zuständige Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 keine hinreichenden Garantien in Bezug auf die Haftbedingungen bietet.

    43.

    So verlockend diese Lösung, insbesondere aufgrund ihrer Einfachheit, auch sein mag, scheint mir das genannte Urteil doch nicht analog auf die Auslegung der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses anwendbar zu sein.

    44.

    Verschiedene Gründe dürften nämlich dagegen sprechen.

    45.

    Zunächst handelt es sich bei dem vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) herausgearbeiteten Grundsatz um eine Übertragung des tragenden Grundsatzes für die Vorschriften über die Abschiebung und die Ausweisung im Rahmen des Asylrechts auf Unionsebene. Dieser Grundsatz, wonach niemand in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden darf, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht, ist in Art. 19 Abs. 2 der Charta und in Art. 3 EMRK verankert.

    46.

    Im Rahmen des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls wird die Übertragung dieses Grundsatzes jedoch vom Unionsgesetzgeber durch den Wortlaut des 13. Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses mit Bedacht ausgeschlossen.

    47.

    Dieser Erwägungsgrund lautet: „Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

    48.

    Von der „übergebenen“ Person ist keine Rede. Da mit diesem Begriff der wesentliche und durch den Europäischen Haftbefehl neu geschaffene Mechanismus bezeichnet wird, ist es aber unwahrscheinlich, dass der Unionsgesetzgeber seine Erwähnung versäumt haben sollte, wenn er das Verfahren der Übergabe einer Person aufgrund eines Europäischen Haftbefehls den im betreffenden Erwägungsgrund genannten Grundsätzen hätte unterwerfen wollen. Damit hat der Unionsgesetzgeber klar zwischen den Vorschriften für den Europäischen Haftbefehl und denen für das Gemeinsame Europäische Asylsystem unterschieden. Er hat ferner klar seinen Willen zum Ausdruck gebracht, mit den herkömmlichen Auslieferungsregeln zu brechen, was voll und ganz gerechtfertigt ist, wenn an ihre Stelle eine auf gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen beruhende justizielle Zusammenarbeit treten soll ( 19 ).

    49.

    Ferner werden mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem und dem Mechanismus des Europäischen Haftbefehls, auch wenn beide an der Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts teilhaben, verschiedene Ziele verfolgt, und sie weisen jeweils besondere Merkmale auf, die sich aus speziellen Vorschriften und Grundsätzen ergeben.

    50.

    Erstens beruht das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf einem Gesamtsystem auf Unionsebene harmonisierter Vorschriften. Das materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht sind hingegen in der Union nicht umfassend harmonisiert worden und unterliegen nach wie vor der Territorialität des Strafrechts.

    51.

    Zweitens soll das Gemeinsame Europäische Asylsystem einen Raum des Schutzes und der Solidarität für Personen bieten, die vor Verfolgungen oder schweren Angriffen auf ihre Person flüchten und internationalen Schutz begehren. Der Europäische Haftbefehl soll dagegen die Bekämpfung krimineller Aktivitäten in der Union gewährleisten, indem er es ermöglicht, dass Straftäter verfolgt, vor Gericht gestellt und verurteilt werden.

    52.

    Drittens beruht das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf einem Prüfverfahren rein administrativer Art, in dem es darum geht, ob die betreffende Person Anspruch auf den Flüchtlingsstatus hat und, wenn nein, um ihre Abschiebung aus dem Hoheitsgebiet der Union. Der Europäische Haftbefehl ist Teil eines rein unionsinternen Mechanismus und beruht überdies auf einem Verfahren ausschließlich justizieller Art. Nicht ein Mitgliedstaat, sondern ein nationales Gericht verlangt die Inhaftnahme einer Person, und der Rahmenbeschluss schreibt unter bestimmten Voraussetzungen, d. h. bestimmten Vorbehalten, den anderen Mitgliedstaaten vor, diesem Ersuchen nachzukommen.

    53.

    Viertens stellt im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Inhaftnahme für den verantwortlichen Mitgliedstaat das letzte, völlig subsidiäre Mittel dar, anknüpfend an das Erfordernis, die zwangsweise Abschiebung zu gewährleisten. Die mit dem Europäischen Haftbefehl verbundene Inhaftierung ist dagegen die Regel und ergibt sich aus einer gerichtlichen Entscheidung, mit der ein Straftäter verurteilt oder mit Zwangsmitteln veranlasst wird, vor Gericht zu erscheinen, um dort abgeurteilt zu werden.

    54.

    Schließlich ist zu berücksichtigen, was eine Anwendung des Urteils N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) auf den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls bedeuten würde, welche ganz konkreten Folgen sie hätte und welche Grenzen es für sie unter Berücksichtigung der Rolle und der Befugnisse des Mitgliedstaats im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gibt.

    55.

    Im Rahmen der Rechtssache, in der das Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) ergangen ist, ging es darum, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zuständig war. Ganz konkret hatte die vom Gerichtshof gewählte Lösung lediglich zur Folge, dass von den zuständigen Behörden des Vereinigten Königreichs und Irlands verlangt wurde, im Einklang mit den in der Verordnung genannten Kriterien einen anderen „zuständigen Mitgliedstaat“ zu bestimmen oder den Asylantrag selbst zu bearbeiten, indem sie gegebenenfalls die Abschiebung der Betroffenen aus ihrem Hoheitsgebiet fordern. Es handelte sich somit darum, eine Ausnahme von einer örtlichen Zuständigkeitsregel vorzusehen, die aufgestellt wurde, um die Last der Verwaltungsverfahren anhand inhaltlicher, allen Mitgliedstaaten gemeinsamer Kriterien aufzuteilen.

    56.

    Im Rahmen der Ausgangsverfahren geht es um etwas ganz anderes, und zwar darum, die öffentliche Ordnung und die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten, indem die strafrechtliche Verfolgung von Herrn Aranyosi und die Vollstreckung einer gegen Herrn Căldăraru verhängten Freiheitsstrafe ermöglicht werden.

    57.

    Auch die praktischen Konsequenzen sind von ganz anderer Tragweite, denn auf der Grundlage der vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) aufgestellten Grundsätze wären die vollstreckenden Justizbehörden verpflichtet, die Übergabe der gesuchten Person zu verweigern.

    58.

    Im Gegensatz zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, das wie gesagt weitgehend harmonisiert ist, sind das materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht in der Union aber nicht umfassend harmonisiert worden und unterliegen nach wie vor der Territorialität des Strafrechts.

    59.

    Dies bedeutet, dass im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der zum Zweck der Strafverfolgung erlassen wurde, die Übertragung des vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) herausgearbeiteten Grundsatzes dazu führt, dass die vollstreckenden Justizbehörden die gesuchte Person nicht mehr zum Zweck der Strafverfolgung übergeben können und grundsätzlich auch nicht befugt sind, sie anstelle der ausstellenden Justizbehörden zu verfolgen. Wie sich aus der Vorlageentscheidung in der Rechtssache C‑404/15, insbesondere aus den Ausführungen der Kreisstaatsanwaltschaft Miskolc, ergibt, fallen die Aufklärung der Straftat und die Wahl der anzuwendenden Sanktionen in den unentziehbaren Kompetenzbereich der ungarischen Justizbehörden.

    60.

    Somit besteht eine klare und offenkundige Gefahr, dass die Straftat ungeahndet bleibt und dass der Täter erneut straffällig wird, was die Rechte und Freiheiten der übrigen Unionsbürger beeinträchtigen würde.

    61.

    Im Rahmen der Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ergangenen Europäischen Haftbefehls mag das Problem weniger heikel erscheinen, denn wenn die gesuchte Person ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat hat, könnten sich die Justizbehörden dieses Staates gegebenenfalls nach Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses verpflichten, die Strafe zu vollstrecken. Die ausstellenden Justizbehörden könnten sich auch ihrerseits auf den Rahmenbeschluss 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union ( 20 ) stützen, damit der Betreffende seine Strafe im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats verbüßen kann.

    62.

