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Document 62012CC0583

    Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 28. Januar 2014.
    Sintax Trading OÜ gegen Maksu- ja Tolliamet.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Riigikohus - Estland.
    Vorabentscheidungsersuchen - Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 - Maßnahmen zur Verhinderung des Inverkehrbringens von nachgeahmten Waren und unerlaubt hergestellten Vervielfältigungsstücken oder Nachbildungen - Art. 13 Abs. 1 - Zuständigkeit der Zollbehörden für die Feststellung der Verletzung eines Rechts geistigen Eigentums.
    Rechtssache C-583/12.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2014:38

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PEDRO CRUZ VILLALÓN

    vom 28. Januar 2014 ( 1 )

    Rechtssache C‑583/12

    Sintax Trading OÜ

    gegen

    Maksu- ja Tolliamet

    (Vorabentscheidungsersuchen des Riigikohus [Estland])

    „Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, Rechte geistigen Eigentums zu verletzen — Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 — Art. 13 Abs. 1 — Zuständige Stelle für die Durchführung eines Verfahrens zur Feststellung, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist — Zuständigkeit der Zollbehörden für die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist — Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“

    1. 

    Die vorliegende Rechtssache betrifft Grenzmaßnahmen, die in Estland gegen Waren ergriffen wurden, die angeblich Geschmacksmusterrechte verletzen. Sie gibt dem Gerichtshof erneut die Gelegenheit zur Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates (im Folgenden: Verordnung) ( 2 ), nämlich in Bezug auf das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren zur Feststellung, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist.

    2. 

    Der Staatsgerichtshof Estlands (Riigikohus) hat dem Gerichtshof zwei Fragen vorgelegt. Er fragt erstens, ob das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren von den Zollbehörden selbst durchgeführt werden kann, und zweitens, ob diese Behörden dieses Verfahren einleiten dürfen.

    3. 

    Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit über eine Klage der Sintax Trading OÜ (im Folgenden: Sintax) gegen das estnische Steuer‑ und Zollamt (Maksu- ja Tolliamet, im Folgenden: MTA), das die Forderung von Sintax, ihr die vom MTA zurückgehaltene Ware zu überlassen, mit der Begründung abgelehnt hat, diese verletzten ein eingetragenes Geschmacksmuster der OÜ Acerra (im Folgenden: Acerra).

    I – Rechtlicher Rahmen

    A – Unionsrecht

    4.

    Grenzmaßnahmen stellen einen wichtigen Teil des Schutzes der Rechte geistigen Eigentums der Europäischen Union dar. Die Verordnung ist weder der erste, noch der letzte Rechtsakt der Union in diesem Bereich ( 3 ). Mit Wirkung vom 1. Januar 2014 wurde sie nämlich durch die Verordnung Nr. 608/2013 ( 4 ) aufgehoben. Aufgrund der Zeitpunkte der in Rede stehenden Maßnahmen ist hingegen im vorliegenden Fall die Verordnung anwendbar.

    5.

    Die Erwägungsgründe 2 und 3 der Verordnung lauten:

    „(2)

    Durch das Inverkehrbringen nachgeahmter und unerlaubt hergestellter Waren und allgemein durch das Inverkehrbringen von Waren, die Rechte geistigen Eigentums verletzen, wird den rechtstreuen Herstellern und Händlern sowie den Rechtsinhabern erheblicher Schaden zugefügt; außerdem werden die Verbraucher getäuscht und mitunter Gefahren für ihre Gesundheit und ihre Sicherheit ausgesetzt. Daher sollte soweit wie möglich verhindert werden, dass solche Waren auf den Markt gelangen, und es sollten Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung dieser illegalen Praktiken ergriffen werden, ohne jedoch den rechtmäßigen Handel in seiner Freiheit zu beeinträchtigen. Dieses Ziel steht im Einklang mit Anstrengungen auf internationaler Ebene, die derzeit unternommen werden.

