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Document 62013CJ0470

Urteil des Gerichtshofes (Zehnte Kammer) vom 18. Dezember 2014.
Generali-Providencia Biztosító Zrt gegen Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság.
Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság [Ungarn].
Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Aufträge, die den in der Richtlinie 2004/18/EG vorgesehenen Schwellenwert nicht erreichen – Art. 49 AEUV und 56 AEUV – Anwendbarkeit – Eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse – Gründe für den Ausschluss von einem Vergabeverfahren – Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers, der einen Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht begangen hat, der durch ein vor weniger als fünf Jahren ergangenes Urteil festgestellt wurde – Zulässigkeit – Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C‑470/13.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:2469

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

18. Dezember 2014 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Öffentliche Aufträge — Aufträge, die den in der Richtlinie 2004/18/EG vorgesehenen Schwellenwert nicht erreichen — Art. 49 AEUV und 56 AEUV — Anwendbarkeit — Eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse — Gründe für den Ausschluss von einem Vergabeverfahren — Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers, der einen Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht begangen hat, der durch ein vor weniger als fünf Jahren ergangenes Urteil festgestellt wurde — Zulässigkeit — Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑470/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Ungarn) mit Entscheidung vom 23. August 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 2. September 2013, in dem Verfahren

Generali-Providencia Biztosító Zrt

gegen

Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Vajda (Berichterstatter), sowie der Richter E. Juhász und D. Šváby,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. September 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Generali-Providencia Biztosító Zrt, vertreten durch G. Fejes und P. Tasi, ügyvédek,

der Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság, vertreten durch P. Csanádi, ügyvéd,

der ungarischen Regierung, vertreten durch Z. Fehér und K. Szíjjártó als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, vertreten durch J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Tokár und A. Sipos als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 18 AEUV, 34 AEUV, 49 AEUV und 56 AEUV sowie des Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c und d der Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. L 134, S. 114) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1177/2009 der Kommission vom 30. November 2009 (ABl. L 314, S. 64) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2004/18).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Generali‑Providencia Biztosító Zrt (im Folgenden: Generali) und der Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság (Schiedskommission des Amtes für das öffentliche Auftragswesen) wegen der Zurückweisung des Rechtsbehelfs, den diese Gesellschaft bei der Schiedskommission gegen die Entscheidung, sie wegen eines zuvor begangenen Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht von einem Vergabeverfahren auszuschließen, eingelegt hatte.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 heißt es:

„Die Vergabe von Aufträgen in den Mitgliedstaaten auf Rechnung des Staates, der Gebietskörperschaften und anderer Einrichtungen des öffentlichen Rechts ist an die Einhaltung der im Vertrag niedergelegten Grundsätze gebunden, insbesondere des Grundsatzes des freien Warenverkehrs, des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit und des Grundsatzes der Dienstleistungsfreiheit sowie der davon abgeleiteten Grundsätze wie z. B. des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung, des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Grundsatzes der Transparenz …“

4

Art. 7 Buchst. b dieser Richtlinie sieht u. a. bei öffentlichen Liefer- und Dienstleistungsaufträgen, die von anderen als den in Anhang IV genannten öffentlichen Auftraggebern vergeben werden, einen Schwellenwert von 193000 Euro für die Anwendung der Richtlinie vor.

5

Art. 45 („Persönliche Lage des Bewerbers bzw. Bieters“) Abs. 2 der Richtlinie bestimmt:

„Von der Teilnahme am Vergabeverfahren kann jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden,

c)

[der] aufgrund eines nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Landes rechtskräftigen Urteils wegen eines Deliktes bestraft worden [ist], das [seine] berufliche Zuverlässigkeit in Frage stellt;

d)

[der] im Rahmen [seiner] beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde;

Die Mitgliedstaaten legen nach Maßgabe ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unter Beachtung des Gemeinschaftsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Absatzes fest.“

6

Im 101. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. L 94, S. 65) heißt es:

„Öffentliche Auftraggeber sollten ferner die Möglichkeit erhalten, Wirtschaftsteilnehmer auszuschließen, die sich als unzuverlässig erwiesen haben, beispielsweise wegen Verstoßes gegen umwelt- oder sozialrechtliche Verpflichtungen, einschließlich Vorschriften zur Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderungen, oder wegen anderer Formen schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens wie der Verletzung von Wettbewerbsregeln oder Rechten des geistigen Eigentums. Es sollte klargestellt werden, dass schwerwiegendes berufliches Fehlverhalten die Integrität eines Wirtschaftsteilnehmers in Frage stellen und dazu führen kann, dass er – auch wenn er ansonsten über die technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zur Auftragsausführung verfügen würde – als für die Vergabe eines öffentlichen Auftrags ungeeignet betrachtet wird …“

7

Art. 57 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 bestimmt:

„Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:

d)

der öffentliche Auftraggeber verfügt über hinreichend plausible Anhaltspunkte dafür, dass der Wirtschaftsteilnehmer mit anderen Wirtschaftsteilnehmern Vereinbarungen getroffen hat, die auf eine Verzerrung des Wettbewerbs abzielen;

…“

Ungarisches Recht

8

§ 61 Abs. 1 des Gesetzes Nr. CXXIX aus dem Jahr 2003 über die Vergabe öffentlicher Aufträge (közbeszerzésekről szóló 2003, évi CXXIX. törvény, Magyar Közlöny 2003/157, im Folgenden: Kbt) sieht vor:

„Der Auftraggeber kann in der Ausschreibung bestimmen, dass in dem Verfahren nicht Bieter, Subunternehmer oder Zulieferer, der mehr als 10 % des Gesamtbetrags des Auftrags abdecken will, oder Subunternehmer im Sinne der Buchst. d und e sein darf, wer

a)

einen mit seiner wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit in Zusammenhang stehenden Rechtsverstoß begangen hat, der durch ein – vor nicht mehr als fünf Jahren erlassenes – rechtskräftiges Urteil festgestellt worden ist;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

Die Gazdasági Versenyhivatal (Wettbewerbsbehörde) stellte mit Bescheid vom 21. Dezember 2006 fest, dass zwischen Generali und verschiedenen Automobilvertragshändlern einige vertikale Absprachen getroffen worden waren, die gegen das nationale Wettbewerbsrecht verstießen, und verhängte eine Geldbuße gegen Generali. Das im Berufungsverfahren mit der Sache befasste Fővárosi Ítélőtábla (Hauptstädtisches Berufungsgericht) bestätigte die Entscheidung mit einem als „jogerős“ (rechtskräftig) bezeichneten Urteil. Gegen dieses Urteil wurde Revision beim Magyar Köztársaság Legfelsőbb Bírósága (Obersten Gerichtshof) eingelegt, der daraufhin dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegte, die mit dem Urteil Allianz Hungária Biztosító u. a. (C‑32/11, EU:C:2013:160) beantwortet wurde.

10

Am 5. Dezember 2011 veröffentlichte die Nemzeti Adó- és Vámhivatal (Nationale Steuer- und Zollverwaltung) eine Ausschreibung zur Vergabe eines Auftrags über Versicherungsdienstleistungen. Der Auftraggeber gab in der Ausschreibung bei den die persönliche Lage des Bewerbers betreffenden Ausschlussgründen die in den §§ 61 Abs. 1 Buchst. a bis c und 62 Abs. 1 Kbt genannten Gründe an.

11

Aufgrund dieser Ausschreibung reichte Generali fristgerecht ein Angebot ein.

12

Der Auftraggeber informierte Generali über seine Entscheidung, sie vom betreffenden Vergabeverfahren auszuschließen, weil sie aufgrund ihres durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigten Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht unter den Ausschlussgrund des § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt falle.

13

Nachdem ihr im Verwaltungsweg eingelegter Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des Auftraggebers zurückgewiesen worden war, erhob Generali Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Gericht), wobei die bei diesem anhängigen verwaltungsrechtlichen Streitsachen später vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Gericht für Verwaltungs- und Arbeitssachen) übernommen wurden.

14

Das vorlegende Gericht wirft die Frage auf, ob der Grund, aus dem Generali vom betreffenden Vergabeverfahren ausgeschlossen wurde, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Es verweist darauf, dass nach Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c und d der Richtlinie 2004/18 ein Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einer Ausschreibung ausgeschlossen werden dürfe, wenn objektive Umstände im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit dieses Wirtschaftsteilnehmers erfüllt seien. Das vorlegende Gericht geht zwar davon aus, dass Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, weil der von Generali begangene Verstoß nach nationalem Recht nicht als Delikt qualifiziert werde. Es möchte aber wissen, ob unter diesen Umständen möglicherweise Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. d der Richtlinie anwendbar ist.