    Auch wenn eine solche Lösung in Betracht kommt, ändert dies nichts daran, dass die Anwendung des vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) herausgearbeiteten Grundsatzes auf den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls zu einer unterschiedlichen Behandlung und damit zu einem Verstoß gegen den Gleichheitssatz führt, je nachdem, ob die gesuchte Person verfolgt wird oder bereits verurteilt wurde.

    63.

    Überdies lässt sich nicht ausschließen, dass eine solche Lösung die zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe gesuchten Personen letztlich dazu ermuntert, sich in andere Mitgliedstaaten zu begeben, um der Verfolgung zu entgehen oder um dort ihre Strafe verbüßen zu können. Diese Staaten würden damit zu Zufluchtsstaaten, wie die Generalstaatsanwaltschaft Bremen im Übrigen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof ausdrücklich hervorgehoben hat. Wie soll verhindert werden, dass Letztere ihrerseits in Schwierigkeiten geraten und auch dort Missstände auftreten? Vermutlich werden sie sich dem dadurch entziehen, dass sie die Strafen, bei denen sie die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt haben, nicht vollstrecken. Solche Konsequenzen müssen gründlich überdacht werden.

    64.

    Hinzu kommt noch, dass die Mitgliedstaaten, in denen nach den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder der Kommission unzulängliche Haftbedingungen herrschen, ihrer Zahl nach zu urteilen ideale Zufluchtsorte sein dürften. Da sie bereits überlastet sind, besteht wenig Aussicht, dass sie die Belegungsrate ihrer Haftanstalten weiter erhöhen werden, indem sie Personen aufnehmen, die von den Justizbehörden anderer Mitgliedstaaten verurteilt wurden.

    65.

    Angesichts all dieser Erwägungen ist daher festzustellen, dass einer Übertragung des vom Gerichtshof in seinem Urteil N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865) herausgearbeiteten Grundsatzes große, mit dem Wesen und den Zielen des Europäischen Haftbefehls verbundene Hindernisse entgegenstünden und dass sie zudem nicht nur zu einer Paralysierung des durch den Rahmenbeschluss geschaffenen Mechanismus führen würde, sondern auch äußerst schwerwiegende und nachteilige Konsequenzen für die vollstreckenden Justizbehörden hätte; ich werde darauf zurückkommen.

    V – Analyse

    66.

    Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob nach Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses die einen Europäischen Haftbefehl vollstreckende Justizbehörde verpflichtet ist, die gesuchte Person zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel zu übergeben, wenn die Möglichkeit besteht, dass sie im Ausstellungsmitgliedstaat unter materiellen Bedingungen inhaftiert wird, die ihre Grundrechte verletzen, und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Formalitäten.

    67.

    Das vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem knüpft nicht an einen die Gültigkeit des Europäischen Haftbefehls als solche berührenden Mangel oder an einen Mangel des Ermittlungsverfahrens, des Urteils oder der im Ausstellungsmitgliedstaat bestehenden Rechtsmittel an. Der Mangel betrifft die Haftbedingungen in diesem Staat, also eine Phase nach der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Dieser Mangel birgt eine Gefahr, und zwar die, dass die übergebene Person materiellen Haftbedingungen unterworfen wird, die gegen die Garantien von Art. 4 der Charta verstoßen.

    68.

    Das vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem knüpft somit an eine klassische Problematik der Abwägung zwischen verschiedenen grundlegenden Zielen, das Erfordernis ihrer Erreichung und die Möglichkeit an, sie zu erreichen, ohne die Garantien, die aus der Union einen Raum des Rechts und der Freiheit machen, zu verleugnen oder auch nur zu schwächen.

    69.

    Zunächst werde ich eine klassische Analyse des Wortlauts von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, seiner Systematik und der Leitprinzipien, auf denen er beruht, vornehmen. Am Ende dieser Prüfung werde ich zu dem Schluss kommen, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses nicht als Grund für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls angesehen werden kann.

    70.

    Ich werde jedoch nicht zu dem Schluss kommen, dass eine uneingeschränkte Übergabepflicht besteht, wenn die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu Resultaten wie den vom vorlegenden Gericht beschriebenen führen könnte.

    71.

    Anschließend werde ich nämlich die Gründe erläutern, aus denen eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit geboten ist, wenn die Justizbehörde trotz des Platzmangels in den Haftanstalten des Staates und seiner zahlreichen Verurteilungen aufgrund grundrechtswidriger materieller Haftbedingungen beschließt, wegen geringfügiger Straftaten einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen.

    A – Der Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses

    72.

    Art. 1 des Rahmenbeschlusses trägt die Überschrift „Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“.

    73.

    Der Unionsgesetzgeber definiert somit in Art. 1 Abs. 1 den Gegenstand des Europäischen Haftbefehls und stellt in Abs. 2 den Grundsatz auf, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihn im Einklang mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu vollstrecken.

    74.

    Mit Art. 1 Abs. 3, wonach der Rahmenbeschluss „nicht die Pflicht [berührt], die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten“, weist der Unionsgesetzgeber lediglich alle Mitgliedstaaten darauf hin, dass sie nach der letztgenannten Bestimmung verpflichtet sind, die Grundrechte zu achten.

    75.

    In dieser Verpflichtung kommt, wie wir sehen werden, der vom Gerichtshof in seinem Gutachten 2/13 (EU:C:2014:2454) angesprochene Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten zum Ausdruck.

    76.

    Der Unionsgesetzgeber nennt somit in Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses die Grundsätze, auf denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls beruht, und zwar den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen und den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten.

    77.

    Die Abs. 2 und 3 ergänzen sich, da die beiden darin aufgestellten Grundsätze insofern untrennbar miteinander verbunden sind, als der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf dem Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf beruht, dass jeder von ihnen das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte achten wird.

    78.

    In Anbetracht dessen kann Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses nicht dahin ausgelegt werden, dass mit ihm eine Ausnahme vom Grundsatz der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls geschaffen werden soll.

    B – Zum Aufbau des Systems

    79.

    Eine Auslegung von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses, wonach er es der vollstreckenden Justizbehörde ermöglicht, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls mit der Begründung abzulehnen, dass die gesuchte Person materiellen Haftbedingungen ausgesetzt sein könnte, die ihre Grundrechte verletzen, würde zudem in offenkundigem Widerspruch zum Aufbau des Systems stehen.

    80.

    Zum einen hätte eine solche Auslegung zur Folge, dass ein vom Unionsgesetzgeber offenkundig nicht vorgesehener Ablehnungsgrund geschaffen würde.

    81.

    Dies würde somit nicht nur dem vom Unionsgesetzgeber klar zum Ausdruck gebrachten Willen zuwiderlaufen, aus Gründen der Rechtssicherheit die Fälle, in denen die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zulässig ist, abschließend aufzuzählen, sondern auch der Rechtsprechung des Gerichtshofs, der den Rahmenbeschluss und insbesondere die in seinen Art. 3 bis 4a vorgesehenen Ablehnungsgründe ganz eng auslegt.

    82.

    Zum anderen hätte eine solche Auslegung zur Folge, dass ein systematischer Ablehnungsgrund für die Vollstreckung der von Mitgliedstaaten, die mit erheblichen Schwierigkeiten bei der Funktionsfähigkeit ihrer Haftanstalten zu kämpfen haben, erlassenen Europäischen Haftbefehle geschaffen würde, der neben den im Rahmen des zehnten Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses ausdrücklich genannten Grund träte.

    83.

    In diesem Erwägungsgrund sieht der Unionsgesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit vor, den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber einem Mitgliedstaat auszusetzen, wenn dieser in schwerer und anhaltender Weise die in Art. 6 Abs. 1 EU enthaltenen Grundsätze verletzt.

    84.

    Die „anhaltende“ Verletzung wird von der Kommission definiert als das „wiederholte Auftreten der Verletzung im Einzelfall“ ( 21 ), wobei ihres Erachtens zu berücksichtigen ist, dass „ein Staat mehrfach wegen derselben Art von Verletzung innerhalb eines bestimmten Zeitraums von einem internationalen Gericht wie dem [Europäischen] Gerichtshof für Menschenrechte … verurteilt wurde, ohne dass er die Absicht bekundet hätte, die sich daraus ergebenden praktischen Konsequenzen zu ziehen“ ( 22 ).