    (3)

    In Fällen, in denen das Ursprungs- oder Herkunftsland der nachgeahmten Waren, der unerlaubt hergestellten Waren und allgemein der Waren, die ein Recht geistigen Eigentums verletzen, ein Drittstaat ist, sollten ihr Verbringen in das Zollgebiet der Gemeinschaft einschließlich der Umladung, ihre Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr der Gemeinschaft, ihre Überführung in ein Nichterhebungsverfahren und ihr Verbringen in eine Freizone oder ein Freilager verboten und ein geeignetes Verfahren eingeführt werden, um die Zollbehörden in die Lage zu versetzen, die Einhaltung dieses Verbots unter den bestmöglichen Bedingungen zu gewährleisten.“

    6.

    Art. 10 der Verordnung bestimmt:

    „Ob ein Recht geistigen Eigentums nach einzelstaatlichen Rechtsvorschriften verletzt ist, richtet sich nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich die Waren in einer der in Artikel 1 Absatz 1 genannten Situationen befinden.

    Diese Rechtsvorschriften gelten auch für die unverzügliche Unterrichtung der in Artikel 9 Absatz 1 genannten Dienststelle oder Zollstelle über die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 13, sofern dieses nicht von dieser Dienststelle oder Zollstelle durchgeführt wird.“

    7.

    Art. 13 Abs. 1 der Verordnung lautet:

    „Ist die in Artikel 9 Absatz 1 genannte Zollstelle nicht innerhalb von zehn Arbeitstagen nach Eingang der Benachrichtigung von der Aussetzung der Überlassung oder von der Zurückhaltung darüber unterrichtet worden, dass ein Verfahren nach Artikel 10 eingeleitet worden ist, in dem festgestellt werden soll, ob ein Recht geistigen Eigentums nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verletzt ist, oder hat sie nicht gegebenenfalls innerhalb dieser Frist die Zustimmung des Rechtsinhabers nach Artikel 11 Absatz 1 erhalten, so wird die Überlassung der Waren bewilligt oder die Zurückhaltung aufgehoben, sofern alle Zollförmlichkeiten erfüllt sind.

    Gegebenenfalls kann diese Frist um höchstens zehn Arbeitstage verlängert werden.“

    8.

    Die Verordnung Nr. 1891/2004 der Kommission ( 5 ) legt die für die Anwendung der Verordnung erforderlichen Maßnahmen fest. Ihr erster Erwägungsgrund bestimmt:

    „Mit der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 wurden gemeinsame Regeln eingeführt, um die Verbringung, die Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr, den Ausgang, die Ausfuhr, die Wiederausfuhr, die Überführung in ein Nichterhebungsverfahren, in eine Freizone oder ein Freilager von nachgeahmten Waren und unerlaubt hergestellten Vervielfältigungsstücken zu verbieten und das illegale Inverkehrbringen solcher Waren wirksam zu bekämpfen, ohne jedoch dadurch die Freiheit des rechtmäßigen Handels zu beeinträchtigen.“

    B – Nationales Recht

    9.

    Das estnische Tolliseadus (Zollgesetz, im Folgenden: TS) bestimmt in § 39 Abs. 4 und 6:

    „(4)   In Bezug auf eine Ware, die im Verdacht steht, im Sinne der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 … über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen …, geistiges Eigentum zu verletzen, gibt der Rechtsinhaber auf der Grundlage einer Untersuchung von Warenproben oder ‑mustern innerhalb von zehn Arbeitstagen ab seiner Benachrichtigung von der Zurückhaltung der Ware eine schriftliche Beurteilung ab. Dem Rechtsinhaber wird für die Abgabe der Beurteilung keine Vergütung gezahlt. …

    (6)   Die Zollbehörden übermitteln unverzüglich eine Kopie der von dem Rechtsinhaber erhaltenen Beurteilung an die betreffende Person, die innerhalb von zehn Tagen ab dem Erhalt der Kopie schriftliche Einwände gegen die Beurteilung zusammen mit sachdienlichen Nachweisen bei den Zollbehörden einreichen kann.“

    10.

