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Document 62012CJ0446

Urteil des Gerichtshofs (Vierte Kammer) vom 16. April 2015.
W. P. Willems u. a. gegen Burgemeester van Nuth u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Biometrischer Pass – Biometrische Daten – Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 – Art. 1 Abs. 3 – Art. 4 Abs. 3 – Nutzung gesammelter Daten zu anderen Zwecken als zur Ausstellung von Pässen und Reisedokumenten – Einrichtung und Nutzung von Datenbanken, die biometrische Daten enthalten – Gesetzliche Garantien – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 7 und 8 – Richtlinie 95/46/EG – Art. 6 und 7 – Recht auf Achtung des Privatlebens – Recht auf den Schutz personenbezogener Daten – Anwendung auf Personalausweise.
Verbundene Rechtssachen C-446/12 bis C-449/12.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2015:238

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

16. April 2015 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Biometrischer Pass — Biometrische Daten — Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 — Art. 1 Abs. 3 — Art. 4 Abs. 3 — Nutzung gesammelter Daten zu anderen Zwecken als zur Ausstellung von Pässen und Reisedokumenten — Einrichtung und Nutzung von Datenbanken, die biometrische Daten enthalten — Gesetzliche Garantien — Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Art. 7 und 8 — Richtlinie 95/46/EG — Art. 6 und 7 — Recht auf Achtung des Privatlebens — Recht auf den Schutz personenbezogener Daten — Anwendung auf Personalausweise“

In den verbundenen Rechtssachen C‑446/12 bis C‑449/12

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Niederlande) mit Entscheidungen vom 28. September 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Oktober 2012 (C‑446/12), am 5. Oktober 2012 (C‑447/12) und am 8. Oktober 2012 (C‑448/12 und C‑449/12), in den Verfahren

W. P. Willems (C‑446/12)

gegen

Burgemeester van Nuth

und

H. J. Kooistra (C‑447/12)

gegen

Burgemeester van Skarsterlân

und

M. Roest (C‑448/12)

gegen

Burgemeester van Amsterdam

und

L. J. A. van Luijk (C‑449/12)

gegen

Burgemeester van Den Haag

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe, der Richter J. Malenovský (Berichterstatter) und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzlerin: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. November 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von W. P. Willems, durch ihn selbst,

von H. J. Kooistra, durch ihn selbst,

von M. Roest und L. J. A. van Luijk, vertreten durch J. Hemelaar, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer, M. Bulterman und H. Stergiou als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch F.‑X. Bréchot als Bevollmächtigten,

der Schweizer Regierung, vertreten durch D. Klingele als Bevollmächtigten,

des Europäischen Parlaments, vertreten durch P. Schonard und R. van de Westelaken als Bevollmächtigte,

des Rates der Europäischen Union, vertreten durch E. Sitbon, I. Gurov und K. Michoel als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Martenczuk und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Abs. 3 und Art. 4 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 des Rates vom 13. Dezember 2004 über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten (ABl. L 385, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 444/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 (ABl. L 142, S. 1, berichtigt im ABl. L 188, S. 127) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2252/2004).

2

Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Willems, Herrn Kooistra, Frau Roest und Frau Luijk einerseits und dem Burgemeester van Nuth, dem Burgemeester van Skarsterlân, dem Burgemeester van Amsterdam und dem Burgemeester van Den Haag (im Folgenden: Bürgermeister) andererseits über die Weigerung Letzterer, den Klägern der Ausgangsverfahren einen Pass (C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12) oder einen Personalausweis (C‑447/12) auszustellen, ohne dass zugleich ihre biometrischen Daten erhoben werden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. b Satz 1 der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (ABl. L 281, S. 31) müssen die Mitgliedstaaten vorsehen, dass personenbezogene Daten für festgelegte eindeutige und rechtmäßige Zwecke erhoben und nicht in einer mit diesen Zweckbestimmungen nicht zu vereinbarenden Weise weiterverarbeitet werden. Nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. c müssen diese Daten den Zwecken entsprechen, für die sie erhoben und/oder weiterverarbeitet werden, müssen dafür erheblich sein und dürfen nicht darüber hinausgehen.