    85.

    Für mich steht außer Frage, dass hier ein solcher Fall vorliegt.

    86.

    Nach dem zehnten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses hält der Unionsgesetzgeber jedoch ein Tätigwerden der politisch Verantwortlichen für erforderlich, um den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls auszusetzen, denn allein der Europäische Rat kann nach Art. 7 Abs. 2 EU das Verfahren zur Aussetzung bestimmter Rechte des betreffenden Mitgliedstaats initiieren. Das Verfahren ist aber schwerfällig und komplex, da der Europäische Rat auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Kommission einstimmig entscheiden muss, und erfordert fraglos einen starken politischen Willen.

    87.

    Der Unionsgesetzgeber wollte dadurch, dass er allein dem Europäischen Rat die Möglichkeit vorbehielt, den Mechanismus des Europäischen Haftbefehls mittels des in Art. 7 Abs. 2 EU vorgesehenen Sanktionsmechanismus auszusetzen, diese Möglichkeit stark einschränken, und er wollte es offensichtlich nicht den vollstreckenden Justizbehörden überlassen, unter solchen Umständen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen.

    88.

    Hätte er eine solche Befugnis einräumen wollen, hätte es dafür überdies etliche Gelegenheiten gegeben.

    89.

    Zunächst hätte der Unionsgesetzgeber sich dazu im Rahmen des zehnten Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses äußern können.

    90.

    Sodann hätte er den im 13. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses wiedergegebenen tragenden Grundsatz für die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung analog anwenden können, der – wie bereits ausgeführt – lautet: „Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“

    91.

    Der Wortlaut dieses Erwägungsgrundes wurde mit Bedacht gewählt, denn von der aufgrund eines Europäischen Haftbefehls „übergebenen“ Person ist dort keine Rede. Meines Erachtens kommt darin der Wille zum Ausdruck, zwischen den Regeln für den Europäischen Haftbefehl und den Regeln für das Gemeinsame Europäische Asylsystem zu unterscheiden, sowie der Wille, mit den herkömmlichen Auslieferungsregeln zu brechen, was voll und ganz gerechtfertigt ist, wenn an ihre Stelle eine auf gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen beruhende justizielle Zusammenarbeit treten soll.

    92.

    Schließlich hätte der Unionsgesetzgeber diesen Ablehnungsgrund ausdrücklich in die zwingenden oder fakultativen Gründe der Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses aufnehmen können, hat dies aber nicht getan.

    93.

    In Anbetracht dessen bleibt nur die Feststellung, dass der Unionsgesetzgeber mit dem in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundsatz den vollstreckenden Justizbehörden nicht gestatten wollte, die Übergabe der gesuchten Person unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren abzulehnen.

    C – Zu den Leitprinzipien des Rahmenbeschlusses

    94.

    Der Rahmenbeschluss beruht, wie wir wissen, auf den Grundsätzen der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, die den vollstreckenden Justizbehörden vorschreiben, bei der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls davon auszugehen, dass die ausstellenden Justizbehörden für die Achtung der Grundrechte der übergebenen Person sorgen werden.

    1. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen

    95.

    Der Rückgriff auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ist zur Erreichung des Ziels der Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts geboten, das sich die Union in den Art. 3 Abs. 2 EUV und 82 AEUV gesteckt hat.

    96.

    Da dieser Grundsatz als „Eckstein“ des genannten Raums eingestuft wurde, ist klar, dass die Mitgliedstaaten ihn verwirklichen wollten, ohne notwendigerweise zuvor das nationale Strafrecht harmonisiert zu haben. Die Erfahrungen der Vergangenheit hatten hinreichend gezeigt, dass diese Vorgehensweise, mag die Logik sie auch gebieten, letztlich das sicherste Mittel war, um zu einer Blockade zu kommen. Die Mitgliedstaaten wollten daher diese Blockade durchbrechen und zugleich daran festhalten, dass eine Harmonisierung erforderlich bleiben könnte, die nunmehr allerdings eine rein akzessorische Rolle hat.

    97.

    Dies stellt keineswegs eine Lehrmeinung dar, sondern ergibt sich ganz klar aus dem Wortlaut von Art. 82 Abs. 1 und 2 AEUV.

    98.

    Der Gerichtshof ist dieser Logik, schon bevor der Vertrag von Lissabon abgefasst wurde, voll und ganz gefolgt, als er im Rahmen einer Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem in seinem Urteil Gözütok und Brügge ( 23 ) den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung definierte. Dieser Grundsatz kann nur dann grenzüberschreitend zur Anwendung kommen, wenn die gerichtlichen Entscheidungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht grundsätzlich unbeachtet gelassen und unter den Voraussetzungen und mit den Wirkungen anerkannt werden, die der Gerichtshof festgelegt hat. So impliziert die gegenseitige Anerkennung unabhängig von den Modalitäten der Auferlegung einer Strafe zwingend, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde ( 24 ).

    99.

    Daraus folgt für das Verhältnis zwischen gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen, dass Erstere den Mitgliedstaaten Letzteres auferlegt. Sobald der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zur Anwendung kommt und die „Grundregel“ darstellt, auf der die justizielle Zusammenarbeit beruht ( 25 ), müssen die Mitgliedstaaten sich gegenseitig Vertrauen entgegenbringen.

    100.

    Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass der Wortlaut von Art. 82 AEUV eine implizite Bestätigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs darstellt, die bei der Abfassung des Vertrags von Lissabon leicht hätte revidiert werden können. Bekanntlich bietet Abs. 2 dieses Artikels eine Rechtsgrundlage für eine Annäherung der nationalen Rechtsvorschriften, um die gegenseitige Anerkennung zu erleichtern.

    101.

    Die im Rahmen der Umsetzung des Europäischen Haftbefehls zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen haben es dem Gerichtshof ermöglicht, die zur Errichtung und Aufrechterhaltung des europäischen Strafrechtsraums führenden Regeln festzulegen und dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung sein ganzes Gewicht und seine volle Bedeutung zu verleihen.

    102.

    Seit seinem Urteil Gözütok und Brügge ( 26 ) hat der Gerichtshof diesen Grundsatz stets sehr eng ausgelegt, insbesondere hinsichtlich des Automatismus der Übergabe einer gesuchten Person, wenn keine Ausnahme von dieser Übergabe in Betracht kommt; dabei hat er sich auf eine äußerst strenge Anwendung der Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens und auf die Förderung des wirksamen und schnellen Funktionierens des im Rahmenbeschluss vorgesehenen Übergabemechanismus gestützt.

    103.

    Verlangt die Justizbehörde eines Mitgliedstaats die Übergabe einer Person aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung oder weil sie strafrechtlich verfolgt wird, muss ihre Entscheidung folglich vom Vollstreckungsmitgliedstaat automatisch anerkannt werden, und er ist nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses verpflichtet, dem Haftbefehl Folge zu leisten, sofern keiner der in den Art. 3 bis 4a abschließend vorgesehenen Ablehnungsgründe vorliegt ( 27 ). Außerdem darf der Vollstreckungsmitgliedstaat die Vollstreckung des Haftbefehls nur von den in Art. 5 des Rahmenbeschlusses festgelegten Bedingungen abhängig machen.

    104.

    So hat der Gerichtshof nach einer gängigen Formulierung, um „die Übergabe gesuchter Personen gemäß dem … Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung … zu erleichtern“ ( 28 ) und um „das mit [dem] Rahmenbeschluss im Sinne eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts errichtete System der Übergabe“ zu stärken ( 29 ), in seinem Urteil Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616) die Mitgliedstaaten dazu angehalten, die Fälle, in denen sie die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen können, möglichst zu begrenzen, und sie aufgefordert, von den ihnen durch Art. 4 des Rahmenbeschlusses in Bezug auf fakultative Ablehnungsgründe eingeräumten Möglichkeiten nicht zwingend Gebrauch zu machen, so bedeutsam die mit diesem Artikel angestrebten Ziele auch sein mögen ( 30 ). Dabei hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Mitgliedstaaten trotz der Bedeutung des Ziels einer Resozialisierung der gesuchten Person ( 31 ), auf das in Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses abgestellt wird ( 32 ), die Möglichkeit haben müssen, im Einklang mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung die Fälle zu begrenzen, in denen es möglich sein sollte, die Übergabe einer solchen Person abzulehnen.

