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Document 62014CJ0381

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 14. April 2016.
Jorge Sales Sinués und Youssouf Drame Ba gegen Caixabank SA und Catalunya Caixa SA (Catalunya Banc SA).
Vorabentscheidungsersuchen des Juzgado de lo Mercantil n° 9 de Barcelona.
Vorlagen zur Vorabentscheidung – Richtlinie 93/13/EWG – Verträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern – Hypothekenverträge – Mindestzinssatzklausel – Prüfung der Klausel im Hinblick auf ihre Ungültigerklärung – Verbandsverfahren – Unterlassungsklage – Aussetzung des Individualverfahrens mit demselben Gegenstand.
Verbundene Rechtssachen C-381/14 und C-385/14.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:252

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

14. April 2016 ( *1 )

[Berichtigt durch Beschluss vom 29. November 2016]

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Richtlinie 93/13/EWG — Verträge zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern — Hypothekenverträge — Mindestzinssatzklausel — Prüfung der Klausel im Hinblick auf ihre Ungültigerklärung — Verbandsverfahren — Unterlassungsklage — Aussetzung des Individualverfahrens mit demselben Gegenstand“

In den verbundenen Rechtssachen C‑381/14 und C‑385/14

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Juzgado de lo Mercantil no 9 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 9 von Barcelona, Spanien) mit Entscheidungen vom 27. Juni 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 11. und 12. August 2014, in den Verfahren

Jorge Sales Sinués

gegen

Caixabank SA (C‑381/14)

und

Youssouf Drame Ba

gegen

Catalunya Caixa SA (Catalunya Banc SA) (C‑385/14)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet, E. Levits (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. September 2015,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Sales Sinués, vertreten durch D. Cirera Mora und F. Pertínez Vílchez, abogados,

der Caixabank SA, vertreten durch J. Fontquerni Bas, procurador, im Beistand von A. Ferreres Comella, abogado,

der Catalunya Caixa SA, vertreten durch J. M. Rodríguez Cárcamo und I. Fernández de Senespleda, abogados,

der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und M. van Beek als Bevollmächtigte,

[berichtigt durch Beschluss vom 29. November 2016] nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Januar 2016

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Sales Sinués und der Caixabank SA bzw. Herrn Drame Ba und der Catalunya Caixa SA über die Nichtigkeit von Vertragsklauseln in Hypothekendarlehensverträgen.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 93/13

3

In Art. 3 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„(1)   Eine Vertragsklausel, die nicht im Einzelnen ausgehandelt wurde, ist als missbräuchlich anzusehen, wenn sie entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.

(2)   Eine Vertragsklausel ist immer dann als nicht im Einzelnen ausgehandelt zu betrachten, wenn sie im Voraus abgefasst wurde und der Verbraucher deshalb, insbesondere im Rahmen eines vorformulierten Standardvertrags, keinen Einfluss auf ihren Inhalt nehmen konnte.

…“

4

Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel wird unbeschadet des Artikels 7 unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrags sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrags oder eines anderen Vertrags, von dem die Klausel abhängt, zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses beurteilt.“

5

Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

6

In Art. 7 der Richtlinie 93/13 heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.

(2)   Die in Absatz 1 genannten Mittel müssen auch Rechtsvorschriften einschließen, wonach Personen oder Organisationen, die nach dem innerstaatlichen Recht ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, im Einklang mit den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften die Gerichte oder die zuständigen Verwaltungsbehörden anrufen können, damit diese darüber entscheiden, ob Vertragsklauseln, die im Hinblick auf eine allgemeine Verwendung abgefasst wurden, missbräuchlich sind, und angemessene und wirksame Mittel anwenden, um der Verwendung solcher Klauseln ein Ende zu setzen.

