Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62012CJ0216

    Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 19. September 2013.
    Caisse nationale des prestations familiales gegen Fjola Hliddal (C‑216/12) und Pierre-Louis Bornand (C‑217/12).
    Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht von der Cour de cassation (Luxemburg).
    Soziale Sicherheit – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft – Schweizer Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz in der Schweiz haben und in Luxemburg arbeiten – Gewährung einer Ausgleichszahlung für Elternurlaub – Begriff der ‚Familienleistung‘.
    Verbundene Rechtssachen C‑216/12 und C‑217/12.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:568

    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

    19. September 2013 ( *1 )

    „Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft — Schweizer Staatsangehörige, die ihren Wohnsitz in der Schweiz haben und in Luxemburg arbeiten — Gewährung einer Ausgleichszahlung für Elternurlaub — Begriff der ‚Familienleistung‘“

    In den verbundenen Rechtssachen C‑216/12 und C‑217/12

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Luxemburg) mit Entscheidung vom 26. April 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Mai 2012, in den Verfahren

    Caisse nationale des prestations familiales

    gegen

    Fjola Hliddal (C‑216/12),

    Pierre-Louis Bornand (C‑217/12)

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), E. Juhász, D. Šváby und C. Vajda,

    Generalanwalt: M. Wathelet,

    Kanzler: A. Calot Escobar,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    der Caisse nationale des prestations familiales, vertreten durch M. Thewes, avocat,

    von Frau Hliddal und Herrn Bornand, vertreten durch C. Erpelding, avocate,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Kreuschitz und D. Martin als Bevollmächtigte,

    aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

    folgendes

    Urteil

    1

    Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 209, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

    2

    Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von zwei Rechtsstreitigkeiten zwischen der Caisse nationale des prestations familiales (Nationale Familienkasse, im Folgenden: CNPF) und Frau Hliddal bzw. Herrn Bornand, die in der Schweiz wohnen und in Luxemburg als Arbeitnehmer beschäftigt sind, wegen der Weigerung der CNPF, ihnen eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub zu gewähren.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 legt die Definitionen für das von ihr geregelte Gebiet fest.

    4

    Art. 1 Buchst. u der genannten Verordnung bestimmt:

    „i)

    ‚Familienleistungen‘: alle Sach‑ oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten im Rahmen der in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe h) genannten Rechtsvorschriften bestimmt sind, jedoch mit Ausnahme der in Anhang II aufgeführten besonderen Geburts- oder Adoptionsbeihilfen;

    ii)

    ‚Familienbeihilfen‘: regelmäßige Geldleistungen, die ausschließlich nach Maßgabe der Zahl und gegebenenfalls des Alters von Familienangehörigen gewährt werden“.

    5

    Gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 gilt diese für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die Familienleistungen betreffen.

    6

    Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten geben in Erklärungen, die gemäß Artikel 97 notifiziert und veröffentlicht werden, die Rechtsvorschriften und Systeme, die unter Artikel 4 Absätze 1 und 2 fallen, die in Artikel 4 Absatz 2a genannten beitragsunabhängigen Sonderleistungen, die Mindestleistungen im Sinne des Artikels 50 sowie die Leistungen im Sinne der Artikel 77 und 78 an.“

    7

    Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

    „(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14 c und 14 f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

    (2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:

    a)

    Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

    …“

    8

    Art. 73 der Verordnung lautet folgendermaßen:

    „Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat, vorbehaltlich der Bestimmungen in Anhang VI, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

    9

    Das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, genehmigt im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 (ABl. L 114, S. 1, im Folgenden: Abkommen EG–Schweiz), sieht in Art. 8 vor:

    „Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:

    a)

    Gleichbehandlung;

    b)

    Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;

    c)

    Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;

    d)

    Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben;

    e)

    Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen.“

    10

    Anhang II des Abkommens EG–Schweiz über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit bestimmt in Art. 1:

    „1.   Die Vertragsparteien kommen überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die gemeinschaftlichen Rechtsakte, auf die Bezug genommen wird, in der zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens geltenden Fassung einschließlich der in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Änderungen oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden.

    2.   Der Begriff ‚Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, ist außer auf die durch die betreffenden gemeinschaftlichen Rechtsakte erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden.“

    11

    Abschnitt A dieses Anhangs nimmt u. a. auf die Verordnung Nr. 1408/71 Bezug.