    105.

    In seinem Urteil West (C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404) hat der Gerichtshof, wiederum zur Erleichterung der Übergabe und zur Stärkung des Systems des Europäischen Haftbefehls, im Kontext aufeinanderfolgender Übergaben derselben Person entschieden, dass sich der Begriff „Vollstreckungsmitgliedstaat“ ausschließlich auf den Mitgliedstaat bezieht, der die letzte Übergabe vorgenommen hat, um die Fälle zu begrenzen, in denen die nationalen Justizbehörden ihre Zustimmung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verweigern können ( 33 ).

    2. Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten

    106.

    Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten gehört mittlerweile zu den tragenden Grundsätzen des Unionsrechts, wie der Vorrangsgrundsatz und der Grundsatz der unmittelbaren Wirkung.

    107.

    In seinem Gutachten 2/13 (EU:C:2014:2454) hat das Plenum des Gerichtshofs bekräftigt, dass diesem Grundsatz, zu dem „das Unionsrecht [die] Mitgliedstaaten … verpflichtet“, „fundamentale Bedeutung“ zukommt, da er „die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht“ und seine Beachtung für „das Gleichgewicht, auf dem die Union beruht“, essenziell ist ( 34 ).

    108.

    In Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts versteht der Gerichtshof diesen Grundsatz so, dass er von jedem Mitgliedstaat verlangt, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die unionsrechtlich anerkannten Grundrechte beachten ( 35 ).

    109.

    Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens hindert daher nach den Ausführungen des Gerichtshofs einen Mitgliedstaat daran, zu prüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat, weil dies „das Gleichgewicht, auf dem die Union beruht, … beeinträchtigen [würde]“ ( 36 ).

    110.

    Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht auf mehreren Faktoren.

    111.

    Erstens erscheint das Vertrauen, das jeder Mitgliedstaat in die jeweiligen strafgerichtlichen Systeme der anderen Mitgliedstaaten haben muss, als logische und völlig unvermeidliche Folge des Wegfalls der Binnengrenzen und der Schaffung eines einheitlichen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

    112.

    Zweitens beruht dieses Vertrauen, wie der Gerichtshof in seinem Gutachten 2/13 (EU:C:2014:2454) ausführt, auf der grundlegenden Prämisse, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte – auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet – wie die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte teilt und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen ( 37 ). So haben alle Mitgliedstaaten, als sie die Europäischen Gemeinschaften gründeten oder ihnen beitraten, dargetan, dass sie Rechtsstaaten sind und die Grundrechte achten.

    113.

    Drittens beruht das Vertrauen darauf, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die in der EMRK, in der Charta oder in ihrem nationalen Recht verankerten Grundrechte zu achten, und zwar auch im Rahmen des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts, die nicht in den Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses und des Unionsrechts fallen ( 38 ).

    114.

    Obwohl das materielle Strafrecht und das Strafverfahrensrecht bislang auf Unionsebene nur in geringem Umfang harmonisiert wurden, konnten sich die Mitgliedstaaten daher davon überzeugen, dass die Bedingungen, unter denen die gesuchten Personen in anderen Mitgliedstaaten verfolgt, verurteilt und gegebenenfalls inhaftiert werden, so beschaffen sind, dass die Rechte dieser Personen beachtet werden und dass sie sich ordnungsgemäß verteidigen können.

    115.

    Aufgrund dieser jedem Mitgliedstaat obliegenden Verpflichtung, die Grundrechte zu achten, müssen die Mitgliedstaaten, wie der Gerichtshof ausführt, darauf vertrauen können, „dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten“ ( 39 ).

    116.

    So hat der Gerichtshof in Anwendung dieser Grundsätze in seinem Urteil F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358) ( 40 ) entschieden, dass es die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats ist, in der Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, etwaige Rechtsschutzmöglichkeiten nutzen können, die es gestatten, die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung oder auch des strafrechtlichen Hauptverfahrens, das zur Verhängung einer solchen Strafe oder Maßregel geführt hat, in Frage zu stellen ( 41 ).

    117.

    Wiederum in Anwendung dieser Grundsätze hat der Gerichtshof im Urteil Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107) ( 42 ) entschieden, dass der Automatismus der Übergabe auch dann gilt, wenn die Verfassungsordnung des Vollstreckungsmitgliedstaats strengere Anforderungen an das Recht auf ein faires Verfahren stellt.

    118.

    Somit ist die vollstreckende Justizbehörde, sobald sie sich nicht auf einen der in den Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses abschließend aufgezählten Ablehnungsgründe stützen kann, verpflichtet, die gesuchte Person den ausstellenden Justizbehörden zu übergeben, selbst wenn die Bestimmungen ihres nationalen Rechts, mögen sie auch Verfassungsrang haben, ein höheres Schutzniveau der Grundrechte vorsehen sollten als die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses.

    119.

    In seinem Urteil in der genannten Rechtssache hat der Gerichtshof daher entschieden, dass die Grundsätze der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens, auf denen der Rahmenbeschluss beruht, verletzt würden und damit dessen Effektivität beeinträchtigt würde, wenn sich ein Mitgliedstaat auf einen höheren Schutzstandard der Grundrechte in seiner Verfassungsordnung berufen könnte, um davon die Übergabe einer in Abwesenheit verurteilten Person abhängig zu machen.

    120.

    Diese die Achtung der Grundrechte betreffende Verpflichtung rechtfertigt dem Gerichtshof zufolge letztlich den Wortlaut des zehnten Erwägungsgrundes des Rahmenbeschlusses, wonach die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nur ausgesetzt werden darf, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 6 Abs. 1 EU enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EU mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EU festgestellt wird ( 43 ).

    121.

    Die genannte Verpflichtung stärkt somit, wiederum dem Gerichtshof zufolge, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls nach Art. 1 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses beruht.

    122.

    Am Ende dieser Analyse ist klar ersichtlich, dass ein auf der Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der übergebenen Person im Ausstellungsmitgliedstaat beruhender Ablehnungsgrund das Vertrauensverhältnis, auf dem die im Rahmenbeschluss vorgesehene Zusammenarbeit zwischen den Gerichten beruhen soll, ernstlich stören und damit den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen untergraben würde.

    123.

    In Anbetracht der Zahl der Mitgliedstaaten, deren System von Haftanstalten eine Funktionsstörung aufweist, und insbesondere eines allgemeinen Problems der Überbelegung von Haftanstalten hätte eine solche Auslegung, wie wir gesehen haben, die Einführung einer systematischen Ausnahme von der Vollstreckung der von diesen Staaten erlassenen Europäischen Haftbefehle zur Folge, was zur Paralysierung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls führen würde.

    124.

    Hinzu kommt, dass die vollstreckenden Justizbehörden die gesuchte Person nicht mehr zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe übergeben könnten.

    125.

    Mit der Paralysierung des Mechanismus des Rahmenbeschlusses würde de facto eines der Ziele des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zunichtegemacht, und zwar das der Bekämpfung krimineller Aktivitäten, nicht nur im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten, sondern auch im Interesse der Opfer, denn wenn der Europäische Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung erlassen wurde, wären die vollstreckenden Justizbehörden wegen des strafrechtlichen Territorialitätsgrundsatzes grundsätzlich nicht befugt, anstelle der ausstellenden Justizbehörde den Betroffenen abzuurteilen. Sollten sie dagegen, wie es hier der Fall zu sein scheint, über diese Befugnis verfügen, wären damit, wie die Generalstaatsanwaltschaft Bremen hervorgehoben hat, unverhältnismäßige Schwierigkeiten und ein unverhältnismäßiger Aufwand verbunden.

    126.