…“

Spanisches Recht

7

Art. 43 der Ley de Enjuiciamiento Civil (Zivilprozessgesetz) vom 7. Januar 2000 (BOE Nr. 7 vom 8. Januar 2000, S. 575) (im Folgenden: ZPG) bestimmt:

„Wenn für die Entscheidung über die Streitsache die Entscheidung über eine Frage erforderlich ist, die ihrerseits den Hauptgegenstand eines vor demselben oder einem anderen Gericht anhängigen anderen Prozesses bildet, und keine Klageverbindung möglich ist, so kann das Gericht auf Antrag beider Parteien oder einer von ihnen nach Anhörung der Gegenseite durch Beschluss die Aussetzung des Verfahrens in dem Stadium, in dem es sich befindet, anordnen, bis das Verfahren, das die Vorgreiflichkeitsfrage zum Gegenstand hat, beendet ist.“

8

Art. 221 ZPG bestimmt in Bezug auf die Wirkungen der Urteile, die in von Verbraucherschutzvereinigungen angestrengten Verfahren ergehen:

„…

1.a   Wurde die Verurteilung zu einer Zahlung, einem Tun, einer Unterlassung oder der Leistung einer konkreten oder der Gattung nach bestimmten Sache beantragt, sind in dem stattgebenden Urteil jene Verbraucher und Leistungsempfänger persönlich zu bestimmen, die gemäß den ihrem Schutz dienenden Gesetzen als die durch die Verurteilung Begünstigten anzusehen sind.

Ist keine persönliche Bestimmung möglich, sind in dem Urteil die Daten, Merkmale und Voraussetzungen anzugeben, die zur Geltendmachung der Zahlung und gegebenenfalls zum Betreiben der Vollstreckung oder, falls sie vom klagenden Verband betrieben wird, zur Beteiligung an ihr erforderlich sind.

2.a   Liegt der Verurteilung oder dem Haupt- oder Einheitsurteil die Feststellung der Unzulässigkeit oder der Gesetzwidrigkeit einer bestimmten Tätigkeit oder eines bestimmten Verhaltens zugrunde, ist in dem Urteil zu bestimmen, ob die Feststellung gemäß dem Verbraucherschutzrecht prozessuale Wirkungen entfalten muss, die nicht auf die Personen beschränkt ist, die an dem betreffenden Verfahren beteiligt waren.

3.a   Waren bestimmte Verbraucher oder Leistungsempfänger beteiligt, ist in dem Urteil ausdrücklich über ihre Anträge zu entscheiden.

…“

9

Art. 222 ZPG sieht vor:

„1.   Die Rechtskraft der endgültigen Urteile, seien es stattgebende oder ablehnende Urteile, schließt kraft Gesetzes ein späteres Verfahren aus, dessen Gegenstand mit dem des Verfahrens übereinstimmt, in dem sie eintritt.

2.   Die Rechtskraft erstreckt sich auf die Anträge der Klage und der Widerklage sowie auf die in Art. 408 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes genannten Punkte.

Tatsachen sind gegenüber der Grundlage der genannten Anträge neu und verschieden, wenn sie nach der vollständigen Präklusion des Vorbringens in dem Verfahren, in dem diese Anträge gestellt worden sind, eingetreten sind.

3.   Die Rechtskraft bindet die Parteien des Verfahrens, in dem die Entscheidung ergeht, deren Erben und Rechtsnachfolger sowie die Personen, die am Streit nicht beteiligt, aber Inhaber der Rechte sind, die die Parteiberechtigung im Sinne von Art. 11 dieses Gesetzes begründen.

4.   Der in Rechtskraft erwachsende Teil des rechtskräftigen Urteils, das ein Verfahren beendet, bindet das Gericht in einem späteren Verfahren, wenn er dort die Vorbedingung für dessen Streitgegenstand darstellt, sofern die Streitparteien in beiden Verfahren dieselben sind oder sich die Rechtskraft aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung auf diese erstreckt.“

10

Das vorlegende Gericht legt diese Verfahrensvorschriften so aus, dass sie ihm eine Verpflichtung auferlegen, bei ihm anhängige Verfahren, denen eine Individualklage eines Verbrauchers auf Nichtigerklärung einer missbräuchlichen Klausel zugrunde liegt, bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils in einem Verfahren auszusetzen, das von einem zur Erhebung einer Verbandsklage auf Unterlassung der Verwendung einer entsprechenden Klausel berechtigten Verband angestrengt wurde.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11

Am 20. Oktober 2005 schloss Herr Sales Sinués mit der Caixabank SA einen Vertrag über die Schuldumwandlung eines Hypothekendarlehens. Die darin enthaltene Mindestzinssatzklausel sieht einen jährlichen Nominalzinssatz von mindestens 2,85 % und höchstens 12 % vor. Am 7. Februar 2005 schloss Herr Drame Ba mit der Catalunya Caixa SA einen Hypothekendarlehensvertrag. Die Mindestzinssatzklausel in diesem Vertrag sieht einen Zinssatz von 3,75 % und eine Obergrenze von 12 % vor.

