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Document 62014CJ0471

    Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 6. Oktober 2015.
    Seattle Genetics Inc. gegen Österreichisches Patentamt.
    Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Wien.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges und gewerbliches Eigentum – Arzneispezialitäten – Verordnung (EG) Nr. 469/2009 – Art. 13 Abs. 1 – Ergänzendes Schutzzertifikat – Laufzeit – Begriff ‚Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Europäischen Union‘ – Berücksichtigung des Zeitpunkts des Beschlusses über die Genehmigung oder des Zeitpunkts der Bekanntgabe dieses Beschlusses.
    Rechtssache C-471/14.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:659

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

    6. Oktober 2015 ( * )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung — Geistiges und gewerbliches Eigentum — Arzneispezialitäten — Verordnung (EG) Nr. 469/2009 — Art. 13 Abs. 1 — Ergänzendes Schutzzertifikat — Laufzeit — Begriff ‚Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Europäischen Union‘ — Berücksichtigung des Zeitpunkts des Beschlusses über die Genehmigung oder des Zeitpunkts der Bekanntgabe dieses Beschlusses“

    In der Rechtssache C‑471/14

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 2. Oktober 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2014, in dem Verfahren

    Seattle Genetics Inc.

    gegen

    Österreichisches Patentamt

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,

    Generalanwalt: N. Jääskinen,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Seattle Genetics Inc., vertreten durch K. Bacon, Barrister, sowie durch M. Utges Manley, M. Georgiou und E. Amos, Solicitors,

    der hellenischen Regierung, vertreten durch G. Alexaki und L. Kotroni als Bevollmächtigte,

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,

    der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kalniņš als Bevollmächtigten,

    der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas und G. Taluntytė als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun und J. Samnadda als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. September 2015

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. L 152, S. 1).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Seattle Genetics Inc. (im Folgenden: Seattle Genetics) und dem Österreichischen Patentamt wegen der Berichtigung des Zeitpunkts des Ablaufs eines ergänzenden Schutzzertifikats (im Folgenden: Zertifikat).

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    Verordnung (EG) Nr. 726/2004

    3

    Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Errichtung einer Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. L 136, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1235/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2010 (ABl. L 348, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 726/2004) sieht vor:

    „Ein unter den Anhang fallendes Arzneimittel darf innerhalb der Gemeinschaft nur in Verkehr gebracht werden, wenn von der Gemeinschaft gemäß dieser Verordnung eine Genehmigung für das Inverkehrbringen erteilt worden ist.“

    4

    Nach Art. 10 der Verordnung Nr. 726/2004 ist es Sache der Europäischen Kommission, auf der Grundlage dieser Verordnung die Genehmigungen für das Inverkehrbringen zu erteilen.

    5

    Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 726/2004 lautet: „Unbeschadet der Absätze 4, 5 und 7 ist eine Genehmigung für das Inverkehrbringen fünf Jahre gültig.“

    Verordnung Nr. 469/2009

    6

    Die Erwägungsgründe 3 bis 5 und 7 bis 9 der Verordnung Nr. 469/2009 lauten wie folgt:

    „(3)

    Arzneimittel, vor allem solche, die das Ergebnis einer langen und kostspieligen Forschungstätigkeit sind, werden in der Gemeinschaft und in Europa nur weiterentwickelt, wenn für sie eine günstige Regelung geschaffen wird, die einen ausreichenden Schutz zur Förderung einer solchen Forschung vorsieht.

    (4)

    Derzeit wird durch den Zeitraum zwischen der Einreichung einer Patentanmeldung für ein neues Arzneimittel und der Genehmigung für das Inverkehrbringen desselben Arzneimittels der tatsächliche Patentschutz auf eine Laufzeit verringert, die für die Amortisierung der in der Forschung vorgenommenen Investitionen unzureichend ist.

    (5)

    Diese Tatsache führt zu einem unzureichenden Schutz, der nachteilige Auswirkungen auf die pharmazeutische Forschung hat.

    (7)

    Auf Gemeinschaftsebene sollte eine einheitliche Lösung gefunden werden, um auf diese Weise einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft zu behindern und dadurch das Funktionieren des Binnenmarktes unmittelbar zu beeinträchtigen.

    (8)

    Es ist deshalb notwendig, ein ergänzendes Schutzzertifikat für Arzneimittel, deren Vermarktung genehmigt ist, vorzusehen, das der Inhaber eines nationalen oder europäischen Patents unter denselben Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat erhalten kann. Die Verordnung ist deshalb die geeignetste Rechtsform.