    Zum einen ist es aber, auch im Rahmen der in Art. 4 Abs. 3 EUV angesprochenen Solidaritätspflicht, nicht Sache des Vollstreckungsmitgliedstaats, aufgrund von Funktionsstörungen des Systems der Haftanstalten im Ausstellungsmitgliedstaat für die Vollstreckung der Strafe der gesuchten Person mit den damit verbundenen Belastungen zu sorgen, natürlich abgesehen von dem – in den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses vorgesehenen – Fall, dass dies zur Resozialisierung dieser Person geboten ist. In allen anderen Fällen ist es keine Lösung, die Überbelegung der Haftanstalten eines Mitgliedstaats dadurch zu verringern, dass sie in einem anderen Mitgliedstaat erhöht wird.

    127.

    Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass es sich hier um den Ausschluss eines Risikos handelt und nicht um die Feststellung und Ahndung eines Verstoßes. Zwar stellt die Existenz eines systemischen Mangels einen legitimen Grund dar, nach den Haftbedingungen der übergebenen Personen zu fragen, doch erlaubt es diese zu einem bestimmten Zeitpunkt getroffene Feststellung nicht, a priori eine Verletzung der Grundrechte der übergebenen Personen zu vermuten und die gegenseitige Anerkennung durch die Schaffung eines „systematischen“ Ablehnungsgrundes zu blockieren.

    128.

    Schließlich ein letzter Punkt: Sollte der Gerichtshof im Vorliegen systemischer Mängel der Haftbedingungen einen Grund für die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sehen, wäre dies auch ein Grund für die Ablehnung der Überstellung gemäß dem Rahmenbeschluss 2008/909.

    129.

    In Anbetracht der im Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung enthaltenen oder sich daraus ergebenden Vorgaben haben die vollstreckenden Justizbehörden somit keine anderen Möglichkeiten als die, sich auf die in den Art. 3 bis 4a des Rahmenbeschlusses genannten zwingenden oder fakultativen Ablehnungsgründe zu berufen und, falls keiner von ihnen eingreift, die gesuchten Personen aufgrund des gegenseitigen Vertrauens, das sie den ausstellenden Justizbehörden entgegenbringen müssen, zu übergeben.

    130.

    So gesehen gebietet es daher die Logik des Systems, dem vorlegenden Gericht zu antworten, dass es grundsätzlich verpflichtet ist, die ihm vorgelegten Europäischen Haftbefehle zu vollstrecken.

    131.

    Ist es aber möglich, eine uneingeschränkte Pflicht zur Vollstreckung Europäischer Haftbefehle zu bejahen, auch wenn dies zu unverhältnismäßigen Resultaten wie den in den Vorlageentscheidungen beschriebenen führen würde?

    132.

    Meines Erachtens ist dem nicht so.

    133.

    Unter außergewöhnlichen Umständen ( 44 ) wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die durch systemische, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat gekennzeichnet sind, ist es legitim, wenn die vollstreckende Justizbehörde sich die Frage stellt, ob die übergebene Person Gefahr läuft, tatsächlich unter den vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerügten Bedingungen inhaftiert zu werden.

    134.

    Die vollstreckende Justizbehörde muss daher anhand eines auf der Zusammenarbeit der Gerichte beruhenden Informationsaustauschs beurteilen, ob die übergebene Person im Hinblick auf die Auskünfte der ausstellenden Justizbehörde tatsächlich unter Bedingungen inhaftiert sein wird, die nicht unverhältnismäßig sind.

    D – Zur Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit beim Erlass Europäischer Haftbefehle

    135.

    Offenkundig müssen unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren die Rechte der übergebenen Personen gegen die Erfordernisse des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer abgewogen werden. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil N. (C‑601/15 PPU, EU:C:2016:84) ausgeführt hat, hat nach Art. 6 der Charta jeder Mensch nicht nur das Recht auf Freiheit, sondern auch auf Sicherheit ( 45 ). Dabei handelt es sich, wie bei dem durch Art. 4 der Charta garantierten Recht, um ein absolutes und unabdingbares Recht. Wird die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wegen terroristischer Handlungen oder wegen der Vergewaltigung Minderjähriger gesucht, liegt es auf der Hand, dass das Unterbleiben der Vollstreckung dieses Haftbefehls die Frage nach der erforderlichen Wahrung der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung aufwirft.

    136.

    Diese Abwägung ist somit unerlässlich und gehört in vollem Umfang zur Rolle des ordentlichen Gerichts als Hüter der individuellen Freiheiten, das hier eine echte Wahl treffen muss, und die Abwägung kann meines Erachtens mittels einer Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gewährleistet werden.

    1. Die Tragweite des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

    137.

    Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in dem als „individuelle Strafzumessung“ bezeichneten Rechtsbereich von besonderer Bedeutung.

    138.

    Die individuelle Strafzumessung hat zwei Ebenen: das Stadium der Verkündung der Strafe und das Stadium ihrer Vollstreckung.

    139.

    Im Stadium der Verkündung der Strafe schließt der Grundsatz der individuellen Strafzumessung den Grundsatz der automatischen und gänzlich vorbestimmten Strafe aus. Das Gericht wird die Strafe daher anhand der Persönlichkeit des Täters bestimmen, wie sie sich insbesondere aus der Art der begangenen Straftat, den Tatumständen, der Untersuchung der Persönlichkeit, Zeugenaussagen sowie psychologischen und psychiatrischen Gutachten ergibt, und anhand der aus seiner Persönlichkeit resultierenden Möglichkeiten der Wiedereingliederung.

    140.

    Verhängt das Gericht eine Freiheitsstrafe, muss es bei der Festlegung ihrer Dauer notwendigerweise die Bedingungen der Strafvollstreckung und insbesondere ihre etwaige Härte berücksichtigen. Es gilt nämlich zu verhindern, dass die Inhaftierung der übergebenen Person für sie unverhältnismäßige Folgen hat.

    141.

    In diesem Rahmen ist natürlich der Aufnahmekapazität der Haftanstalten Rechnung zu tragen und gegebenenfalls der Tatsache, dass das System wegen eines Problems der Überbelegung der Haftanstalten keine ordnungsgemäßen Haftbedingungen zu gewährleisten vermag.

    142.

    Der Grundsatz der individuellen Strafzumessung gilt auch und mit gleichem Gewicht im Stadium der Strafvollstreckung. Man spricht dann vom Strafvollzug. Hierbei geht es um die Berücksichtigung der materiellen Haftbedingungen, und zwar aus zwei Hauptgründen, unabhängig von Aspekten, die die Menschenwürde tangieren.

    143.

    Zunächst besteht in der modernen Kriminologie Einigkeit darüber, dass die Unterbringung der Häftlinge auf zu engem Raum unzuträgliche Auswirkungen hat, da es sich um einen für die geistige Gesundheit abträglichen Faktor handelt. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, das sich aus der erlittenen entwürdigenden Behandlung ergibt, verstärkt nur die Entsozialisierung des Inhaftierten und erhöht damit in ganz erheblichem Maß die Rückfallgefahr. Das Ziel der Strafe, das letztlich in der Besserung des Verurteilten und seiner Wiedereingliederung in die Gesellschaft besteht, wird dadurch erheblich beeinträchtigt.

    144.

    Sodann darf die Sanktion nicht zur Erniedrigung werden. Übermäßig harte Haftbedingungen verleihen der Strafe einen Aspekt zusätzlicher Schwere, der vom Gericht nicht gewollt ist und das oben beschriebene Gefühl der Ungerechtigkeit verstärkt.

    145.

    Die gleiche Verhältnismäßigkeit ist beim Erlass eines Europäischen Haftbefehls zum Zweck der Strafverfolgung zu beachten.

    146.

    In dieser Situation ist nämlich bereits die dem Verfolgten zugutekommende Unschuldsvermutung ein Grund, der als solcher zur Mäßigung Anlass gibt. Zudem ist die Inhaftierung infolge der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls in Wirklichkeit mit einer Untersuchungshaft vor der Verurteilung vergleichbar, da ihre Dauer auf die am Ende des Verfahrens verhängte Strafe angerechnet wird. Es ist daher angebracht, einen Europäischen Haftbefehl nur in Fällen zu erlassen, in denen die Verhängung einer Strafe aufgrund der objektiven Natur der begangenen Tat wahrscheinlich ist.

    147.