15

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts berühren angesichts der Auslegung, die der Gerichtshof dem in dieser Bestimmung enthaltenen Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ in seinem Urteil Forposta und ABC Direct Contact (C‑465/11, EU:C:2012:801) gegeben habe, die Verhaltensweisen, die der Wirtschaftsteilnehmer mit Rücksicht auf die Erfordernisse der Lauterkeit der Geschäfte einzuhalten oder zu unterlassen habe, seine berufliche Glaubwürdigkeit. Daher falle eine gegen das Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen verstoßende Verhaltensweise, die durch ein rechtskräftiges Urteil nachgewiesen werde, unter diesen Begriff. Die Schwere des Verstoßes sei anhand des konkreten Verhaltens des Wirtschaftsteilnehmers zu beurteilen.

16

Wäre dagegen anzunehmen, dass ein solcher Verstoß die berufliche Glaubwürdigkeit des Wirtschaftsteilnehmers nicht berühre oder nicht zu einem Verstoß gegen berufsethische Regelungen des Berufsstands führe, dem der Wirtschaftsteilnehmer angehöre, so könnte dieser nicht gestützt auf Art. 45 Abs. 2 der Richtlinie 2004/18 wegen eines Verstoßes gegen das nationale Wettbewerbsrecht von der Teilnahme am Vergabeverfahren ausgeschlossen werden, da diese Bestimmung eine abschließende Aufzählung der Gründe enthalte, die den Ausschluss eines solchen Wirtschaftsteilnehmers im Zusammenhang mit seiner beruflichen Eignung rechtfertigten.

17

Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts wäre es durch eine solche Auslegung gezwungen, von der Anwendung des § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt abzusehen, zumal das nationale Vergaberecht, wie aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 hervorgehe, die wesentlichen Grundsätze des Unionsrechts zu beachten habe. Insoweit könne die von der Közbeszerzési Hatóság Közbeszerzési Döntőbizottság vorgenommene Auslegung von § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt der Ausübung der durch das Unionsrecht garantierten Grundfreiheiten entgegenstehen, da diese Vorschrift weder die Merkmale noch die Schwere des Verstoßes, den der Wirtschaftsteilnehmer im Zusammenhang mit seiner wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit begangen haben müsse, konkretisiere, sondern vorsehe, dass es bereits deswegen zum Ausschluss des Wirtschaftsteilnehmers von der Teilnahme am Vergabeverfahren komme, weil ein Gerichtsverfahren wegen dieses Verstoßes durchgeführt worden sei.

18

Unter diesen Umständen hat das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Können die Mitgliedstaaten aus anderen Gründen als den in Art. 45 der Richtlinie 2004/18 aufgeführten – insbesondere aus Gründen, die unter dem Gesichtspunkt des Schutzes öffentlicher Interessen, der legitimen Interessen der Auftraggeber oder des lauteren Wettbewerbs und der Aufrechterhaltung der Lauterkeit des Wettbewerbs gerechtfertigt erscheinen – bestimmen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausgeschlossen wird, und, falls ja, ist es mit dem zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie sowie mit den Art. 18 AEUV, 34 AEUV, 49 AEUV und 56 AEUV vereinbar, einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem solchen Verfahren auszuschließen, wenn durch ein – vor nicht mehr als fünf Jahren erlassenes – rechtskräftiges Gerichtsurteil im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers festgestellt worden ist, dass dieser einen Rechtsverstoß begangen hat?

2.

Wenn der Gerichtshof die erste Frage verneint, sind dann die Bestimmungen des Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2004/18, insbesondere dessen Buchst. c und d, dahin auszulegen, dass ein Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden kann, wenn ihn eine Behörde und/oder ein Gericht in einem wegen seiner wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit eingeleiteten Verfahren in Wettbewerbssachen verurteilt und ihm gegenüber wegen eines Rechtsverstoßes wettbewerbsrechtliche Konsequenzen anordnet?