12

Unabhängig von der Schwankung des Marktzinssatzes dürfen die Zinssätze der Verträge der Kläger der Ausgangsverfahren nicht niedriger sein als in der Mindestzinssatzklausel festgelegt.

13

Da Herr Sales Sinués und Herr Drame Ba der Ansicht sind, dass sich aus den Mindestzinssatzklauseln, die ihnen von den Bankinstituten auferlegt worden seien, ein Ungleichgewicht zu ihrem Nachteil ergebe, klagten sie beim vorlegenden Gericht auf Nichtigerklärung dieser Klauseln.

14

Zuvor hatte eine Verbraucherschutzvereinigung, die Adicae (Asociación de Usarios de Bancos Cajas y Seguros), eine Verbandsklage gegen 72 Bankinstitute erhoben, die insbesondere auf Unterlassung der Verwendung der Mindestzinssatzklauseln in Darlehensverträgen gerichtet war.

15

Auf der Grundlage von Art. 43 der Zivilprozessordnung beantragen die Beklagten der Ausgangsverfahren die Aussetzung dieser Verfahren bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils zur Beendigung des Verbandsverfahrens; dem treten Herr Sales Sinués und Herr Drame Ba entgegen.

16

Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass es unter den Umständen der Ausgangsverfahren nach Art. 43 ZPG verpflichtet sei, die bei ihm anhängigen Individualverfahren auszusetzen, bis ein rechtskräftiges Urteil im Verbandsverfahren ergangen sei. Die damit verbundene aufschiebende Wirkung bewirke zwangsläufig, dass die Individualklage sowohl hinsichtlich des Verfahrensablaufs als auch hinsichtlich des Ergebnisses von der Verbandsklage abhänge.

17

Ferner seien mit der Beteiligung an der Verbandsklage verschiedene Einschränkungen verbunden, da sich zum einen der Rechtsuchende möglicherweise nicht an das zuständige Gericht seines Wohnsitzes wenden könne und zum anderen die Möglichkeit, zur Stützung der Verbandsklage individuell Stellung zu nehmen, zeitlich beschränkt sei.

18

Unter diesen Umständen hat das Juzgado de lo Mercantil no 9 de Barcelona (Handelsgericht Nr. 9 von Barcelona, Spanien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann davon ausgegangen werden, dass die spanische Rechtsordnung ein wirksames Mittel oder einen wirksamen Mechanismus im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorsieht?

2.

Inwieweit stellt diese Suspensivwirkung ein Hindernis für den Verbraucher und damit einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 im Hinblick auf die Rüge der Nichtigkeit dieser in seinem Vertrag enthaltenen missbräuchlichen Klauseln dar?

3.

Ist in dem Umstand, dass sich der Verbraucher nicht von der Verbandsklage lösen kann, eine Verletzung von Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 93/13 zu sehen?

4.

Oder steht im Gegenteil die Suspensivwirkung von Art. 43 ZPG im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 93/13, weil davon auszugehen ist, dass die Rechte des Verbrauchers durch diese Verbandsklage umfassend geschützt sind, da die spanische Rechtsordnung andere prozessuale Mechanismen zur Verfügung stellt, die im Hinblick auf den Schutz dieser Rechte und den Grundsatz der Rechtssicherheit gleich wirksam sind?

19

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 9. September 2014 sind die Rechtssachen C‑381/14 und C‑385/14 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zu den Vorlagefragen

20

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das mit einer Individualklage eines Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel eines mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrags befasste Gericht dieses Verfahren automatisch aussetzen muss, bis ein rechtskräftiges Urteil in einem anhängigen Verbandsklageverfahren ergangen ist, das eine Verbraucherschutzvereinigung auf der Grundlage von Abs. 2 dieses Artikels angestrengt hat, damit insbesondere der Verwendung von Klauseln wie der von der Individualklage erfassten in derartigen Verträgen ein Ende gesetzt wird.