    Zwar verlangt keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses ausdrücklich eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit jedoch ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, kann er als solcher den Handlungen der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts, zu dem der Rahmenbeschluss gehört, entgegengehalten werden.

    148.

    Außerdem ist der den vollstreckenden Justizbehörden durch die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses eingeräumte Wertungsspielraum nichts anderes als eine Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Diese Freiheit, über die das mit der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls betraute Gericht verfügt, soll der Sache nach eine Anpassung der Zwangsmaßnahme, sei es eine Strafverfolgung oder die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, ermöglichen, um zu verhindern, dass eine automatische und blinde Vollstreckung zu einer Entsozialisierung des Betroffenen führt.

    149.

    In Anbetracht dessen halte ich eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit für geboten.

    150.

    Andere scheinen diesen Standpunkt zu teilen, auch wenn sie ihn auf abweichende Gründe, insbesondere solche der Freizügigkeit, stützen, die aber in Wirklichkeit komplementär sind.

    151.

    So werden die ausstellenden Justizbehörden im Europäischen Handbuch mit Hinweisen zum Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls ( 46 ) ganz klar aufgefordert, eine solche Prüfung vorzunehmen. In Anbetracht der schwerwiegenden Konsequenzen der Vollstreckung eines solchen Haftbefehls in Bezug auf die Beschränkungen der Freizügigkeit der gesuchten Person wird in diesem Handbuch hervorgehoben, dass der Europäische Haftbefehl „effizient, wirksam und verhältnismäßig“ eingesetzt werden sollte, um die Verfolgung „schwerer oder größeren Schaden verursachender Kriminalität“ zu gewährleisten.

    152.

    In seiner Entschließung vom 27. Februar 2014 mit Empfehlungen an die Kommission zur Überprüfung des Europäischen Haftbefehls ( 47 ) hat das Parlament ebenfalls empfohlen, dass die Justizbehörde beim Erlass eines solchen Haftbefehls „sorgfältig die Notwendigkeit der beantragten Maßnahme auf der Grundlage aller relevanten Faktoren und Umstände [überprüft]. Dabei berücksichtigt sie die Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person [und] prüft, ob es eine angemessene, weniger einschneidende Alternativmaßnahme zur Erreichung der angestrebten Ziele gibt …“ ( 48 )

    153.

    In einer großen Zahl von Mitgliedstaaten haben die ausstellenden Justizbehörden diese Prüfung vor dem Erlass eines Europäischen Haftbefehls bereits einbezogen ( 49 ), sei es aufgrund des Rechtsakts zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses ( 50 ) oder aufgrund ihrer Praxis ( 51 ).

    154.

    Ich teile die vom Parlament, vom Rat und von der Kommission vertretene Auffassung, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit beim Erlass des Europäischen Haftbefehls vorzunehmen ist.

    155.

    Schon der Grundgedanke des Systems gebietet es nämlich, dass diese Prüfung der ausstellenden Justizbehörde obliegt, denn der Europäische Haftbefehl muss diese Voraussetzung erfüllen, noch bevor er das nationale Hoheitsgebiet verlässt.

    156.

    Aus verschiedenen Gründen gilt dies aber nicht immer.

    157.

    Einige nationale Rechtsvorschriften verbieten in Anwendung des Legalitätsgrundsatzes u. a. eine solche Prüfung. Dies ist bei Ungarn und Rumänien der Fall ( 52 ), die gehalten waren, diesen Grundsatz bei ihrem Beitritt zur Union strikt anzuwenden.

    158.

    Der genannte Grundsatz verbietet jede Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im Stadium der Entscheidung über die Verfolgung oder die Vollstreckung einer gerichtlichen Entscheidung, um die völlige Unabhängigkeit der Justizbehörde zu gewährleisten. Sein – sehr lobenswertes – Ziel, das auch für die nichtgerichtlichen Justizbehörden gilt, besteht darin, durch seinen Automatismus jeden äußeren Einfluss, insbesondere politischen Ursprungs, auf den Lauf der Justiz auszuschließen.

    159.

    Daraus ergibt sich ein Automatismus, der eine solche Rigorosität bei der Umsetzung der Entscheidungen zur Folge haben kann, dass Mechanismen wie der des Europäischen Haftbefehls in Misskredit geraten. Dies führt nämlich zu einem systematischen und bisweilen ungerechtfertigten Erlass des Europäischen Haftbefehls im Hinblick auf die Übergabe gesuchter Personen wegen häufig geringfügiger Straftaten ( 53 ) wie dem Diebstahl von 2 m2 Fliesen oder des Rades eines Fahrrads; diese Praxis wird von der Kommission selbst in ihrem in Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Bericht gerügt.

    160.

    Aus diesen Gründen erscheint es mir legitim, dass die Frage der Verhältnismäßigkeit des Europäischen Haftbefehls vor der vollstreckenden Justizbehörde aufgeworfen werden kann.

    161.

    Zwar kommt es für mich nicht in Betracht, den Grundsatz der Verfahrensautonomie in Frage zu stellen.

    162.

    Verlässt die Entscheidung der ausstellenden Justizbehörde das nationale Hoheitsgebiet, in dem allein sie vollstreckbar ist, um im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Anwendung zu finden, muss sie aber mit den Regeln und allgemeinen Grundsätzen im Einklang stehen, die für diesen einheitlichen Rechtsraum gelten und die einheitliche Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung ermöglichen.

    163.

    Die Pflicht des Vollstreckungsmitgliedstaats, der „ausländischen“ Entscheidung das gleiche Gewicht zu geben wie seinen eigenen Entscheidungen, auch wenn sein nationales Recht zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, kann ihn nicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verpflichten, der die expliziten und impliziten Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses, der einen besonderen Aspekt der gegenseitigen Anerkennung regelt, nicht erfüllt.

    164.

    Diese Situation ist meines Erachtens von dem Fall zu unterscheiden, in dem die vollstreckende Justizbehörde die Rechtmäßigkeit des Europäischen Haftbefehls an ihrem eigenen Grundrechtsstandard messen möchte; dieser Fall war u. a. Gegenstand des Urteils Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107). Es geht nämlich darum, ob im speziellen Bereich des Strafrechts und im Rahmen des „horizontalen“ Dialogs zwischen souveränen ordentlichen Gerichten die Frage der Verhältnismäßigkeit aufzuwerfen ist.

    165.

    Vorab ist klarzustellen, dass es meines Erachtens, da der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, allein Sache des Gerichtshofs ist, bei Bedarf die Tragweite und die Konturen dieses Grundsatzes festzulegen. Die vollstreckende Justizbehörde hat ihn daher gegebenenfalls um Vorabentscheidung zu ersuchen.

    166.

    Es bleibt zu klären, anhand welcher Modalitäten dieser Grundsatz beurteilt werden kann.

    2. Die konkreten Modalitäten der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf den Erlass des Europäischen Haftbefehls

    167.

    Stellt die vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage zuverlässiger tatsächlicher Angaben fest, dass die Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, muss sie die Möglichkeit haben, anhand der konkreten Umstände jedes Einzelfalls zu beurteilen, ob die Übergabe der gesuchten Person geeignet ist, sie unverhältnismäßigen Haftbedingungen auszusetzen.

    168.

    Zu diesem Zweck muss die vollstreckende Justizbehörde die ausstellende Justizbehörde um alle von ihr für sachdienlich erachteten Auskünfte ersuchen können. Wegen des Grundsatzes der Gewaltenteilung sollte sich die vollstreckende Justizbehörde meines Erachtens an ihre zuständige nationale Stelle wenden, damit diese unmittelbar Kontakt zur zuständigen nationalen Stelle im Ausstellungsmitgliedstaat aufnimmt, und die Antworten sollten ihr auf demselben Weg übermittelt werden.

    169.

    Ein zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe erlassener Europäischer Haftbefehl sollte meines Erachtens als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die Vollstreckungsbedingungen nicht zu körperlich relevanten Konsequenzen führen, die in keinem Verhältnis zu denen stehen, die einträten, wenn die verhängte Strafe unter normalen Bedingungen vollstreckt würde.

    170.