Zu den Vorlagefragen

19

Vorab ist festzustellen, dass zwar – wie das vorlegende Gericht ausführt – § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt den Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers von einem Vergabeverfahren wegen jedes im Zusammenhang mit seiner wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit begangenen Verstoßes zulässt, ohne die Merkmale oder die Schwere eines solchen Verstoßes zu konkretisieren, dass aber Generali gestützt auf diese Vorschrift von dem im Ausgangsverfahren fraglichen Vergabeverfahren ausgeschlossen wurde, weil sie einen Verstoß gegen das nationale Wettbewerbsrecht begangen hatte, der durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil bestätigt wurde und für den eine Geldbuße gegen sie verhängt wurde.

20

Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, wissen möchte, ob die Art. 18 AEUV, 34 AEUV, 49 AEUV und 56 AEUV sowie Art. 45 Abs. 2 Unterabs. 1 Buchst. c und d der Richtlinie 2004/18 der Anwendung einer nationalen Regelung entgegenstehen, durch die ein Wirtschaftsteilnehmer, der einen durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellten Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat, für den er mit einer Geldbuße belegt wurde, von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausgeschlossen wird.

21

Was erstens die Vorschriften der Richtlinie 2004/18 betrifft, um die es in den Vorlagefragen geht, haben sowohl Generali in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung als auch die ungarische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen angegeben, dass der Wert des im Ausgangsverfahren fraglichen Auftrags unter dem in Art. 7 Buchst. b erster Gedankenstrich der Richtlinie festgelegten Schwellenwert liegt, der nach Ansicht der ungarischen Regierung maßgeblich ist, da die nationale Steuer- und Zollverwaltung in Anhang IV der Richtlinie nicht genannt sei. Folglich sei die Richtlinie 2004/18 vorbehaltlich einer Nachprüfung durch das vorlegende Gericht auf diesen Auftrag nicht anwendbar.

22

In der mündlichen Verhandlung haben jedoch Generali und die Europäische Kommission ausgeführt, dass die ungarische Regelung zur Umsetzung der Richtlinie 2004/18 sowohl auf Aufträge, die die in Art. 7 der Richtlinie festgelegten Schwellenwerte erreichten, als auch auf unter diesen Werten liegenden Aufträge Anwendung finde. In diesem Zusammenhang haben sie daran erinnert, dass der Gerichtshof seine Zuständigkeit für die Entscheidung über Vorabentscheidungsersuchen bejaht hat, die Vorschriften eines Rechtsakts der Europäischen Union in Fällen betrafen, in denen der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich dieses Rechtsakts fiel, aber die genannten Vorschriften durch das nationale Recht aufgrund eines darin enthaltenen Verweises auf ihren Inhalt für anwendbar erklärt worden waren (vgl. in diesem Sinne Urteile Dzodzi, C‑297/88 und C‑197/89, EU:C:1990:360, Rn. 36, und Nolan, C‑583/10, EU:C:2012:638, Rn. 45).

23

Der Gerichtshof hat tatsächlich bereits entschieden, dass die Auslegung der Vorschriften eines Rechtsakts der Union in Sachverhalten, die nicht in den Geltungsbereich dieses Rechtsakts fallen, gerechtfertigt ist, wenn diese Vorschriften vom nationalen Recht unmittelbar und unbedingt für auf diese Sachverhalte anwendbar erklärt worden sind, um zu gewährleisten, dass diese Sachverhalte und die durch den betreffenden Rechtsakt geregelten Sachverhalte gleich behandelt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Nolan, EU:C:2012:638, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24

Das ist jedoch im Ausgangsverfahren nicht der Fall.

25

Weder aus der Vorlageentscheidung noch aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht hervor, dass das ungarische Recht eine Vorschrift enthielte, durch die die Richtlinie 2004/18 unmittelbar und unbedingt für auf öffentliche Aufträge anwendbar erklärt würde, deren Wert den maßgeblichen Schwellenwert des Art. 7 der Richtlinie nicht erreicht.

26

Somit besteht für den Gerichtshof kein Anlass, für das vorlegende Gericht eine Auslegung der in den Vorlagefragen genannten Vorschriften der Richtlinie 2004/18 vorzunehmen, damit dieses Gericht den bei ihm anhängigen Ausgangsrechtsstreit entscheiden kann.