    12

    Es ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) ersetzt wurde, die ab dem 1. Mai 2010, dem Zeitpunkt der Aufhebung der Verordnung Nr. 1408/71, zur Anwendung kommt. Anhang II des Abkommens EG–Schweiz wurde mit dem Beschluss Nr. 1/2012 des Gemischten Ausschusses, eingesetzt im Rahmen des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits, über die Freizügigkeit vom 31. März 2012 zur Ersetzung des Anhangs II dieses Abkommens über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 103, S. 51), der am 1. April 2012 in Kraft trat, aktualisiert. Anhang II des Abkommens EG–Schweiz nimmt nunmehr Bezug auf die Verordnung Nr. 883/2004. Da jedoch der Sachverhalt der Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren vor dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses liegt, bleibt die Verordnung Nr. 1408/71 ratione temporis auf die Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren anwendbar, und zwar zum einen, weil nach Art. 90 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 die Verordnung Nr. 1408/71 für die Zwecke u. a. des Abkommens EG–Schweiz, solange dieses Abkommen nicht geändert worden ist, in Kraft bleibt und ihre Rechtswirkung behält, und zum anderen, weil Anhang II Abschnitt A Nr. 3 des Abkommens EG–Schweiz in seiner geänderten Fassung noch immer auf die Verordnung Nr. 1408/71 Bezug nimmt, „soweit Fälle aus der Vergangenheit betroffen sind“.

    Luxemburgisches Recht

    13

    Art. L. 234-43 Abs. 1 des Code du travail (Arbeitsgesetzbuch) sieht vor:

    „Es wird ein Sonderurlaub unter der Bezeichnung ‚Elternurlaub‘ eingeführt, der aufgrund der Geburt oder der Adoption eines Kindes oder mehrerer Kinder gewährt wird, für die Familienzulagen gezahlt werden und die hinsichtlich der Person, die den Elternurlaub beantragt, die Voraussetzungen nach Art. 2 Abs. 2 und 3 der Loi modifiée du 19 juin 1985 concernant les allocations familiales et portant création de la caisse nationale des prestations familiales (Geändertes Gesetz vom 19. Juni 1985 über die Familienzulagen und über die Gründung der Nationalen Familienkasse) erfüllen, solange diese Kinder das fünfte Lebensjahr nicht vollendet haben.

    Elternurlaub beantragen kann jede Person – im Folgenden ‚der Elternteil‘ genannt –, sofern sie

    ihren Wohnsitz in Luxemburg hat und in Luxemburg dauerhaft wohnt oder in den Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnungen fällt;

    zum Zeitpunkt der Geburt oder der Aufnahme des Adoptionskindes oder der Adoptionskinder ohne Unterbrechung mindestens zwölf aufeinanderfolgende Monate unmittelbar vor Beginn des Elternurlaubs bei demselben rechtmäßig im Großherzogtum Luxemburg niedergelassenen Arbeitgeber aufgrund eines Arbeits- oder Ausbildungsvertrags für eine monatliche Arbeitszeit, die mindestens die Hälfte der in dem Betrieb gesetzlich oder tarifvertraglich geltenden Normalarbeitszeit beträgt, rechtmäßig an einem im Hoheitsgebiet des Großherzogtums Luxemburg befindlichen Arbeitsplatz beschäftigt ist und ein solcher Vertrag für die gesamte Dauer des Elternurlaubs besteht;

    aus einem der Gründe nach Art. 1 Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 10 des Code des assurances sociales (Sozialversicherungsgesetzbuch) dauerhaft pflichtversichert ist;

    in ihrem Haushalt das Kind oder die Kinder im Fall des Elternurlaubs nach Art. L. 234-45 Abs. 3 ab Geburt oder Aufnahme zur Adoption und im Fall des Elternurlaubs nach Art. L. 234-45 Abs. 4 mindestens ab dem in Art. L. 234-46 Abs. 2 für die Zustellung des Antrags vorgesehenen Zeitpunkt aufzieht und sich für die gesamte Dauer ihres Elternurlaubs hauptsächlich deren Erziehung widmet;

    für die Dauer des Vollzeitelternurlaubs keine Erwerbstätigkeit ausübt oder für die Dauer des Teilzeitelternurlaubs eine oder mehrere Teilzeiterwerbstätigkeiten ausübt, wobei die tatsächlich geleistete monatliche Gesamtarbeitszeit einschließlich etwaiger Überstunden nicht mehr als die Hälfte der im Betrieb gesetzlich oder tarifvertraglich geltenden Normalarbeitszeit beträgt.“

    14

    Art. 306 des Code de la sécurité sociale (Sozialgesetzbuch) sieht vor:

    „(1)   Für die Dauer des nach den Art. L. 234-43 bis L. 234-49 des Arbeitsgesetzbuchs, nach den Art. 29bis bis 29septies der Loi modifiée du 16 avril 1979 fixant le statut général des fonctionnaires de l’État (Geändertes Gesetz vom 16. April 1979 über das allgemeine Statut der Staatsbeamten) und nach den Art. 30bis bis 30septies der Loi modifiée du 24 décembre 1985 fixant le statut général des fonctionnaires communaux (Geändertes Gesetz vom 24. Dezember 1985 über das allgemeine Statut der Gemeindebeamten) gewährten Elternurlaubs tritt an die Stelle des Arbeitsentgelts eine pauschale Ausgleichszahlung, im Folgenden ‚Ausgleichszahlung‘, die monatlich 1778,31 Euro für den Vollzeitelternurlaub und monatlich 889,15 Euro für den Teilzeitelternurlaub beträgt. Sie wird in monatlichen Teilbeträgen für die gesamte in diesem Kapitel vorgesehene Dauer des Elternurlaubs ausgezahlt.

    (2)   Auch der Selbständige hat Anspruch auf die Ausgleichszahlung für die Dauer des Elternurlaubs, der aufgrund der Geburt oder der Adoption von einem Kind oder mehreren Kindern, für die Familienzulagen gezahlt werden und die hinsichtlich der Person, die den Elternurlaub beantragt, die Voraussetzungen nach Art. 270 Abs. 2 und 3 erfüllen, gewährt wird, solange diese Kinder das fünfte Lebensjahr nicht vollendet haben, vorausgesetzt,

    a)

    er hat seinen Wohnsitz in Luxemburg und wohnt dauerhaft in Luxemburg oder er fällt in den Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnungen;

    b)

    er ist im Zeitpunkt der Geburt oder der Aufnahme des Adoptionskindes oder der Adoptionskinder rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Großherzogtums niedergelassen;

    c)

    er ist aus diesem Grund nach Art. 1 Abs. 1 Nrn. 4, 5 und 10 des vorliegenden Gesetzbuchs während mindestens zwölf Monaten unmittelbar vor Beginn des Elternurlaubs dauerhaft pflichtversichert;

    …“

    15

    Art. 308 des Sozialgesetzbuchs bestimmt:

    „(1)   Die Ausgleichszahlung, die für den Urlaub im Anschluss an den Mutterschaftsurlaub oder den Adoptionsurlaub gewährt wird, darf weder mit der Erziehungszulage oder einer nicht luxemburgischen Leistung gleicher Art noch mit einer im Falle des Elternurlaubs geschuldeten nicht luxemburgischen Leistung, die für dasselbe Kind oder dieselben Kinder gewährt wird, kumuliert werden, sofern es sich nicht um eine länger gewährte Erziehungszulage für eine Gruppe von drei oder mehr Kindern oder für ein behindertes Kind oder um eine entsprechende nicht luxemburgische Leistung handelt.

    (2)   Falls einer der Elternteile trotz des Verbots der Kumulierung und selbst nach Beendigung der Auszahlung der Ausgleichszahlung eine nicht luxemburgische Leistung wie die im vorherigen Absatz genannte für den Zeitraum bis zum zweiten Lebensjahr des Kindes beantragt oder bezieht, sind die bereits ausgezahlten Monatsbeträge der Ausgleichszahlung zurückzuzahlen. Bei Kumulierung mit der Erziehungszulage nach Art. 299 wird die gewährte Ausgleichszahlung für Elternurlaub aufrechterhalten und der Betrag der bereits ausgezahlten Erziehungszulage mit den noch fälligen Monatsbeträgen aufgerechnet. Kann dieser Betrag nicht aufgerechnet werden, so ist er zurückzuzahlen.

    (3)   Der Elternteil, der die Erziehungszulage oder eine nicht luxemburgische Leistung gleicher Art bezogen hat, hat für dasselbe Kind auf die für den (später genommenen) Urlaub bis zum vollendeten fünften Lebensjahr des Kindes gewährte Ausgleichszahlung keinen Anspruch mehr.

    (4)   Die für den (später genommenen) Urlaub bis zum vollendeten fünften Lebensjahr des Kindes gewährte Ausgleichszahlung kann nicht gleichzeitig mit der Erziehungszulage oder einer nicht luxemburgischen Leistung gleicher Art, die vom anderen Elternteil für dasselbe Kind oder dieselben Kinder beantragt wurde, ausgezahlt werden, sofern es sich nicht um eine länger gewährte Erziehungszulage für eine Gruppe von drei oder mehr Kindern oder für ein behindertes Kind oder um eine entsprechende nicht luxemburgische Leistung handelt. Werden zwei Leistungen für denselben Zeitraum beantragt, wird nur die Ausgleichszahlung für Elternurlaub ausgezahlt. Der Betrag, der den Monatsbeträgen der Erziehungszulage oder der nicht luxemburgischen Leistung entspricht, die neben der Ausgleichszahlung für Elternurlaub bereits ausgezahlt worden sind, wird mit den noch fälligen Monatsbeträgen der Ausgleichszahlung aufgerechnet. Kann dieser Betrag nicht aufgerechnet werden, so ist er zurückzuzahlen.