21

Zur Beantwortung dieser Fragen ist vorab darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 angemessene und wirksame Mittel vorsehen müssen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verträgen zwischen Gewerbetreibenden und Verbrauchern ein Ende gesetzt wird. Neben dem subjektiven Recht des Verbrauchers, ein Gericht mit der Prüfung der Missbräuchlichkeit einer Klausel eines von ihm geschlossenen Vertrags zu befassen, erlaubt der in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 vorgesehene Mechanismus den Mitgliedstaaten, eine Kontrolle der in Musterverträgen enthaltenen missbräuchlichen Klauseln mit von Verbraucherschutzvereinigungen im öffentlichen Interesse erhobenen Unterlassungsklagen einzuführen.

22

Was zum einen die Individualklage eines Verbrauchers anbelangt, beruht das mit der Richtlinie 93/13 geschaffene Schutzsystem auf dem Gedanken, dass sich der Verbraucher gegenüber dem Gewerbetreibenden in einer schwächeren Verhandlungsposition befindet und einen geringeren Informationsstand besitzt (vgl. Urteil Pereničová und Perenič, C‑453/10, EU:C:2012:144, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23

Um diesen Schutz zu gewährleisten, kann die bestehende Ungleichheit zwischen Verbraucher und Gewerbetreibendem nur durch ein positives Eingreifen von dritter, von den Vertragsparteien unabhängiger Seite ausgeglichen werden (Urteil Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 31).

24

In diesem Zusammenhang muss das nationale Gericht von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel – wie Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 verlangt – unter Berücksichtigung der Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des Vertrags sind, aller den Vertragsabschluss begleitenden Umstände sowie aller anderen Klauseln desselben Vertrags oder eines von diesem abhängigen Vertrags zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses prüfen (vgl. in diesem Sinne Urteil Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 32).

25

Wenn das nationale Gericht eine Klausel für missbräuchlich erklären sollte, beinhaltet das Recht des Verbrauchers auf wirksamen Schutz jedoch auch die Befugnis, seine Rechte eben nicht geltend zu machen, so dass das nationale Gericht gegebenenfalls den vom Verbraucher geäußerten Willen berücksichtigen muss, wenn dieser im Wissen um die Unverbindlichkeit einer missbräuchlichen Klausel gleichwohl angibt, dass er gegen deren Nichtanwendung sei, und so nach vorheriger Aufklärung seine freie Einwilligung in die fragliche Klausel erteilt (vgl. Urteil Banif Plus Bank, C‑472/11, EU:C:2013:88, Rn. 35).

26

Was zum anderen Klagen anbelangt, die von den in Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 genannten Personen oder Organisationen, die ein berechtigtes Interesse am Schutz der Verbraucher haben, erhoben wurden, so ist darauf hinzuweisen, dass Letztere sich nicht in einer solchen schwächeren Position gegenüber dem Gewerbetreibenden befinden (Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 49).

27

Ohne die Bedeutung der zentralen Rolle zu verneinen, die sie spielen können müssen, um ein hohes Verbraucherschutzniveau in der Europäischen Union zu erreichen, ist nämlich festzustellen, dass eine Unterlassungsklage einer solchen Vereinigung gegen einen Gewerbetreibenden nicht durch das Ungleichgewicht gekennzeichnet ist, das im Rahmen einer Individualklage zwischen einem Verbraucher und seinem gewerbetreibenden Vertragspartner besteht (vgl. Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 50).

28

Ein solcher differenzierter Ansatz wird außerdem durch Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 98/27/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 1998 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. L 166, S. 51) und Art. 4 Abs. 1 ihrer Nachfolgerin, der Richtlinie 2009/22/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2009 über Unterlassungsklagen zum Schutz der Verbraucherinteressen (ABl. L 110, S. 30), bestätigt, wonach im Fall eines innergemeinschaftlichen Verstoßes gegen das Verbraucherschutzrecht der Union die Gerichte des Mitgliedstaats des Ortes der Niederlassung oder des (Wohn‑)Sitzes des Beklagten zuständig sind, über Unterlassungsklagen zu entscheiden, die von Verbraucherschutzvereinen anderer Mitgliedstaaten erhoben werden (Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 51).