27

Zweitens ist in Bezug auf die vom vorlegenden Gericht angeführten Bestimmungen des AEU-Vertrags darauf hinzuweisen, dass ein Auftrag, wenn er nicht unter die Richtlinie 2004/18 fällt, weil er nicht den in deren Art. 7 festgelegten maßgeblichen Schwellenwert erreicht, den Grundregeln und den allgemeinen Grundsätzen des Vertrags unterliegt, sofern an diesem Auftrag insbesondere wegen seiner Bedeutung und des Ortes seiner Ausführung ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht (vgl. in diesem Sinne Urteile Ordine degli Ingegneri della Provincia di Lecce u. a., C‑159/11, EU:C:2012:817, Rn. 23, und Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici, C‑358/12, EU:C:2014:2063, Rn. 24).

28

Das vorlegende Gericht hat allerdings nicht die Gesichtspunkte festgestellt, die erforderlich sind, damit der Gerichtshof prüfen kann, ob im Ausgangsverfahren ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse besteht. Der Gerichtshof muss jedoch, wie sich aus Art. 94 seiner Verfahrensordnung in ihrer am1. November 2012 in Kraft getretenen Fassung ergibt, einem Vorabentscheidungsersuchen eine Darstellung der tatsächlichen Umstände, auf denen die Fragen beruhen, und des Zusammenhangs zwischen diesen Umständen und den Fragen entnehmen können. Die Feststellung der Gesichtspunkte, die erforderlich sind, um das Bestehen eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses prüfen zu können, sowie ganz allgemein sämtliche Feststellungen, die von den nationalen Gerichten zu treffen sind und von denen die Anwendbarkeit eines Aktes des Sekundärrechts oder des Primärrechts der Union abhängt, sollten daher vor einer Befassung des Gerichtshofs erfolgen (vgl. Urteil Azienda sanitaria locale n. 5 „Spezzino“ u. a., C‑113/13, EU:C:2014:2440, Rn. 47).

29

Hat das vorlegende Gericht in Bezug auf das Bestehen eines eindeutigen grenzüberschreitenden Interesses keine derartigen vorherigen Feststellungen getroffen, so führt dies in Anbetracht der Zusammenarbeit, die das Verhältnis zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens kennzeichnet, nicht zur Unzulässigkeit des Ersuchens, sofern sich der Gerichtshof trotz dieser Unzulänglichkeiten in der Lage sieht, dem vorlegenden Gericht anhand der in der Akte enthaltenen Angaben eine sachdienliche Antwort zu geben. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Vorlageentscheidung genügend einschlägige Angaben enthält, damit beurteilt werden kann, ob ein derartiges Interesse besteht. Die Antwort des Gerichtshofs steht allerdings unter der Prämisse, dass das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren nach eingehender Würdigung aller maßgeblichen Gegebenheiten des Falles ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse feststellt (vgl. Urteil Azienda sanitaria locale n. 5 „Spezzino“ u. a., EU:C:2014:2440, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung). Unter diesem Vorbehalt werden die folgenden Ausführungen gemacht.

30

In Bezug auf die in den Fragen genannten Bestimmungen des AEU-Vertrags geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Auftrag die Erbringung von Versicherungsdienstleistungen betrifft. Somit kann Art. 34 AEUV, der den freien Warenverkehr betrifft, nicht anwendbar sein. Dagegen sind die Art. 49 AEUV und 56 AEUV über die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr als für das Ausgangsverfahren einschlägig anzusehen.

31

Da diese letztgenannten Bestimmungen besondere Anwendungsfälle des in Art. 18 AEUV niedergelegten allgemeinen Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellen, bedarf es zur Beantwortung der Vorlagefragen keiner Bezugnahme auf diesen Artikel (vgl. in diesem Sinne Urteil Wall, C‑91/08, EU:C:2010:182, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Da die Art. 49 AEUV und 56 AEUV auf einen Auftrag wie den im Ausgangsverfahren fraglichen anwendbar sind, wenn er ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse aufweist, müssen die öffentlichen Auftraggeber das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sowie die Transparenzpflicht beachten, die sich aus diesen Artikeln ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil Wall, EU:C:2010:182, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Nichts in den dem Gerichtshof vorgelegten Akten oder den Erklärungen der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union bezeichneten Beteiligten erlaubt die Feststellung, dass die Anwendung des Ausschlussgrundes nach § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren fraglichen eine – zumindest mittelbare – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit oder einen Verstoß gegen die Transparenzpflicht darstellen könnte. Insoweit ist daran zu erinnern, dass der öffentliche Auftraggeber in der Ausschreibung ausdrücklich angegeben hat, dass der in dieser Vorschrift des Kbt genannte Ausschlussgrund für den Auftrag gelte.