    § 45 Abs. 1 TS lautet:

    „Die Zollbehörden ziehen die in den Art. 53, 57 und 75 des Zollkodex der Gemeinschaften genannte Ware ein und verkaufen sie, vernichten sie unter zollamtlicher Überwachung oder geben sie unentgeltlich auf dem in den §§ 97 und 98 festgelegten Wege ab.“

    11.

    § 6 des Haldusmentluse seadus (Verwaltungsverfahrensgesetz, im Folgenden: HMS) bestimmt:

    „Das Verwaltungsorgan ist verpflichtet, die Umstände aufzuklären, denen in der Sache, die Gegenstand des Verfahrens ist, eine wesentliche Bedeutung zukommt, und dazu erforderlichenfalls von Amts wegen Beweise zu erheben.“

    II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

    12.

    Acerra ist Inhaberin eines estnischen eingetragenen Geschmacksmusters für eine Flasche, eingetragen am 15. Februar 2010 unter der Nr. 01563 „Pudel“ (Flasche).

    13.

    Am 6. Dezember 2010 teilte Acerra dem MTA mit, dass Sintax versuche, ein Erzeugnis in Flaschen nach Estland zu liefern, die das eingetragene Geschmacksmuster verwendeten.

    14.

    Am 23. Dezember 2010 nahm das MTA eine ergänzende Prüfung einer Lieferung von 63700 Flaschen vor, die Sintax von einer ukrainischen Gesellschaft zugesandt wurden. Das MTA stellte fest, dass die Flaschen dem eingetragenen Geschmacksmuster so ähnlich seien, dass der Verdacht der Verletzung von Rechten geistigen Eigentums gegeben sei. Mit Entscheidung vom 27. Dezember 2010 hielt das MTA die im Verdacht stehende Ware in einem Zolllager zurück.

    15.

    Am selben Tag benachrichtigte das MTA Acerra und bat sie um eine Beurteilung der zurückgehaltenen Ware. Am 6. Januar 2011 gab Acerra dem MTA gegenüber die gewünschte Beurteilung ab und machte geltend, dass die eingeführten Flaschen ihre Rechte geistigen Eigentums verletzten.

    16.

    Sintax reagierte auf zweierlei Weise. Erstens beantragte sie am 18. Januar 2011 beim MTA die Überlassung der Ware. Dann erhob sie am 7. Februar 2011 Klage gegen Acerra beim Harju Maakohus (Bezirksgericht Harju), mit der sie die Gültigkeit des Geschmacksmusters von Acerra angriff.

    17.

    Zu dem Antrag auf Überlassung der Ware teilte das MTA Sintax mit Schreiben vom 11. Februar 2011 mit, dass Acerra die nach Estland verbrachten Flaschen beurteilt und für mit ihrem eingetragenen Geschmacksmuster identisch befunden habe. Nach der Verordnung Nr. 1383/2003 könne das MTA die Ware nicht überlassen, da eine Verletzung von Rechten geistigen Eigentums vorliege. Das MTA sei nicht für die Entscheidung zuständig, ob dieses Recht geistigen Eigentums gültig sei. Am selben Tag beantragte Sintax zum zweiten Mal die Überlassung der Ware. Am 17. Februar 2011 lehnte das MTA die Überlassung der Ware erneut ab und gab hierfür ähnliche Gründe an ( 6 ).

    18.

    Am 10. März 2011 erhob Sintax Klage beim Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn), um die Überlassung der Ware zu erreichen. Mit Entscheidung vom 3. Juni 2011 gab das Gericht dem MTA auf, die Entscheidung zu treffen, die Ware zu überlassen. Das MTA legte Rechtsmittel zum Tallinna Ringkonnakohus (Regionalgericht Tallinn) ein, das das Rechtsmittel mit Urteil vom 19. Januar 2012 zurückwies, sein Urteil jedoch auf eine andere Begründung stützte. Dagegen legte das MTA Kassationsbeschwerde zum vorlegenden Gericht ein.

    19.