4

Art. 7 Buchst. c, e und f dieser Richtlinie bestimmt, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten lediglich erfolgen darf, wenn sie erforderlich ist „für die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung …, der der für die Verarbeitung Verantwortliche unterliegt“, „für die Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt erfolgt und dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder dem Dritten, dem die Daten übermittelt werden, übertragen wurde“, oder „zur Verwirklichung des berechtigten Interesses, das von dem für die Verarbeitung Verantwortlichen oder von dem bzw. den Dritten wahrgenommen wird, denen die Daten übermittelt werden, sofern nicht das Interesse oder die Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die gemäß Artikel 1 Absatz 1 geschützt sind, überwiegen“.

5

Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L 158, S. 77) bestimmt:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften haben alle Unionsbürger, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, das Recht, das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlassen und sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben.“

6

Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften gestatten die Mitgliedstaaten Unionsbürgern, die einen gültigen Personalausweis oder Reisepass mit sich führen, und ihren Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die einen gültigen Reisepass mit sich führen, die Einreise.“

7

Art. 1 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 bestimmt:

„(2)   Die Pässe und Reisedokumente sind mit einem Speichermedium mit einem hohen Sicherheitsstandard zu versehen, das ein Gesichtsbild enthält. Die Mitgliedstaaten fügen auch zwei Fingerabdrücke, die bei flach aufgelegten Fingern abgenommen werden, in interoperablen Formaten hinzu. Die Daten sind zu sichern, und das Speichermedium muss eine ausreichende Kapazität aufweisen und geeignet sein, die Integrität, die Authentizität und die Vertraulichkeit der Daten sicherzustellen.

(3)   Diese Verordnung findet auf von den Mitgliedstaaten ausgestellte Pässe und Reisedokumente Anwendung. Sie findet keine Anwendung auf Personalausweise, die Mitgliedstaaten eigenen Staatsangehörigen ausstellen, oder auf vorläufige Pässe und Reisedokumente mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger.“

8

Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 dieser Verordnung lautet:

„Biometrische Daten werden im Speichermedium von Pässen und Reisedokumenten im Hinblick auf die Ausstellung solcher Dokumente erfasst und gespeichert. Für die Zwecke dieser Verordnung dürfen biometrische Daten in Pässen und Reisedokumenten nur verwendet werden, um:

a)

die Authentizität des Passes oder Reisedokuments zu prüfen,

b)

die Identität des Inhabers durch direkt verfügbare abgleichbare Merkmale zu überprüfen, wenn die Vorlage eines Passes oder Reisedokuments gesetzlich vorgeschrieben ist.“

9

Im fünften Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 444/2009, mit der die Verordnung Nr. 2252/2004 geändert wurde, heißt es:

„Gemäß Verordnung [Nr. 2252/2004] werden biometrische Daten im Speichermedium von Pässen und Reisedokumenten im Hinblick auf die Ausstellung solcher Dokumente erfasst und gespeichert. Dies gilt unbeschadet jeder sonstigen Nutzung oder Speicherung dieser Daten nach Maßgabe der nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Die Verordnung [Nr. 2252/2004] schafft keine Rechtsgrundlage für die ausschließlich nationalem Recht unterliegende Einrichtung oder Unterhaltung von Datenbanken für die Speicherung dieser Daten in den Mitgliedstaaten.“

Niederländisches Recht

10

Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes zur Festlegung von Regeln für die Erteilung von Reisedokumenten (Rijkswet houdende het stellen van regelen betreffende de verstrekking van reisdocumenten) vom 26. September 1991 (Stb. 1991, Nr. 498, im Folgenden: Passgesetz) stellt der nationale Pass eines der vom Königreich der Niederlande ausgestellten Reisedokumente dar.