29

Hinzu kommt, dass der präventive Charakter und der Abschreckungszweck der Unterlassungsklagen sowie ihre Unabhängigkeit von einzelnen konkreten Streitigkeiten zur Folge haben, dass diese Klagen auch dann zur Verfügung stehen müssen, wenn die Klauseln, deren Verbot beantragt wird, nicht konkret in Verträgen verwendet worden sind (Urteil Invitel, C‑472/10, EU:C:2012:242, Rn. 37).

30

Individual‑ und Verbandsklagen haben daher im Rahmen der Richtlinie 93/13 unterschiedliche Gegenstände und Rechtswirkungen, so dass die prozessuale Verbindung zwischen dem Ablauf des einen Verfahrens und dem Ablauf des anderen Verfahrens nur verfahrensrechtlichen Anforderungen im Zusammenhang insbesondere mit einer geordneten Rechtspflege und dem Erfordernis der Vermeidung gegenläufiger gerichtlicher Entscheidungen entsprechen kann, ohne dass das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Klagen zu einer Schwächung des Verbraucherschutzes, wie er in der Richtlinie 93/13 vorgesehen ist, führen darf.

31

Denn obwohl die Richtlinie nicht auf die Harmonisierung der Sanktionen gerichtet ist, die gelten sollen, wenn im Rahmen dieser Klagen die Missbräuchlichkeit einer Klausel anerkannt wird, verpflichtet ihr Art. 7 Abs. 1 die Mitgliedstaaten gleichwohl, dafür zu sorgen, dass angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln in Verbraucherverträgen ein Ende gesetzt wird (Urteil Invitel, C‑472/10, EU:C:2012:242, Rn. 35).

32

In diesem Zusammenhang ist jedoch darauf hinzuweisen, dass es, da die prozessualen Mittel zur Regelung des Verhältnisses zwischen den in der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Verbands‑ und Individualklagen nicht harmonisiert worden sind, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, entsprechende Regeln festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der den Verbrauchern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil Asociación de Consumidores Independientes de Castilla y León, C‑413/12, EU:C:2013:800, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Was den Äquivalenzgrundsatz betrifft, lassen die Angaben in der Vorlageentscheidung nicht erkennen, dass Art. 43 ZPG in Rechtsstreitigkeiten über Ansprüche, die auf das nationale Recht gestützt werden, und in solchen über Ansprüche, die auf das Unionsrecht gestützt werden, unterschiedlich angewandt würde.

34

Zum Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Unionsrechts unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. die Rechtssicherheit und die Autorität gerichtlicher Entscheidungen (vgl. in diesem Sinne Urteil BBVA, C‑8/14, EU:C:2015:731, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht, wie sich aus der von ihm vorgenommenen Auslegung ergibt, unter Umständen wie denen des vorliegenden Falls verpflichtet ist, die bei ihm anhängige Individualklage nach Art. 43 ZPG auszusetzen, bis ein rechtskräftiges Urteil im Verbandsverfahren ergangen ist, das für die Entscheidung über die Individualklage herangezogen werden kann, und der Verbraucher daher seine ihm in der Richtlinie 93/13 eingeräumten Rechte nicht mehr individuell geltend machen kann, indem er sich von dieser Verbandsklage löst.

36

Dies ist in Anbetracht der Unterschiede der durch diese Klagen konkretisierten Verbraucherschutzmechanismen nach Gegenstand und Art, wie sie sich aus den Rn. 21 bis 29 des vorliegenden Urteils ergeben, geeignet, die Effektivität des mit dieser Richtlinie beabsichtigten Schutzes zu beeinträchtigen.

37

Zum einen ist der Verbraucher nämlich an das Ergebnis der Verbandsklage auch dann zwingend gebunden, wenn er entschieden hat, sich nicht daran zu beteiligen, und die dem nationalen Gericht nach Art. 43 ZPG obliegende Verpflichtung hindert dieses daran, die Umstände des bei ihm anhängigen Falls selbst zu prüfen. Insbesondere werden für die Zwecke der Entscheidung des individuellen Rechtsstreits weder die Frage, ob die vorgeblich missbräuchliche Klausel einzeln ausgehandelt wurde, noch die Art der Güter oder Dienstleistungen, die Gegenstand des fraglichen Vertrags sind, maßgebend sein.