    (5)   Treffen zwei Leistungen beim selben Elternteil für verschiedene Kinder zusammen, so ruhen die für die Dauer des Elternurlaubs noch fälligen Monatsbeträge der Erziehungszulage. Der monatliche Betrag einer aufgrund einer nicht luxemburgischen Regelung ausgezahlten Zulage gleicher Art wird vom monatlichen Betrag der für den Elternurlaub gewährten Ausgleichszahlung bis zur Höhe von sechs Monatsbeträgen pro Kind abgezogen. Kann dieser Betrag nicht aufgerechnet werden, so ist er zurückzuzahlen.“

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    16

    Die Schweizer Staatsangehörigen Hliddal und Bornand wohnen beide mit ihren Familien in der Schweiz, arbeiten aber als Flugkapitäne bei einem Luftverkehrsunternehmen in Luxemburg.

    17

    Der Vorstand der CNPF verweigerte ihnen die Gewährung einer Ausgleichszahlung für Elternurlaub mit der Begründung, dass sie die Voraussetzungen nach Art. L. 234-43 des Arbeitsgesetzbuchs nicht erfüllten, wonach jede Person, die Elternurlaub beantragt, ihren Wohnsitz in Luxemburg haben und dauerhaft in Luxemburg wohnen oder in den Geltungsbereich der Gemeinschaftsverordnungen fallen müsse.

    18

    Frau Hliddal und Herr Bornand erhoben beim Conseil arbitral des assurances sociales (Schiedsausschuss für Sozialversicherungen) gegen diese Entscheidungen des Vorstands der CNPF Klagen, der die Entscheidungen mit Urteilen vom 17. August 2010 abänderte, die Klagen für begründet erklärte und die beiden Rechtsstreitigkeiten an die CNPF zurückverwies.

    19

    Auf die von der CNPF gegen diese Urteile eingelegte Berufung hat der Conseil supérieur de la sécurité sociale (Oberster Rat der Sozialversicherungen) mit Urteilen vom 16. März 2011 die angefochtenen Urteile bestätigt.

    20

    Die CNPF legte gegen diese Urteile Kassationsbeschwerde beim vorlegenden Gericht ein und machte sechs Kassationsgründe geltend, die bis auf einen von diesem Gericht in seinen Urteilen über die Einholung einer Vorabentscheidung zurückgewiesen wurden.

    21

    Zum sechsten Kassationsgrund der CNPF, mit dem die Verletzung, die Verweigerung der Anwendung, die falsche Anwendung oder die falsche Auslegung von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 gerügt wird, weist die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) darauf hin, dass der Conseil supérieur de la sécurité sociale die Zielsetzungen und die Voraussetzungen der Gewährung der Ausgleichszahlung für Elternurlaub geprüft habe und zu dem Ergebnis gekommen sei, dass „… die Ausgleichszahlung für Elternurlaub im Wesentlichen eine familienbezogene Zielsetzung hat … Im Grunde genommen (soll sie) den aus dem vorübergehenden Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit resultierenden finanziellen Verlust ausgleichen oder zumindest abfedern und die Aufwendungen für Unterhalt, Obhut und Erziehung von Kleinkindern kompensieren.“

    22

    Der Conseil supérieur de la sécurité sociale habe hinzugefügt: „Dass der Elternurlaub als Nebeneffekt im Idealfall eine positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt haben kann, da er gegebenenfalls eine gewisse Zahl von Arbeitsplätzen verfügbar machen kann, die mit Arbeitslosen besetzt werden könnten, oder dass er aufgrund seiner Ausgestaltung … eine bessere Verteilung der erzieherischen Aufgaben zwischen den Vätern und den Müttern fördern kann, ändert nichts an seiner vorrangigen Zielsetzung.“

    23

    Da die Cour de cassation Zweifel hat, ob eine Leistung wie die in den luxemburgischen Rechtsvorschriften vorgesehene Ausgleichszahlung für Elternurlaub als Familienleistung im Sinne des Art. 1 Buchst. u Ziff. i und des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 zu qualifizieren ist, hat sie das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage, die in den beiden Rechtssachen C‑216/12 und C‑217/12 identisch formuliert ist, zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    Ist eine Leistung wie die in den Art. 306 bis 308 des Code de la sécurité sociale vorgesehene Ausgleichszahlung für Elternurlaub eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71, die gemäß Anhang II Abschnitt A Nr. 1 des Abkommens EG–Schweiz und der Schlussakte, beide am 21. Juni 1999 unterzeichnet, anwendbar ist?