11

Nach Art. 2 Abs. 2 dieses Gesetzes stellt der niederländische Personalausweis ein Reisedokument für den europäischen Teil des Königreichs der Niederlande dar, das in den Vertragsstaaten des am 13. Dezember 1957 in Paris geschlossenen Europäischen Übereinkommens über die Regelung des Personenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats gilt.

12

Art. 3 Abs. 3 dieses Gesetzes bestimmte in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung, dass ein Reisedokument mit einem Gesichtsbild, zwei Fingerabdrücken und der Unterschrift des Inhabers versehen sein muss. Nach Art. 3 Abs. 8 dieses Gesetzes führen die zur Ausstellung befugten Behörden ein Register der ausgestellten Reisedokumente.

13

Art. 65 Abs. 1 und 2 des Passgesetzes in der für die Ausgangsverfahren maßgebenden Fassung bestimmte:

„(1)   Die das Reisedokument ausstellende Behörde bewahrt im Register, das in Art. 3 Abs. 8 Satz 2 genannt ist, Folgendes auf:

a)

die in Art. 3 Abs. 3 erwähnten Fingerabdrücke;

b)

zwei weitere, vom Minister festzulegende Fingerabdrücke des Antragstellers eines Reisedokuments.

(2)   Die in Abs. 1 genannten Daten werden ausschließlich an Behörden, Einrichtungen und Personen weitergegeben, die mit der Durchführung dieses Gesetzes betraut sind, soweit sie die Daten hierfür benötigen.“

14

Das Passgesetz enthält außerdem die Art. 4a und 4b, die jedoch in dem für die Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum noch nicht in Kraft getreten waren, da hierzu ein Königlicher Erlass erforderlich ist. Art. 4a dieses Gesetzes sah vor, dass ein Minister ein zentrales Reisedokumentenregister führt, in dem die Daten in Bezug auf Reisedokumente gespeichert werden. Dieses zentrale Register musste die in Art. 3 des Gesetzes genannten Daten und zwei andere als die nach Art. 3 Abs. 3 des Gesetzes in das Reisedokument aufgenommenen Fingerabdrücke des Antragstellers enthalten. Art. 4b des Passgesetzes enthielt nähere Angaben zu den Bedingungen, unter denen die im zentralen Reisedokumentenregister gespeicherten Daten an andere Behörden, Einrichtungen oder Personen übermittelt werden können, und zwar u. a. zur Identifizierung der Opfer von Katastrophen und Unfällen, zur Aufdeckung und Verfolgung von Straftaten sowie zur Durchführung einer Untersuchung in Bezug auf Handlungen, die eine Bedrohung für die Sicherheit des Staates darstellen.

15

Die Art. 3, 4a, 4b und 65 des Passgesetzes wurden mit Wirkung zum 20. Januar 2014 geändert. Nach Art. 3 Abs. 9 dieses Gesetzes, der im Anschluss an diese Gesetzesänderung eingefügt wurde, werden Fingerabdrücke nur für die Dauer des Antrags- und Ausstellungsverfahrens des Reisepasses gespeichert, d. h. bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Reisepass dem Antragsteller ausgestellt wird. Nachdem der neue Reisepass ausgestellt ist, werden die Fingerabdrücke gelöscht. Die Art. 4a und 4b des Gesetzes wurden dahin gehend angepasst, dass sie die zentrale Speicherung der Fingerabdrücke und deren Übermittlung an Dritte nicht mehr vorsehen. Art. 65 Abs. 1 und 2 des Gesetzes wurde aufgehoben und durch Art. 3 Abs. 9 ersetzt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Herr Willems, Frau Roest und Frau van Luijk beantragten die Ausstellung eines Reisepasses. Die jeweils zuständigen Bürgermeister nahmen die Anträge nicht zur Bearbeitung an, da die Betroffenen die Abgabe ihrer Fingerabdrücke verweigerten. Herr Kooistra stellte einen Antrag auf Ausstellung eines niederländischen Personalausweises, der ebenfalls nicht zur Bearbeitung angenommen wurde, da er sich weigerte, seine Fingerabdrücke und ein Gesichtsbild zur Verfügung zu stellen.