    (9)

    Die Dauer des durch das Zertifikat gewährten Schutzes sollte so festgelegt werden, dass dadurch ein ausreichender tatsächlicher Schutz erreicht wird. Hierzu müssen demjenigen, der gleichzeitig Inhaber eines Patents und eines Zertifikats ist, insgesamt höchstens fünfzehn Jahre Ausschließlichkeit ab der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen des betreffenden Arzneimittels in der Gemeinschaft eingeräumt werden.“

    7

    Art. 3 („Bedingungen für die Erteilung des Zertifikats“) der Verordnung Nr. 469/2009 bestimmt:

    „Das Zertifikat wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

    a)

    das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

    b)

    für das Erzeugnis als Arzneimittel eine gültige Genehmigung für das Inverkehrbringen gemäß der Richtlinie 2001/83/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67)] … erteilt wurde;

    c)

    für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde;

    d)

    die unter Buchstabe b erwähnte Genehmigung die erste Genehmigung für das Inverkehrbringen dieses Erzeugnisses als Arzneimittel ist.“

    8

    Art. 7 („Anmeldung des Zertifikats“) der Verordnung Nr. 469/2009 sieht in Abs. 1 vor:

    „Die Anmeldung des Zertifikats muss innerhalb einer Frist von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt, zu dem für das Erzeugnis als Arzneimittel die Genehmigung für das Inverkehrbringen nach Artikel 3 Buchstabe b erteilt wurde, eingereicht werden.“

    9

    Art. 13 („Laufzeit des Zertifikats“) der Verordnung Nr. 469/2009 bestimmt in Abs. 1: „Das Zertifikat gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Gemeinschaft entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    10

    Seattle Genetics ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. EP 1545613 (im Folgenden: Grundpatent) mit dem Titel „Auristatin-Konjugate und ihre Verwendung zur Behandlung von Krebs, einer Autoimmunkrankheit oder einer Infektionskrankheit“. Das Grundpatent, dessen Anmeldung am 31. Juli 2003 eingereicht worden war, wurde am 20. Juli 2011 erteilt.

    11

    Am 31. Mai 2011 beantragte die Takeda Global Research and Development Centre (Europe) Ltd (im Folgenden: Takeda) nach dem in der Verordnung Nr. 726/2004 vorgesehenen zentralisierten Verfahren eine bedingte Zulassung für einen auf der Grundlage des Grundpatents entwickelten neuen Wirkstoff (Brentuximab vedotin) unter dem Handelsnamen „Adcetris“.

    12

    Mit dem Durchführungsbeschluss K(2012) 7764 endg. vom 25. Oktober 2012 über die Erteilung einer bedingten Zulassung für das Humanarzneimittel für seltene Leiden „Adcetris – Brentuximab vedotin“ gemäß der Verordnung Nr. 726/2004 erteilte die Kommission Takeda nach Maßgabe der Art. 3, 10 und 14 dieser Verordnung unter der Nr. EU/1/12/794/001 eine Zulassung für dieses Medikament. Art. 4 des Beschlusses lautet:

    „Die Geltungsdauer der Zulassung beträgt ein Jahr ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Beschlusses.“

    13

    Der Beschluss wurde Takeda am 30. Oktober 2012 bekannt gegeben.

    14

    Sowohl das Datum des Beschlusses über die Zulassung von Adcetris als auch das Datum seiner Bekanntgabe gegenüber Takeda sind in der Zusammenfassung dieses Beschlusses aufgeführt, die nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung Nr. 726/2004 im Amtsblatt der Europäischen Union vom 30. November 2012 (ABl. C 371, S. 8) veröffentlicht wurde.

    15

    Am 2. November 2012 beantragte Seattle Genetics beim österreichischen Patentamt die Erteilung eines Zertifikats auf der Grundlage des Grundpatents. Das Patentamt gab dem Antrag statt. Da es davon ausging, dass der Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 der Zeitpunkt des Beschlusses der Kommission über die Genehmigung, d. h. im vorliegenden Fall der 25. Oktober 2012, sei, setzte es das Ablaufdatum dieses Zertifikats auf den 25. Oktober 2027 fest.

    16

    Im Oktober 2013 trat Takeda die Zulassung von Adcetris an die von Seattle Genetics lizenzierte Takeda Pharma A/S ab.

    17

    Am 22. April 2014 erhob Seattle Genetics beim vorlegenden Gericht Klage gegen den Beschluss des österreichischen Patentamts und beantragte, das von diesem erteilte Zertifikat dahin zu berichtigen, dass sein Ablaufdatum auf den 30. Oktober 2027 festgelegt werde.