    24

    Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. Juni 2012 sind die beiden Rechtssachen C‑216/12 und C‑217/12 verbunden worden.

    Zur Vorlagefrage

    25

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub, wie sie durch die luxemburgischen Rechtsvorschriften eingeführt wurde, eine Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.

    Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

    26

    Die CNPF macht in erster Linie geltend, dass sich der Gerichtshof für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts für unzuständig zu erklären habe, weil das Abkommen EG–Schweiz nicht zur Anwendung komme. Die luxemburgischen Rechtsvorschriften über den Elternurlaub seien nämlich in der Loi du 12 février 1999 ayant pour objet la transposition dans le droit national de la directive 96/34/CE du Conseil, du 3 juin 1996, concernant l’accord-cadre sur le congé parental conclu par l’UNICE, le CEEP et la CES (Gesetz vom 12. Februar 1999 zur Umsetzung der Richtlinie 96/34/EG des Rates vom 3. Juni 1996 zu der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub [ABl. L 145, S. 4] in nationales Recht) enthalten. Ein Schweizer Staatsangehöriger könne sich nicht auf die im Rahmen der Umsetzung dieser Richtlinie erlassenen nationalen Rechtsvorschriften berufen, da weder dieses Abkommen noch seine Anhänge auf diese Richtlinie verwiesen.

    27

    Hilfsweise vertritt die CNPF die Ansicht, dass die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausgleichszahlung für Elternurlaub nicht als eine Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden könne. Die Gewährung des Elternurlaubs und damit der Anspruch auf die Ausgleichszahlung für Elternurlaub hingen von einer individuellen und teilweise im Ermessen liegenden Entscheidung des Arbeitgebers ab und beruhten nicht auf einem im Vorhinein gesetzlich umschriebenen Tatbestand.

    28

    Außerdem falle die Ausgleichszahlung für Elternurlaub unter keine der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgezählten Leistungsarten.

    29

    Diese Ausgleichszahlung stelle keine Familienleistung dar, sondern komme im Hinblick auf die Verordnung Nr. 1408/71 vielmehr einer während des Elternurlaubs ausgezahlten Ausgleichszahlung für freiwillige Arbeitslosigkeit gleich. Die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausgleichszahlung für Elternurlaub bestehe nicht in einem Einkommenszuschuss und habe nicht den Zweck, Familienlasten auszugleichen. Sie sei vielmehr ein Entgelt, das auf dem Arbeitsvertrag beruhe oder zumindest vom Vorliegen eines solchen abhänge, und sei als Ersatzeinkommen einzustufen. Sie sei auch kein Einkommenszuschuss, sondern das eigentliche Einkommen des Beziehers der Ausgleichszahlung. Sie werde mit Beendigung des Elternurlaubs eingestellt, obwohl die Auslagen im Zusammenhang mit dem Kind gleichblieben.

    30

    Nach Ansicht der CNPF spricht auch Folgendes gegen die Einstufung der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ausgleichszahlung für Elternurlaub als Familienleistung im Sinne dieser Verordnung: Diese Ausgleichszahlung könne sowohl dem Vater als auch der Mutter für dasselbe Kind ausgezahlt werden, wenn beide Eltern arbeiteten, und ihr Bruttobetrag liege über dem Mindestlohn für ungelernte Arbeitskräfte. Außerdem stehe der Anspruch auf Elternurlaub nach der luxemburgischen Regelung als individueller Anspruch nur den Eltern in ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer zu, und ein anderes Familienmitglied könne ihn nicht in Anspruch nehmen. Schließlich habe das Großherzogtum Luxemburg keine Erklärung gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 abgegeben.

    31

    Frau Hliddal und Herr Bornand tragen vor, dass die Frage des vorlegenden Gerichts zu bejahen sei.

    32

    Zunächst weisen sie darauf hin, dass die Ausgleichszahlung für Elternurlaub sehr wohl eine Leistung der sozialen Sicherheit darstelle. Sie werde nämlich ohne individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt, nämlich sobald der Antragsteller nachweise, dass er Elternurlaub in Anspruch nehme. Die Beurteilung der Voraussetzungen, von denen die Gewährung des Elternurlaubs abhänge, obliege zwar dem Arbeitgeber, aber die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für eine Ausgleichszahlung erfüllt seien, falle ausschließlich in die Zuständigkeit des Sozialversicherungsträgers, der die Ausgleichszahlung leiste.