17

Die Kläger der Ausgangsverfahren weigerten sich, diese biometrischen Daten zur Verfügung zu stellen, weil deren Eingabe und Speicherung einen schweren Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit und in ihr Recht auf Schutz des Privatlebens darstellten.

18

Dieser Eingriff ergebe sich insbesondere aus der Speicherung der Daten auf drei verschiedenen Medien. Sie würden nämlich nicht nur im Speichermedium des Reisepasses oder des niederländischen Personalausweises, sondern auch in einem dezentralen Register gespeichert. Darüber hinaus erhöhten sich die Sicherheitsrisiken für diese Daten, da das Passgesetz vorsehe, die dezentralen kommunalen Datenregister zu einem späteren Zeitpunkt in einem zentralen Datenregister zusammenzuführen.

19

Darüber hinaus gebe es keine Bestimmungen, die eindeutig festlegten, welche Personen Zugang zu den biometrischen Daten hätten, so dass die Kläger der Ausgangsverfahren die Kontrolle über die Daten verlören.

20

Zudem könnten die Behörden die biometrischen Daten in der Zukunft zu anderen Zwecken als denen verwenden, für die sie erhoben worden seien. Insbesondere könne die Speicherung dieser Daten in einer Datenbank zu gerichtlichen Zwecken sowie von Auskunfts- und Sicherheitsdiensten verwendet werden. Aus der Verordnung Nr. 2252/2004 folge aber, dass für die Zwecke ihrer Anwendung biometrische Daten wie Fingerabdrücke nur zur Prüfung der Authentizität des Dokuments und der Identität des Inhabers verwendet werden dürften. Eine solche Verwendung verstoße überdies gegen die Grundrechte.

21

Nachdem ihre Klagen gegen die Weigerungen der Bürgermeister im ersten Rechtszug abgewiesen worden waren, legten die Kläger der Ausgangsverfahren Berufung zum vorlegenden Gericht ein.

22

Dieses Gericht möchte zunächst wissen, ob der niederländische Personalausweis in der Rechtssache C‑447/12 in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2252/2004 fällt. Insoweit ergebe sich aus dem Unionsrecht im Bereich der Freizügigkeit, dass ein Personalausweis auch ein Reisedokument in der Europäischen Union sei. Darüber hinaus gestatte es dieser Ausweis, in Länder außerhalb der Union zu reisen, nämlich in Bewerberländer für den Beitritt zur Union. Außerdem sei nicht ausgeschlossen, dass Art. 1 Abs. 3 der Verordnung dahin auszulegen sei, dass der Begriff „Personalausweis“ im Sinne dieser Bestimmung in Verbindung mit dem ebenfalls in dieser Bestimmung enthaltenen Ausdruck „mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger“ zu lesen sei. Die Gültigkeitsdauer eines niederländischen Personalausweises betrage aber fünf Jahre.

23

Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass das Ergebnis der Ausgangsverfahren von der Begründetheit des von den Klägern der Ausgangsverfahren vorgetragenen Klagegrundes abhänge, wonach nicht eindeutig erkennbar sei, zu welchen Zwecken die bei der Ausstellung eines Reisepasses oder eines Reisedokuments erhobenen Daten künftig verwendet werden könnten.

24

Das vorlegende Gericht wirft schließlich die Frage auf, ob sich aus der Verordnung Nr. 2252/2004 ergebe, dass von Gesetzes wegen, d. h. durch eine zwingende Regel mit allgemeiner Tragweite, vorgesehen sein müsse, dass die auf der Grundlage der Verordnung gesammelten biometrischen Daten nicht zu anderen als den darin genannten Zwecken verwendet würden.

25

Unter diesen Umständen hat der Raad van State beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof in den Rechtssachen C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12 zwei Fragen und in der Rechtssache C‑447/12 drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

26

Die erste Frage in den Rechtssachen C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12 sowie die zweite Frage in der Rechtssache C‑447/12 betreffen die Gültigkeit von Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2252/2004. Sie entsprechen der Vorlagefrage, zu der das Urteil Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670) ergangen ist.