    18

    Seattle Genetics machte insoweit geltend, der Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen im Sinne von Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 müsse der Zeitpunkt sein, zu dem der Beschluss über die Zulassung von Adcetris der Klägerin bekannt gegeben worden sei, also der 30. Oktober 2012. Folglich hätte das Ablaufdatum des Zertifikats auf den 30. Oktober 2027 festgesetzt werden müssen.

    19

    Wie sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, führte die Kommission in Art. 3 ihres Durchführungsbeschlusses C(2014) 6095 (final) vom 22. August 2014 über die jährliche Erneuerung der mit dem Beschluss K(2012) 7764 endg. erteilten bedingten Zulassung für das Humanarzneimittel für seltene Krankheiten „Adcetris – Brentuximab vedotin“ und zur Änderung des genannten Beschlusses Folgendes aus:

    „Die Geltungsdauer der erneuerten Zulassung beträgt ein Jahr ab dem 30. Oktober 2014.“

    20

    Zu der Klage von Seattle Genetics hat das Oberlandesgericht Wien festgestellt, dass die Praxis der Patentämter der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Bestimmung des nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 von den Zertifikaten abgedeckten Zeitraums unterschiedlich zu sein scheine.

    21

    Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Wien beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Ist der Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nach Unionsrecht bestimmt, oder verweist diese Regelung auf den Zeitpunkt, zu dem die Genehmigung nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaats wirksam wird?

    2.

    Für den Fall, dass der Gerichtshof der Europäischen Union eine Bestimmung des Zeitpunkts nach Frage 1 durch Unionsrecht bejaht: Auf welchen Zeitpunkt ist dabei abzustellen – auf jenen der Genehmigung oder auf jenen der Mitteilung?

    Zur ersten Vorlagefrage

    22

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ nach Unionsrecht bestimmt wird, oder dahin, dass dieser Begriff nach dem Recht des Mitgliedstaats bestimmt wird, in dem die betreffende Genehmigung wirksam wird.

    23

    Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs folgt aus dem Erfordernis einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts, dass ein bestimmter Begriff, wenn eine unionsrechtliche Bestimmung insoweit nicht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss (vgl. in diesem Sinne Urteil Brüstle, C‑34/10, EU:C:2011:669, Rn. 25).

    24

    Zwar wird in Art. 13 der Verordnung Nr. 469/2009 der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“, der in diesem Artikel zur Bestimmung des Ablaufdatums eines Zertifikats herangezogen wird, nicht definiert, doch verweist er in Bezug auf die Bedeutung dieses Begriffs auch nicht auf das nationale Recht. Für die Zwecke der Anwendung dieser Verordnung ist daher davon auszugehen, dass ihr Art. 13 einen autonomen Begriff des Unionsrechts enthält, der im gesamten Unionsgebiet einheitlich auszulegen ist.

    25

    Dieses Ergebnis wird durch die Zielsetzung der Verordnung untermauert.

    26

    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 7 und 8 ergibt, insoweit eine einheitliche Lösung auf Unionsebene schafft, als ein Zertifikat eingeführt wird, das der Inhaber eines nationalen oder europäischen Patents unter denselben Voraussetzungen in jedem Mitgliedstaat erhalten kann. Sie soll auf diese Weise einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorbeugen, die neue Unterschiede zur Folge hätte, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimitteln innerhalb der Union zu behindern und dadurch die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts unmittelbar zu beeinträchtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Medeva, C‑322/10, EU:C:2011:773, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    27

    Könnte der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ auf der Grundlage des nationalen Rechts bestimmt werden, würde aber das Ziel, eine solche einheitliche Lösung auf Unionsebene zu schaffen, unterlaufen.

    28

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ nach Unionsrecht bestimmt wird.

    Zur zweiten Vorlagefrage

    29

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass der „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ im Sinne dieser Bestimmung der Zeitpunkt des Beschlusses über die Genehmigung für das Inverkehrbringen ist, oder dahin, dass es sich dabei um den Zeitpunkt handelt, zu dem dieser Beschluss seinem Adressaten bekannt gegeben wird.

    30

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Generalanwalt in den Nrn. 30 bis 33 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, weder der Wortlaut der genannten Bestimmung in ihren verschiedenen Sprachfassungen noch die übrigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 469/2009 eine eindeutige Beantwortung dieser Frage ermöglichen.

    31

    Der genannte Begriff ist daher anhand des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels auszulegen.