    33

    Die Ausgleichszahlung für Elternurlaub sei auch eine Familienleistung, da sie jedem in einem Arbeitsverhältnis stehenden Elternteil aufgrund der Geburt oder der Adoption eines Kindes oder mehrerer Kinder, die der begünstigte Elternteil in seinem Haushalt für die gesamte Dauer des Elternurlaubs betreuen und erziehen müsse, gewährt werde. Ihr unmittelbarer Zweck und ihre hauptsächliche Wirkung bestünden im Ausgleich der Familienlasten. Sie solle nämlich einem Elternteil ermöglichen, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen, und diene genauer betrachtet dazu, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Erwerbseinkommen bedeute, abzumildern. Schließlich spreche es stark für den Familiencharakter dieser Ausgleichszahlung, dass die CNPF zur Auszahlungsstelle bestimmt worden sei.

    34

    Die Europäische Kommission weist einleitend darauf hin, dass vom vorlegenden Gericht nicht die Frage aufgeworfen worden sei, ob Schweizer Staatsangehörige die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende luxemburgische Regelung in Anspruch nehmen könnten, weshalb sich der Gerichtshof zu dieser Frage nicht zu äußern brauche.

    35

    Zur Frage des vorlegenden Gerichts meint die Kommission, dass die nach der luxemburgischen Regelung vorgesehene Ausgleichszahlung für Elternurlaub eine Leistung der sozialen Sicherheit und kein Entgelt im Sinne des Unionsrechts darstelle. Denn im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit setze der Begriff des Entgelts grundsätzlich das Bestehen eines aktuellen Arbeitsverhältnisses voraus. Befinde sich der Arbeitnehmer aber im Elternurlaub, ruhe das Arbeitsverhältnis. Außerdem finanziere sich die Ausgleichszahlung für Elternurlaub im vorliegenden Fall durch die Einnahmen aus dem auf Treibstoffe erhobenen Sozialbeitragszuschlag. Der Rest gehe zulasten des Staatshaushalts. Die Ausgleichszahlung sei also nicht vom Arbeitgeber zu zahlen.

    36

    Die Kommission ist außerdem der Meinung, dass es sich um eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 handle. Hierzu beruft sich die Kommission u. a. darauf, dass die Ausgleichszahlung für Elternurlaub nach Art. 308 Sozialgesetzbuch weder mit der Erziehungszulage noch mit einer Ausgleichszahlung, die im Ausland aufgrund eines für dasselbe Kind gewährten Elternurlaubs bezogen werde, kumuliert werden dürfe. Solche Vorschriften über das Verbot der Kumulierung seien charakteristisch für Familienleistungen. Außerdem sei der Betrag dieser Ausgleichszahlung ein vom Gehalt, das der betreffende Arbeitnehmer zuvor bezogen habe, unabhängiger Pauschalbetrag.

    Antwort des Gerichtshofs

    37

    Vorweg ist festzustellen, dass die CNPF die Anwendbarkeit des Abkommens EG–Schweiz auf die Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren und somit die Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts verneint.

    38

    Wie das vorlegende Gericht zu Recht ausführt, dehnt das Abkommen EG–Schweiz durch die ausdrückliche Bezugnahme auf die Verordnung Nr. 1408/71 den persönlichen Geltungsbereich dieser Verordnung auf die Schweizer Staatsangehörigen aus. Mit der Vorlagefrage zur Auslegung dieser Verordnung möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub wie die des Ausgangsverfahrens in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung fällt, so dass sie von der Bezugnahme auf diese Verordnung in diesem Abkommen erfasst wird und von einem Schweizer Staatsangehörigen in Anspruch genommen werden kann. Im Übrigen ist das Fehlen einer Bezugnahme auf die Richtlinie 96/34 in diesem Abkommen, deren Umsetzung in nationales Recht das Gesetz vom 12. Februar 1999 über die Schaffung eines Elternurlaubs und eines Urlaubs aus familiären Gründen nach Ansicht der CNPF sicherstellen soll, insoweit für die Rechtsstreitigkeiten in den Ausgangsverfahren unerheblich.

    39

    Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof für die Beantwortung der vorgelegten Frage zuständig.

    40

    Zunächst ist zu prüfen, ob eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub als „Entgelt“ im Sinne von Art. 157 AEUV oder als eine „Leistung der sozialen Sicherheit“ im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen ist.

    41

    Unter „Entgelt“ im Sinne von Art. 157 Abs. 2 AEUV sind „die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und ‑gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen“ zu verstehen, „die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar und unmittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt“. Nach ständiger Rechtsprechung umfasst dieser Begriff alle gegenwärtigen oder künftigen gewährten Vergütungen, vorausgesetzt, dass sie der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer wenigstens mittelbar aufgrund des Beschäftigungsverhältnisses gewährt, sei es aufgrund eines Arbeitsvertrags, aufgrund von Rechtsvorschriften oder freiwillig (vgl. Urteile vom 17. Mai 1990, Barber, C-262/88, Slg. 1990, I-1889, Randnr. 12, vom 19. November 1998, Høj Pedersen u. a., C-66/96, Slg. 1998, I-7327, Randnr. 32, vom 30. März 2000, JämO, C-236/98, Slg. 2000, I-2189, Randnr. 39, sowie vom 30. März 2004, Alabaster, C-147/02, Slg. 2004, I-3101, Randnr. 42).