27

Im Anschluss an dieses Urteil hat das vorlegende Gericht die in der vorstehenden Randnummer genannten Vorlagefragen zurückgenommen.

28

Dagegen hat der Raad van State an seiner ersten Vorlagefrage in der Rechtssache C‑447/12 festgehalten; sie lautet:

Ist Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 dahin zu verstehen, dass die Verordnung auf Personalausweise, die wie der niederländische Personalausweis von den Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen ausgestellt werden, ungeachtet ihrer Gültigkeitsdauer und ungeachtet der Möglichkeiten, sie als Reisedokument zu verwenden, keine Anwendung findet?

29

Ferner hat der Raad van State an der zweiten Frage in den Rechtssachen C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12 sowie der dritten Frage in der Rechtssache C‑447/12 festgehalten, die identisch sind und wie folgt lauten:

Ist Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 im Licht der Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 8 Abs. 2 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und von Art. 7 Buchst. f der Richtlinie 95/46 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie dahin auszulegen, dass zur Durchführung dieser Verordnung durch die Mitgliedstaaten gesetzlich garantiert werden muss, dass die aufgrund der Verordnung erhobenen und gespeicherten biometrischen Daten nicht zu anderen Zwecken als zur Ausstellung des betreffenden Dokuments erhoben, verarbeitet und verwendet werden dürfen?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage in der Rechtssache C‑447/12

30

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 dahin auszulegen ist, dass die Verordnung auf Personalausweise, die wie der niederländische Personalausweis von einem Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ausgestellt werden, ungeachtet ihrer Gültigkeitsdauer und ungeachtet der Möglichkeit, sie bei Auslandsreisen zu verwenden, keine Anwendung findet.

31

Nach ihrem Art. 1 Abs. 3 Satz 2 findet die Verordnung Nr. 2252/2004 keine Anwendung auf Personalausweise, die Mitgliedstaaten eigenen Staatsangehörigen ausstellen, oder auf vorläufige Pässe und Reisedokumente mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger.

32

Als Erstes ist zu prüfen, ob der Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2252/2004 von der Gültigkeitsdauer eines Personalausweises abhängt.

33

Insoweit ergibt sich aus Art. 1 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung, dass durch diese Bestimmung zwei Kategorien von Dokumenten von ihrem Anwendungsbereich ausgenommen werden. Da diese zwei Kategorien durch die Konjunktion „oder“ miteinander verbunden sind, sind sie als gesonderte Kategorien zu verstehen.

34

Diese Schlussfolgerung wird durch den Umstand bestätigt, dass in mehreren Sprachfassungen von Art. 1 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2252/2004, insbesondere in der englischen („temporary passports and travel documents having a validity of 12 months or less“), der deutschen („vorläufige Pässe und Reisedokumente mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger“) und der niederländischen Sprachfassung („tijdelijke paspoorten en reisdocumenten die een geldigheidsduur van 12 maanden of minder hebben“), die Worte „vorläufig“ und „mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger“ auf eine der in der vorstehenden Randnummer genannten Kategorien von Dokumenten, nämlich auf die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Personalausweise, keine Anwendung finden.

35

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass sich die Worte „vorläufig“ und „mit einer Gültigkeitsdauer von zwölf Monaten oder weniger“ nicht auf die von den Mitgliedstaaten ihren eigenen Staatsangehörigen ausgestellten Personalausweise beziehen.

36

Daraus folgt, dass die Verordnung Nr. 2252/2004 nach dem Wortlaut ihres Art. 1 Abs. 3 keine Anwendung auf Personalausweise findet, die Mitgliedstaaten eigenen Staatsangehörigen ausstellen, unabhängig davon, ob es sich um vorläufige Dokumente handelt, und unabhängig von ihrer Gültigkeitsdauer.