    32

    Insoweit ist festzustellen, dass das grundlegende Ziel der Verordnung Nr. 469/2009, das u. a. in deren Erwägungsgründen 3 bis 5, 8 und 9 erwähnt wird, darin besteht, eine ausreichende Dauer des wirksamen Schutzes eines Grundpatents wiederherzustellen, indem seinem Inhaber nach Ablauf seines Patents eine zusätzliche Ausschließlichkeitsfrist eingeräumt wird, die zumindest zum Teil den Rückstand in der wirtschaftlichen Verwertung seiner Erfindung ausgleichen soll, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der Union eingetreten ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Actavis Group PTC und Actavis UK, C‑577/13, EU:C:2015:165, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    33

    Diese Feststellung wird im Übrigen durch Nr. 14 der Begründung des Vorschlags vom 11. April 1990 für eine Verordnung (EWG) des Rates über die Schaffung eines ergänzenden Schutzzertifikats für Arzneimittel (KOM[90] 101 endg.) untermauert, wonach die durch das Zertifikat gewährte Schutzdauer so festgelegt werden muss, dass der Schutz „effektiv“ ist. Nach Nr. 50 dieser Begründung muss die Schutzdauer ausreichen, um den Zielen des Verordnungsvorschlags zu entsprechen.

    34

    Da der Unionsgesetzgeber dem Inhaber eines Zertifikats einen wirksamen und ausreichenden Schutz gewähren wollte, kann die Berechnung der ergänzenden Schutzdauer aber nicht erfolgen, ohne zu berücksichtigen, wie der Zeitpunkt bestimmt wird, ab dem der Begünstigte eines Zertifikats tatsächlich in der Lage ist, die Genehmigung für das Inverkehrbringen durch die Vermarktung seines Erzeugnisses zu nutzen.

    35

    Hierzu ist festzustellen, dass der Inhaber eines Zertifikats sein Erzeugnis erst ab dem Zeitpunkt vermarkten darf, zu dem ihm der Beschluss über die Erteilung der fraglichen Zulassung bekannt gegeben wurde, und nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Beschluss ergangen ist.

    36

    Wie sowohl der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge als auch die Kommission ausgeführt haben, ist es – will man nicht einer Auslegung folgen, die nicht im Einklang mit dem Ziel der Verordnung Nr. 469/2009 stünde, das darin besteht, dem Inhaber eines Zertifikats einen wirksamen und ausreichenden Schutz zu gewähren – nicht statthaft, dass zwischen dem Beschluss, die Genehmigung für das Inverkehrbringen zu erteilen, und seiner Bekanntgabe liegende verfahrenstechnische Abläufe, auf deren Dauer der Begünstigte eines Zertifikats keinen Einfluss hat, die Geltungsdauer eines Zertifikats verkürzen.

    37

    Diese Auslegung ist umso mehr geboten, als die von der Kommission erlassenen Beschlüsse über die Genehmigung für das Inverkehrbringen, wie der Durchführungsbeschluss K(2012) 7764 endg., den Vorgaben des Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV unterliegen, wonach Beschlüsse, die an einen bestimmten Adressaten gerichtet sind, denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekannt gegeben und durch diese Bekanntgabe wirksam werden.

    38

    Im Einklang mit dieser Bestimmung hat die Kommission in Art. 4 ihres Durchführungsbeschlusses K(2012) 7764 endg. als Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Zulassung von Adcetris den 30. Oktober 2012 festgelegt. Überdies wurde in Art. 3 des Durchführungsbeschlusses C(2014) 6095 (final) der 30. Oktober 2014 als Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Erneuerung dieser Zulassung festgelegt.

    39

    Die in Art. 297 Abs. 2 Unterabs. 3 AEUV vorgesehene Verpflichtung, einen Beschluss der Kommission seinem Adressaten bekannt zu geben, damit er wirksam wird, kann jedoch bei der Berechnung der Dauer des ergänzenden Schutzes nach Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 nicht außer Acht gelassen werden.

    40

    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 dahin auszulegen ist, dass der „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ im Sinne dieser Bestimmung der Zeitpunkt ist, zu dem der Beschluss über die Genehmigung für das Inverkehrbringen seinem Adressaten bekannt gegeben wird.

    Kosten

    41

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Europäischen Union]“ nach Unionsrecht bestimmt wird.

     

    2.

    Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 469/2009 ist dahin auszulegen, dass der „Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union]“ im Sinne dieser Bestimmung der Zeitpunkt ist, zu dem der Beschluss über die Genehmigung für das Inverkehrbringen seinem Adressaten bekannt gegeben wird.

     

    Unterschriften


    ( * )   Verfahrenssprache: Deutsch.

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