    Ein zur Strafverfolgung erlassener Europäischer Haftbefehl ist verhältnismäßig, wenn seine Vollstreckungsbedingungen mit dem alleinigen Erfordernis vereinbar sind, dafür zu sorgen, dass die gesuchte Person der Justiz zur Verfügung steht. In seinem Urteil Ladent/Polen ( 54 ) hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Übrigen entschieden, dass der Erlass eines Europäischen Haftbefehls wegen der Begehung einer Straftat, bei der die Untersuchungshaft normalerweise als unangemessen angesehen würde, aus dem Blickwinkel der in Art. 5 EMRK enthaltenen Garantien zu unverhältnismäßigen Folgen für die Freiheit der gesuchten und zu verhaftenden Person führen kann ( 55 ).

    171.

    Schließlich ist klar, dass die durch die Art. 4 und 5 des Rahmenbeschlusses gebotenen Möglichkeiten systematisch geprüft werden müssen.

    172.

    Sollte die vollstreckende Justizbehörde im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit mit einer besonderen Beurteilungsschwierigkeit konfrontiert werden, müsste sie den Gerichtshof anrufen, der allein für die Entscheidung über diesen unionsrechtlichen Gesichtspunkt zuständig ist.

    173.

    Jedenfalls darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit in erster Linie der ausstellenden Justizbehörde obliegt. Da es sich dabei um die Umsetzung des Unionsrechts handelt, muss sie dies tun, auch wenn sie deshalb ihre nationalen Rechtsvorschriften, die das Legalitätsprinzip vorsehen, unangewendet lassen muss, denn es geht hier darum, im Einklang mit dem Unionsrecht zu entscheiden, dessen Vorrang auch hinsichtlich der Bestimmungen des Rahmenbeschlusses gilt.

    174.

    Überdies wären, wenn diese Kontrolle stattfände, Fragen wie die in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen aufgeworfenen unbestreitbar selten.

    175.

    Mir ist nicht entgangen, dass der Standpunkt, den der Gerichtshof meines Erachtens einnehmen sollte, teilweise darauf hinausläuft, von ihm zu verlangen, sich wie ein Gerichtshof für Menschenrechte zu verhalten. Im Bereich des Strafrechts scheint mir, dass dieser Ansatz eines Tages ins Auge gefasst werden muss.

    176.

    Ich kann allerdings nicht unerwähnt lassen, dass die Situation, in der wir uns heute befinden, auch die Folge eines fatalen Versäumnisses sowohl der Mitgliedstaaten als auch der Unionsorgane ist.

    177.

    Es sollte nicht des Hinweises bedürfen, dass jeder Mitgliedstaat im Einklang mit Art. 6 EUV verpflichtet ist, die Achtung der Grundrechte zu garantieren. Diese Pflicht folgt, wie wir gesehen haben, nicht nur aus dem gegenseitigen Vertrauen, sondern auch aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit ( 56 ). Beides lässt sich nicht voneinander trennen. In seinem Urteil Pupino (C‑105/03, EU:C:2005:386) hat der Gerichtshof im Übrigen ausdrücklich festgestellt, dass die Union „ihre Aufgabe kaum erfüllen [könnte], wenn der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, der insbesondere bedeutet, dass die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Recht der … Union treffen, nicht auch im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gelten würde, die im Übrigen vollständig auf der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen beruht …“ ( 57 )

    178.

    Wenn wir von den vollstreckenden Justizbehörden verlangen, unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren die gesuchte Person zu übergeben, impliziert der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Gegenzug, dass die ausstellenden Justizbehörden, denen dieses Vertrauen entgegengebracht wird, und insbesondere der Mitgliedstaat, dem die gesuchte Person übergeben wird, alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der gebotenen strafpolitischen Reformen, ergreifen, um dafür zu sorgen, dass diese Person ihre Strafe unter Bedingungen verbüßt, unter denen ihre Grundrechte gewahrt werden und sie zur Verteidigung ihrer individuellen Freiheiten von allen verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch machen kann.

    179.

    Insoweit kann ich die von Ungarn und Rumänien in diesem Sinne eingegangenen Verpflichtungen nur begrüßen.

    180.

    Ferner ist angesichts der sehr hohen Zahl beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegter Individualbeschwerden festzustellen, dass die in Ungarn und Rumänien vorgesehenen Rechtsbehelfe den Personen, die materiellen Haftbedingungen ausgesetzt sind, mit denen gegen die in Art. 3 EMRK enthaltenen Garantien verstoßen wird, die Sicherstellung des Schutzes ihrer Grundrechte ermöglichen.

    181.

    Schließlich sehe ich keine andere Lösung als die Stärkung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls durch das Tätigwerden der Unionsorgane. Zwar hat die Kommission im Jahr 2011 unerfreuliche Feststellungen zu den Haftbedingungen in einigen Mitgliedstaaten und den Konsequenzen für die Umsetzung des Rahmenbeschlusses getroffen, doch ist weder der Rat noch sie tätig geworden, um zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten alle ihre Verpflichtungen erfüllen oder zumindest die erforderlichen Maßnahmen ergreifen.

    182.

    Dabei bietet ihnen Art. 82 AEUV hierfür eine Rechtsgrundlage.

    VI – Ergebnis

    183.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Bremen wie folgt zu beantworten:

    Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er keinen auf der Gefahr einer Verletzung der Grundrechte der übergebenen Person im Ausstellungsmitgliedstaat beruhenden Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines zum Zweck der Strafverfolgung oder der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel erlassenen Europäischen Haftbefehls darstellt.

    Die ausstellenden Justizbehörden müssen eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit vornehmen, um das Erfordernis des Erlasses eines Europäischen Haftbefehls im Hinblick auf die Art der Straftat und die konkreten Modalitäten der Strafvollstreckung anzupassen.

    Unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren, die durch systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat gekennzeichnet sind, ist die vollstreckende Justizbehörde berechtigt, von der ausstellenden Justizbehörde, gegebenenfalls über die zuständigen nationalen Stellen, alle sachdienlichen Auskünfte zu verlangen, die es ihr ermöglichen, anhand der konkreten Umstände jedes Einzelfalls zu beurteilen, ob die Übergabe der gesuchten Person geeignet ist, sie unverhältnismäßigen Haftbedingungen auszusetzen.

    Zudem ist es Sache des Ausstellungsmitgliedstaats, im Einklang mit den Verpflichtungen aus Art. 6 EUV und den ihm nach den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit obliegenden Pflichten alle erforderlichen Maßnahmen, einschließlich der gebotenen strafpolitischen Reformen, zu ergreifen, um dafür zu sorgen, dass die übergebene Person ihre Strafe unter Bedingungen verbüßt, unter denen ihre Grundrechte gewahrt werden und sie zur Verteidigung ihrer individuellen Freiheiten von allen verfügbaren Rechtsbehelfen Gebrauch machen kann.


    ( 1 ) Originalsprache: Französisch.

    ( 2 ) ABl. L 190, S. 1, in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss).

    ( 3 ) So der im sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses verwendete Begriff.

    ( 4 ) Art. 82 Abs. 1 Unterabs. 1 AEUV sowie Erwägungsgründe 5, 6, 10 und 11 des Rahmenbeschlusses.

    ( 5 ) Urteile Radu (C‑396/11, EU:C:2013:39, Rn. 34) und Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 37).

    ( 6 ) Urteil F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 57 und 58).

    ( 7 ) Im zehnten Erwägungsgrund wird zwar auf Art. 7 Abs. 1 EU und Art. 7 Abs. 2 EU Bezug genommen, doch scheint mir, dass der Unionsgesetzgeber auf Art. 7 Abs. 2 EU und Art. 7 Abs. 3 EU Bezug nehmen wollte.

    ( 8 ) Nach § 29 Abs. 1 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 in der durch das Europäische Haftbefehlsgesetz vom 20. Juli 2006 (BGBl. I S. 1721) geänderten Fassung (im Folgenden: IRG) entscheidet das Oberlandesgericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft über die Zulässigkeit der Auslieferung, wenn sich der Verfolgte nicht mit ihr einverstanden erklärt hat. Die Entscheidung ergeht nach § 32 IRG durch Beschluss.