37

Dieses Ergebnis wird im Übrigen durch die Entstehungsgeschichte der Verordnung Nr. 2252/2004 bestätigt. Insbesondere aus Art. 1 Abs. 3 des Entwurfs einer Verordnung des Rates über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten (Ratsdokument Nr. 11489/04 vom 26. Juli 2004) ergibt sich nämlich, dass die Verordnung Anwendung finden sollte auf „Pässe und Reisedokumente mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens 12 Monaten. Sie findet keine Anwendung auf Personalausweise, die Mitgliedstaaten eigenen Staatsangehörigen ausstellen.“

38

Als Zweites ist zu prüfen, ob der Umstand, dass ein Personalausweis wie der niederländische Personalausweis für Reisen innerhalb der Union und in bestimmte Drittstaaten verwendet werden kann, dazu führen kann, dass er in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2252/2004 fällt.

39

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass ein Personalausweis wie der niederländische Personalausweis zwar geeignet ist, die Funktion der Identifizierung seines Inhabers gegenüber Drittstaaten, die bilaterale Abkommen mit dem betreffenden Mitgliedstaat geschlossen haben, sowie nach den Art. 4 und 5 der Richtlinie 2004/38 bei Reisen zwischen mehreren Mitgliedstaaten zu erfüllen.

40

Gleichwohl ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 1 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2252/2004 bei einer Auslegung unter Berücksichtigung der Erwägungen in den Rn. 32 bis 37 des vorliegenden Urteils, dass der Unionsgesetzgeber ausdrücklich entschieden hat, Personalausweise, die Mitgliedstaaten eigenen Staatsangehörigen ausstellen, vom Anwendungsbereich dieser Verordnung auszunehmen.

41

Folglich kann der Umstand, dass ein Personalausweis wie der niederländische Personalausweis für Reisen innerhalb der Union und in bestimmte Drittstaaten verwendet werden kann, nicht dazu führen, dass er in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2252/2004 fällt.

42

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die gestellte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 dahin auszulegen ist, dass die Verordnung auf Personalausweise, die wie der niederländische Personalausweis von einem Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ausgestellt werden, ungeachtet ihrer Gültigkeitsdauer und ungeachtet der Möglichkeit, sie bei Auslandsreisen zu verwenden, keine Anwendung findet.

Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12 sowie zur dritten Frage in der Rechtssache C‑447/12

43

Mit diesen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 in Verbindung mit den Art. 6 und 7 der Richtlinie 95/46 sowie den Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, zu garantieren, dass die aufgrund der Verordnung erhobenen und gespeicherten biometrischen Daten nicht zu anderen Zwecken als zur Ausstellung eines Reisepasses oder Reisedokuments erhoben, verarbeitet und verwendet werden.

44

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass in Anbetracht der Antwort, die auf die erste Frage in der Rechtssache C‑447/12 gegeben wurde, die gestellten Fragen nur noch im Zusammenhang mit den Rechtssachen C‑446/12, C‑448/12 und C‑449/12 zu prüfen sind.

45

Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 verlangt, dass biometrische Daten im Speichermedium von Pässen und Reisedokumenten im Hinblick auf die Ausstellung solcher Dokumente „erfasst“ und „gespeichert“ werden. In Bezug auf die „Verwendung“ dieser Daten sieht er vor, dass für die Zwecke dieser Verordnung solche Daten nur verwendet werden dürfen, um die Authentizität des Passes oder die Identität des Inhabers zu überprüfen, wenn die Vorlage eines Passes oder Reisedokuments gesetzlich vorgeschrieben ist.

46

Der Gerichtshof hat bereits in seinem Urteil Schwarz (C‑291/12, EU:C:2013:670) entschieden, dass die Nutzung und die Speicherung biometrischer Daten für die in Art. 4 Abs. 3 der Verordnung genannten Zwecke den Anforderungen der Art. 7 und 8 der Charta entsprechen.