    42

    Zum einen hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Arbeitnehmer, der den ihm aufgrund einer nationalen Rechtsvorschrift zustehenden Anspruch auf Erziehungsurlaub in Verbindung mit einer vom Staat gewährten Erziehungsbeihilfe wahrnimmt, sich in einer besonderen Situation befindet, die nicht mit derjenigen eines Mannes oder einer Frau, die arbeitet, gleichgesetzt werden kann, denn ein wesentliches Merkmal dieses Urlaubs besteht darin, dass der Arbeitsvertrag und somit die jeweiligen Pflichten von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ruhen (vgl. Urteile vom 21. Oktober 1999, Lewen, C-333/97, Slg. 1999, I-7243, Randnr. 37, und vom 16. Juli 2009, Gómez-Limón Sánchez-Camacho, C-537/07, Slg. 2009, I-6525, Randnr. 57).

    43

    Zum anderen ist aus der Akte nicht ersichtlich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausgleichszahlung wenigstens mittelbar vom Arbeitgeber selbst bezahlt wird.

    44

    Diese Überlegungen zeigen, dass es sich bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ausgleichszahlung für Elternurlaub nicht um ein Entgelt im Sinne von Art. 157 AEUV handelt.

    45

    Sodann ist zu prüfen, ob die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien, anhand deren eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 eingestuft werden kann, bei einer Ausgleichszahlung für Elternurlaub, wie sie in Art. 306 des Code de la sécurité sociale vorgesehen ist, erfüllt sind.

    46

    Vorweg ist festzustellen, dass die luxemburgische Regierung zwar nicht gemäß Art. 5 der Verordnung Nr. 1408/71 erklärt hat, dass die in Art. 306 des Code de la sécurité sociale vorgesehene Ausgleichszahlung für Elternurlaub als eine unter Art. 4 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung fallende Regelung anzusehen sei, sich daraus aber nicht ohne Weiteres ergibt, dass diese Ausgleichszahlung nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt (vgl. u. a. Urteile vom 29. November 1977, Beerens, 35/77, Slg. 1977, 2249, Randnr. 9, und vom 15. März 1999, Offermanns, C-85/99, Slg. 1999, I-2261, Randnr. 26).

    47

    Außerdem ist die Einordnung einer bestimmten Leistung nach nationalem Recht für die Frage, ob diese Leistung in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, unerheblich (vgl. Urteile vom 16. Juli 1992, Hughes, C-78/91, Slg. 1992, I-4839, Randnr. 14, vom 10. Oktober 1996, Hoever und Zachow, C-245/94 und C-312/94, Slg. 1996, I-4895, Randnr. 17, sowie Offermanns, Randnr. 37).

    48

    Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne eine im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und wenn sie sich auf eines der in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. u. a. Urteile Hughes, Randnr. 15, vom 21. Februar 2006, Hosse, C-286/03, Slg. 2006, I-1771, Randnr. 37, vom 18. Dezember 2007, Habelt u. a., C-396/05, C-419/05 und C-450/05, Slg. 2007, I-11895, Randnr. 63, sowie vom 11. September 2008, Petersen, C-228/07, Slg. 2008, I-6989, Randnr. 19).

    49

    Wenn die CNPF vorträgt, dass die den Anspruch auf die Ausgleichszahlung für Elternurlaub begründende Rechtsposition letztendlich davon abhänge, ob der Arbeitgeber den Elternurlaub gewähre, ist dem entgegenzuhalten, dass diese Ausgleichszahlung auf der Grundlage eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands unabhängig von einer individuellen, im Ermessen liegenden Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird.

    50

    Insoweit ist, wie Frau Hliddal und Herr Bornand ausführen, zwischen den Voraussetzungen für die Gewährung von Elternurlaub und den Voraussetzungen für die Gewährung der Ausgleichszahlung, wenn der gesetzlich umschriebene Tatbestand vorliegt, zu unterscheiden. Nur die letzteren Voraussetzungen werden für die rechtliche Einordnung der Leistung berücksichtigt.

    51

    Wenn eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende die erste der beiden in Randnr. 48 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt, ist außerdem zu prüfen, ob diese Leistung aufgrund ihrer Merkmale, insbesondere ihrer Zielsetzungen und der Voraussetzungen für ihre Gewährung, eine Familienleistung im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt oder ob es sich nicht um ein den Leistungen bei Arbeitslosigkeit ähnliches Ersatzeinkommen handelt.