38

Zum anderen ist der Verbraucher nach Art. 43 ZPG, wie er vom vorlegenden Gericht ausgelegt wird, vom Zeitpunkt des Erlasses einer gerichtlichen Entscheidung über die Verbandsklage abhängig, ohne dass das nationale Gericht beurteilen dürfte, ob die Aussetzung des Individualverfahrens bis zum Erlass eines rechtskräftigen Urteils im Verbandsverfahren unter diesem Gesichtspunkt sachgerecht ist.

39

Eine solche nationale Regelung erweist sich daher als unvollständig und unzureichend und stellt ein Mittel dar, das entgegen den Vorgaben von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 weder angemessen noch wirksam ist, um der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende zu setzen.

40

Dies gilt erst recht, wenn der Verbraucher, wie sich aus der Vorlageentscheidung ergibt, nach innerstaatlichem Recht, wenn er sich an der Verbandsklage beteiligen will, Einschränkungen im Zusammenhang mit der Bestimmung des zuständigen Gerichts und den Klagegründen, die vorgebracht werden können, unterliegt. Zudem verliert er zwangsläufig die ihm im Rahmen einer Individualklage zustehenden Rechte, nämlich auf Berücksichtigung aller seinen Fall kennzeichnenden Umstände, sowie die Möglichkeit, auf die Nichtanwendung einer missbräuchlichen Klausel zu verzichten, und zwar erst recht, wenn er sich nicht von der Verbandsklage lösen kann.

41

In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus darauf hinzuweisen, dass ein solcher Mangel an Effektivität nicht mit der Notwendigkeit, die Kohärenz gerichtlicher Entscheidungen zu wahren, gerechtfertigt werden kann, da die unterschiedliche Art der im Rahmen einer Verbandsklage und im Rahmen einer Individualklage ausgeübten gerichtlichen Kontrolle, wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, grundsätzlich die Gefahr widersprüchlicher gerichtlicher Entscheidungen ausräumen sollte.

42

Was ferner die Notwendigkeit betrifft, eine Überlastung der Gerichte zu vermeiden, so kann die effektive Wahrnehmung der den Verbrauchern in der Richtlinie 93/13 zuerkannten subjektiven Rechte nicht durch Erwägungen, die die Gerichtsorganisation eines Mitgliedstaats betreffen, in Frage gestellt werden.

43

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das mit einer Individualklage eines Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel eines mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrags befasste Gericht dieses Verfahren automatisch aussetzen muss, bis ein rechtskräftiges Urteil in einem anhängigen Verbandsklageverfahren ergangen ist, das eine Verbraucherschutzvereinigung auf der Grundlage von Abs. 2 dieses Artikels angestrengt hat, damit der Verwendung von Klauseln wie der von der Individualklage erfassten in derartigen Verträgen ein Ende gesetzt wird, ohne dass berücksichtigt werden dürfte, ob eine solche Aussetzung im Hinblick auf den Schutz des Verbrauchers, der das Gericht individuell angerufen hat, sachgerecht ist, und ohne dass sich dieser Verbraucher von der Verbandsklage lösen könnte.

Kosten

44

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 7 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der in den Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach der das mit einer Individualklage eines Verbrauchers auf Feststellung der Missbräuchlichkeit einer Klausel eines mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrags befasste Gericht dieses Verfahren automatisch aussetzen muss, bis ein rechtskräftiges Urteil in einem anhängigen Verbandsklageverfahren ergangen ist, das eine Verbraucherschutzvereinigung auf der Grundlage von Abs. 2 dieses Artikels angestrengt hat, damit der Verwendung von Klauseln wie der von der Individualklage erfassten in derartigen Verträgen ein Ende gesetzt wird, ohne dass berücksichtigt werden dürfte, ob eine solche Aussetzung im Hinblick auf den Schutz des Verbrauchers, der das Gericht individuell angerufen hat, sachgerecht ist, und ohne dass sich dieser Verbraucher von der Verbandsklage lösen könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Spanisch.

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