47

Hinsichtlich jeder sonstigen Nutzung und Speicherung dieser Daten ergibt sich aus Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004, der nur die Nutzung der Daten „für die Zwecke dieser Verordnung“ betrifft, im Licht des fünften Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 444/2009, mit der die Verordnung Nr. 2252/2004 geändert wurde, dass eine solche Nutzung und Speicherung von Daten nicht durch die Verordnung geregelt wird. In diesem Erwägungsgrund heißt es nämlich, dass die Verordnung Nr. 2252/2004 unbeschadet jeder sonstigen Nutzung oder Speicherung dieser Daten nach Maßgabe der nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gilt und dass sie keine Rechtsgrundlage für die ausschließlich nationalem Recht unterliegende Einrichtung oder Unterhaltung von Datenbanken für die Speicherung dieser Daten in den Mitgliedstaaten schafft.

48

Daraus folgt insbesondere, dass die Verordnung Nr. 2252/2004 einen Mitgliedstaat nicht verpflichtet, in seinen Rechtsvorschriften zu garantieren, dass biometrische Daten durch diesen Staat zu anderen als den in Art. 4 Abs. 3 dieser Verordnung genannten Zwecken weder genutzt noch gespeichert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Schwarz, C‑291/12, EU:C:2013:670, Rn. 61).

49

Was sodann die Art. 7 und 8 der Charta betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Mit anderen Worten impliziert die Anwendbarkeit des Unionsrechts die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte (Urteile Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 20 und 22, sowie Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 71 bis 73).

50

Da die Verordnung Nr. 2252/2004 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, ist nicht zu prüfen, ob die Speicherung und die Nutzung biometrischer Daten zu anderen als den in ihrem Art. 4 Abs. 3 genannten Zwecken mit den betreffenden Artikeln der Charta im Einklang stehen.

51

Die vorstehenden Erwägungen gelten unbeschadet einer eventuellen Prüfung der Vereinbarkeit jeder mit der Nutzung und Speicherung biometrischer Daten verbundenen nationalen Maßnahme mit dem nationalen Recht und gegebenenfalls mit der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die nationalen Gerichte (vgl. in diesem Sinne Urteil Schwarz, C‑291/12 EU:C:2013:670, Rn. 62).

52

Schließlich ist in Bezug auf die Art. 6 und 7 der Richtlinie 95/46 festzustellen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Vorlagefragen um die Auslegung der Verordnung Nr. 2252/2004 und ausschließlich dieser Verordnung ersucht. Da sich aus den vorstehenden Erwägungen ergibt, dass sie im vorliegenden Fall keine Anwendung findet, ist nicht gesondert zu prüfen, ob die genannten Artikel den nationalen Rechtsrahmen im Zusammenhang mit der Speicherung und Nutzung biometrischer Daten außerhalb des Anwendungsbereichs der Verordnung Nr. 2252/2004 berühren.

53

Folglich ist auf die gestellten Fragen zu antworten, dass Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, in ihren Rechtsvorschriften zu garantieren, dass die aufgrund der Verordnung erhobenen und gespeicherten biometrischen Daten nicht zu anderen Zwecken als zur Ausstellung eines Reisepasses oder Reisedokuments erhoben, verarbeitet und verwendet werden, da ein solcher Aspekt nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

Kosten

54

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 1 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2252/2004 des Rates vom 13. Dezember 2004 über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten in der durch die Verordnung (EG) Nr. 444/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die Verordnung auf Personalausweise, die wie der niederländische Personalausweis von einem Mitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen ausgestellt werden, ungeachtet ihrer Gültigkeitsdauer und ungeachtet der Möglichkeit, sie bei Auslandsreisen zu verwenden, keine Anwendung findet.

 

2.

Art. 4 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2252/2004 in der durch die Verordnung Nr. 444/2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet, in ihren Rechtsvorschriften zu garantieren, dass die aufgrund der Verordnung erhobenen und gespeicherten biometrischen Daten nicht zu anderen Zwecken als zur Ausstellung eines Reisepasses oder Reisedokuments erhoben, verarbeitet und verwendet werden, da ein solcher Aspekt nicht in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fällt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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