34

In Bezug auf den Ausschluss von Wirtschaftsteilnehmern von einem öffentlichen Auftrag im Kontext der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs nach den Art. 49 AEUV und 56 AEUV ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 45 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 jeder Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden kann, der „im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen [hat], die vom öffentlichen Auftraggeber nachweislich festgestellt wurde“.

35

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Begriff „Verfehlung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit“ im Sinne der letztgenannten Vorschrift jedes fehlerhafte Verhalten umfasst, das Einfluss auf die berufliche Glaubwürdigkeit des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers hat, und nicht nur Verstöße gegen berufsethische Regelungen im engen Sinne des Berufsstands, dem dieser Wirtschaftsteilnehmer angehört (vgl. in diesem Sinne Urteil Forposta und ABC Direct Contact, EU:C:2012:801, Rn. 27). Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Begehung eines Verstoßes gegen Wettbewerbsrecht, insbesondere wenn dieser Verstoß mit einer Geldbuße geahndet wird, einen unter Art. 45 Abs. 2 Buchst. d der Richtlinie 2004/18 fallenden Ausschlussgrund darstellt.

36

Wenn ein solcher Ausschluss nach der Richtlinie 2004/18 möglich ist, ist er erst recht bei öffentlichen Aufträgen als gerechtfertigt anzusehen, die nicht den in Art. 7 der Richtlinie festgelegten Schwellenwert erreichen und daher nicht den in der Richtlinie vorgesehenen besonderen und strengen Verfahren unterworfen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Consorzio Stabile Libor Lavori Pubblici, EU:C:2014:2063, Rn. 37).

37

Im Übrigen ergibt sich aus dem 101. Erwägungsgrund der nach den im Ausgangsverfahren maßgeblichen Ereignissen erlassenen Richtlinie 2014/24, wonach die öffentlichen Auftraggeber die Möglichkeit erhalten sollten, Wirtschaftsteilnehmer z. B. wegen eines schwerwiegenden beruflichen Fehlverhaltens wie der Verletzung von Wettbewerbsregeln auszuschließen, da ein solches Fehlverhalten die Integrität eines Wirtschaftsteilnehmers in Frage stellen kann, dass der oben in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannte Ausschlussgrund im Hinblick auf das Unionsrecht als gerechtfertigt anzusehen ist. Überdies ist dieser Ausschlussgrund in Art. 57 Abs. 4 Buchst. d der Richtlinie klar und eindeutig vorgesehen.

38

Wie Generali in der mündlichen Verhandlung präzisiert hat, bestreitet sie nicht, dass die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Regelungen einen Grund für den Ausschluss von einem Vergabeverfahren vorsehen können, der auf einen Verstoß des betreffenden Wirtschaftsteilnehmers gegen das Wettbewerbsrecht gestützt ist. Sie beanstandet aber die Reichweite von § 61 Abs. 1 Buchst. a Kbt, bei dem es sich ihrer Ansicht nach um einen allgemeinen Ausschlussgrund handelt, der weit über den Rahmen der Ausschlussgründe des Art. 45 der Richtlinie 2004/18 hinausgehe. Wie jedoch in Rn. 19 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, betrifft das Ausgangsverfahren den Ausschluss von Generali von der Teilnahme an der fraglichen Ausschreibung wegen eines von ihr begangenen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht, für den eine Geldbuße gegen sie verhängt wurde. Somit ist eine Prüfung der Vereinbarkeit anderer von dieser Vorschrift des ungarischen Rechts möglicherweise gedeckter Ausschlussgründe mit dem Unionsrecht für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens nicht erheblich.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 49 AEUV und 56 AEUV der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, durch die ein Wirtschaftsteilnehmer, der einen durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellten Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat, für den er mit einer Geldbuße belegt wurde, von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausgeschlossen wird.

Kosten

40

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Die Art. 49 AEUV und 56 AEUV stehen der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen, durch die ein Wirtschaftsteilnehmer, der einen durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil festgestellten Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht begangen hat, für den er mit einer Geldbuße belegt wurde, von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausgeschlossen wird.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

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