    52

    Eine Leistung wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausgleichszahlung für Elternurlaub stellt keine Leistung bei Arbeitslosigkeit dar. Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass für die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Kategorien von Leistungen der sozialen Sicherheit das von der jeweiligen Leistung gedeckte Risiko zu berücksichtigen ist. So deckt eine Leistung bei Arbeitslosigkeit das Risiko des Einkommensverlustes, den der Arbeitnehmer wegen des Verlustes seiner Beschäftigung erleidet, während er noch arbeitsfähig ist. Eine Leistung, die aufgrund des Eintritts dieses Risikos, d. h. des Verlustes der Beschäftigung, gewährt wird und die wegen der Ausübung einer entgeltlichen Tätigkeit durch den Betroffenen wegen des Wegfalls dieser Situation nicht mehr geschuldet wird, ist als Leistung bei Arbeitslosigkeit zu betrachten (vgl. Urteil vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Randnr. 27).

    53

    Dies trifft aber auf eine Person, die eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende bezieht, nicht zu. Eine solche Person hat ihre Beschäftigung nicht verloren, sondern nur entschieden, ihr Arbeitsverhältnis ruhen zu lassen.

    54

    Zu beachten ist auch, dass nach Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 der Begriff „Familienleistungen“„alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten … bestimmt sind“, bezeichnet. Der Gerichtshof hat dazu ausgeführt, dass die Familienleistungen dazu dienen sollen, Arbeitnehmer mit Familienlasten dadurch sozial zu unterstützen, dass sich die Allgemeinheit an diesen Lasten beteiligt (vgl. Urteile vom 4. Juli 1985, Kromhout, 104/84, Slg. 1985, 2205, Randnr. 14, und Offermanns, Randnr. 38).

    55

    Der Ausdruck „Ausgleich von Familienlasten“ in dieser Bestimmung ist dahin auszulegen, dass er u. a. einen staatlichen Beitrag zum Familienbudget erfassen soll, der die Kosten für den Unterhalt von Kindern verringert (Urteile Offermanns, Randnr. 41, und vom 7. November 2002, Maaheimo, C-333/00, Slg. 2002, I-10087, Randnr. 25).

    56

    Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass eine Erziehungszulage, die es einem Elternteil ermöglichen soll, sich in der ersten Lebensphase eines Kindes dessen Erziehung zu widmen, und genauer betrachtet dazu dienen soll, die Erziehung des Kindes zu vergüten, die anderen Betreuungs- und Erziehungskosten auszugleichen und gegebenenfalls die finanziellen Nachteile, die der Verzicht auf ein Vollerwerbseinkommen bedeutet, abzumildern, den Ausgleich von Familienlasten im Sinne von Art. 1 Buchst. u Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 bezweckt (vgl. Urteil Hoever und Zachow, Randnrn. 23 und 25).

    57

    Es ergibt sich aus Randnr. 27 des Urteils Hoever und Zachow, dass eine solche Leistung einer Familienleistung im Sinne der Art. 1 Buchst. u Ziff. i und 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 gleichzustellen ist (vgl. Urteil vom 11. Juni 1998, Kuusijärvi, C-275/96, Slg. 1998, I-3419, Randnr. 60).

    58

    Des Näheren hat der Gerichtshof in Bezug auf Beihilfen für die Unterbrechung der Berufslaufbahn, die unter bestimmten Voraussetzungen Arbeitnehmern gewährt werden, die ihre Berufslaufbahn im Rahmen eines Elternurlaubs unterbrechen, bereits entschieden, dass diese Leistungsart, die der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ausgleichszahlung für Elternurlaub entspricht, einer Familienleistung gleichzustellen ist (vgl. Urteil vom 7. September 2004, Kommission/Belgien, C‑469/02, Randnr. 16).

    59

    Nach alledem kann die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Ausgleichszahlung für Elternurlaub nicht als Entgelt im Sinne von Art. 157 AEUV eingestuft werden, sondern stellt eine Leistung der sozialen Sicherheit dar, deren Merkmale denen einer Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechen.

    60

    Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 dahin auszulegen sind, dass eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub wie die durch die luxemburgischen Rechtsvorschriften eingeführte eine Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt.

    Kosten

    61

    Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 1 Buchst. u Ziff. i und Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 geänderten Fassung, sind dahin auszulegen, dass eine Ausgleichszahlung für Elternurlaub wie die durch die luxemburgischen Rechtsvorschriften eingeführte eine Familienleistung im Sinne dieser Verordnung darstellt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

    Top