    ( 9 ) § 73 IRG lautet: „Die Leistung von Rechtshilfe sowie die Datenübermittlung ohne Ersuchen ist unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde. Bei Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil ist die Leistung von Rechtshilfe unzulässig, wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 [EUV] enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.“

    ( 10 ) Nr. 35972/05, 24. Juli 2012. Darin führt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus, dass es in diesem Bereich trotz der Bemühungen der rumänischen Behörden um eine Verbesserung der Lage ein strukturelles Problem gebe.

    ( 11 ) Das Verfahren des Piloturteils ermöglicht es dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Vorliegen einer Verletzung der EMRK aufgrund systematischer, wiederkehrender und anhaltender Probleme bei den Haftbedingungen festzustellen, die eine Vielzahl von Personen betreffen oder betreffen können.

    ( 12 ) Nrn. 14097/12, 45135/12, 73712/12, 34001/13, 44055/13 und 64586/13, 10. März 2015. In diesem Urteil hebt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die allgemeine Funktionsstörung im ungarischen System von Haftanstalten hervor, die bereits zu zahlreichen Verurteilungen von Ungarn gemäß Art. 3 EMRK geführt habe und wegen der derzeit 450 Beschwerden gegen diesen Staat anhängig seien (vgl. insbesondere §§ 99 und 100).

    ( 13 ) Vgl. EGMR, Torreggiani u. a./Italien, Nrn. 43517/09, 46882/09, 55400/09, 57875/09, 61535/09, 35315/10 und 37818/10, 8. Januar 2013, Neshkov u. a./Bulgarien, Nrn. 36925/10, 21487/12, 72893/12, 73196/12, 77718/12 und 9717/13, 27. Januar 2015, sowie Varga u. a./Ungarn.

    ( 14 ) Vgl. EGMR, Karalevičius/Litauen, Nr. 53254/99, 7. April 2005, Norbert Sikorski/Polen, Nr. 17599/05, 22. Oktober 2009, sowie Mandic und Jovic/Slowenien, Nrn. 5774/10 und 5985/10, 20. Oktober 2011.

    ( 15 ) Vgl. EGMR, Vasilescu/Belgien, Nr. 64682/12, 25. November 2014.

    ( 16 ) Vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Dezember 2011 zu den Haftbedingungen in der EU (ABl. 2013, C 168 E, S. 82) und Punkt 4 des Berichts der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die seit 2007 erfolgte Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (KOM[2011] 175 endgültig).

    ( 17 ) In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, wandten sich Asylbewerber aus den Herkunftsländern Afghanistan, Iran und Algerien gegen ihre Überstellung aus dem Vereinigten Königreich und Irland nach Griechenland, dem nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50, S. 1), für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat, weil sie Gefahr liefen, in Griechenland aufgrund ihrer Haftbedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden.

    ( 18 ) Vgl. insbesondere die Rn. 86, 94 und 106 des Urteils.

    ( 19 ) Der 13. Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses ist im Licht der Bestimmungen seines Art. 28 zu sehen; der dort aufgestellte Grundsatz kommt zur Anwendung, wenn sich nach der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls im Ausstellungsmitgliedstaat die Frage einer Abschiebung, Ausweisung oder Auslieferung stellt.

    ( 20 ) ABl. L 327, S. 27.

    ( 21 ) Vgl. Abschnitt 1.4.4 der Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament zu Artikel 7 des Vertrags über die Europäische Union – Wahrung und Förderung der Grundwerte der Europäischen Union (KOM[2003] 606 endg.).

    ( 22 ) Ebd.

    ( 23 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

    ( 24 ) Rn. 33 des Urteils.

    ( 25 ) Urteil West (C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 26 ) C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87.

    ( 27 ) Vgl. Urteile Leymann und Pustovarov (C‑388/08 PPU, EU:C:2008:669, Rn. 51), Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 57), Radu (C‑396/11, EU:C:2013:39, Rn. 35 und 36) sowie Melloni (C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 38).

    ( 28 ) Urteile Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 59) und West (C‑192/12 PPU, EU:C:2012:404, Rn. 62).

    ( 29 ) Urteil Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 58).

    ( 30 ) Urteil Wolzenburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 31 ) Vgl. Urteil Kozłowski (C‑66/08, EU:C:2008:437, Rn. 45).

    ( 32 ) Nach dieser Bestimmung kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn sich die gesuchte Person „im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhält, dessen Staatsangehöriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat“ und dieser Staat „sich verpflichtet, die Strafe … zu vollstrecken“.

    ( 33 ) Rn. 62 dieses Urteils.

    ( 34 ) Rn. 191 und 194 dieses Gutachtens.

    ( 35 ) Rn. 191 des Gutachtens.

    ( 36 ) Gutachten 2/13 (EU:C:2014:2454, Rn. 194).

    ( 37 ) Rn. 168.

    ( 38 ) Urteil F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 48).

    ( 39 ) Urteil F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 50).

    ( 40 ) Dieses Urteil betraf die Möglichkeit, einen den Vollzug der Entscheidung der vollstreckenden Justizbehörde aufschiebenden Rechtsbehelf einzulegen.

    ( 41 ) Rn. 50.

    ( 42 ) In diesem Urteil befasste sich der Gerichtshof mit der Tragweite von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses, der vorsieht, dass die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigert werden kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu seiner Verurteilung geführt hat.

    ( 43 ) Urteil F. (C‑168/13 PPU, EU:C:2013:358, Rn. 49).

    ( 44 ) Ich nehme hier Bezug auf die vom Gerichtshof in Rn. 191 seines Gutachtens 2/13 (EU:C:2014:2454) angesprochenen außergewöhnlichen Umstände.

    ( 45 ) Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung.

    ( 46 ) Dokument 17195/1/10 REV 1 – COPEN 275 EJN 72 Eurojust 139.

    ( 47 ) Dokument T7-0174/2014.

    ( 48 ) Vgl. den Anhang dieser Entschließung. Interessant ist auch, dass das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit bereits im Rahmen der Einrichtung, des Betriebs und der Nutzung des durch den Beschluss 2007/533/JI des Rates vom 12. Juni 2007 (ABl. L 205, S. 63) eingeführten Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II) zum Tragen kommt. Art. 21 dieses Beschlusses sieht nämlich vor, dass ein Mitgliedstaat vor einer Ausschreibung prüft, „ob Angemessenheit, Relevanz und Bedeutung des Falles eine Aufnahme der Ausschreibung in das SIS II rechtfertigen“.

    ( 49 ) Vgl. u. a. den Abschlussbericht über die vierte Runde der gegenseitigen Begutachtungen – „Praktische Anwendung des Europäischen Haftbefehls und der entsprechenden Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten“, vom Rat angenommen am 4. und 5. Juni 2009 (Dokument 8302/4/09 REV 4 – Crimorg 55 COPEN 68 EJN 24 Eurojust 20), in dem eine Bilanz der Anwendung des Europäischen Haftbefehls nach Mitgliedstaaten erstellt wird.

    ( 50 ) Insbesondere in der Tschechischen Republik, Lettland, Litauen und der Slowakei.

    ( 51 ) Insbesondere in Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland und Irland (durch die Polizei und die Staatsanwaltschaft), in Spanien, Frankreich, Zypern, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Slowenien, Finnland und Schweden (durch die Staatsanwaltschaft) oder auch im Vereinigten Königreich.

    ( 52 ) Dies geht ausdrücklich aus den Antworten dieser Mitgliedstaaten im Rahmen des in Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Berichts der Kommission hervor.

    ( 53 ) Dies ist in den jüngsten Dokumenten der Organe über die Anwendung des Rahmenbeschlusses weitgehend unterstrichen worden. Vgl. u. a. Punkt 4 des in Fn. 16 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Berichts der Kommission.

    ( 54 ) Nr. 11036/03, 18. März 2008.

    ( 55 ) §§ 55 und 56.

    ( 56 ) Diese Loyalitätspflicht ergibt sich aus Art. 4 Abs. 3 EUV und gilt nach dieser Bestimmung auch für die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und der Union (vgl. Gutachten 2/13, EU:C:2014:2454, Rn. 202).

    ( 57 ) Rn. 42.

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