    Die Klage von Sintax gegen die Gültigkeit des Geschmacksmusters wurde am 21. Dezember 2011 abgewiesen, während das im vorstehenden Absatz genannte Rechtsmittelverfahren anhängig war. Dieses Urteil ist rechtskräftig geworden, so dass die Eintragung des Geschmacksmusters gültig ist.

    III – Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

    20.

    Mit Beschluss vom 5. Dezember 2012 hat der Riigikohus das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    1.

    Kann das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1383/2003 genannte „Verfahren …, in dem festgestellt werden soll, ob ein Recht geistigen Eigentums … verletzt ist“, auch bei der Zolldienststelle durchgeführt werden oder muss die in Kapitel III der Verordnung behandelte „für die Entscheidung in der Sache zuständige Stelle“ von den Zollbehörden getrennt sein?

    2.

    Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1383/2003 wird als ein Ziel der Verordnung der Schutz der Verbraucher genannt, und gemäß dem dritten Erwägungsgrund sollte ein geeignetes Verfahren eingeführt werden, um die Zollbehörden in die Lage zu versetzen, die Einhaltung des Verbots, Waren, die ein Recht geistigen Eigentums verletzen, in das Zollgebiet der Gemeinschaft zu verbringen, unter den bestmöglichen Bedingungen zu gewährleisten, ohne jedoch den im zweiten Erwägungsgrund dieser Verordnung und im ersten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung Nr. 1891/2004 angeführten rechtmäßigen Handel in seiner Freiheit zu beeinträchtigen.

    Ist es mit diesen Zielen vereinbar, wenn die in Art. 17 der Verordnung Nr. 1383/2003 festgelegten Maßnahmen nur dann angewandt werden können, wenn der Rechtsinhaber das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren zur Feststellung einer Verletzung eines Rechts geistigen Eigentums einleitet, oder muss im Hinblick auf eine bestmögliche Verfolgung dieser Ziele auch die Zollbehörde die Möglichkeit haben, das entsprechende Verfahren einzuleiten?

    21.

    Die Tschechische Republik, die Republik Estland und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung ist nicht beantragt und nicht durchgeführt worden.

    IV – Würdigung

    22.

    Die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen sind nur im Zusammenhang mit dem durch die Verordnung festgelegten System der Grenzmaßnahmen und der Art und Weise, wie die estnischen Gerichte den Sachverhalt im Hinblick auf dieses System interpretieren, zu verstehen. Ich werde diese beiden Punkte daher nacheinander erörtern, bevor ich mich den Fragen selbst zuwende.

    A – Gegenstand und System der Verordnung

    23.

    Die Verordnung legt zum Schutz von Rechtsinhabern, rechtstreuen Herstellern und Händlern, aber auch der Verbraucher ( 7 ) in erster Linie ein System für das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren fest, die im Verdacht stehen, Rechte geistigen Eigentums zu verletzen ( 8 ), aber auch eine Reihe von Maßnahmen gegen Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen.

    24.

    Bei Waren ( 9 ), die im Verdacht stehen, Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, können Grenzmaßnahmen grundsätzlich auf Antrag des Rechtsinhabers ( 10 ) ergriffen werden, der von den Zollbehörden bewilligt wird ( 11 ). Die Zollbehörden setzen die Überlassung von Waren, die im Verdacht stehen, ein Recht geistigen Eigentums zu verletzen, das von der Bewilligung des Antrags umfasst ist, gegebenenfalls nach Anhörung des Antragstellers aus oder halten diese Waren zurück ( 12 ). Wird kein Antrag gestellt bzw. bewilligt, haben die Zollbehörden aber den hinreichend begründeten Verdacht, dass Waren Rechte geistigen Eigentums verletzen, so können die Zollbehörden von Amts wegen für drei Tage die Überlassung der Waren aussetzen oder die Waren zurückhalten, um dem Rechtsinhaber die Möglichkeit zu geben, einen Antrag zu stellen ( 13 ).

    25.

    Diese Maßnahmen sind jedoch vorübergehender Art. Art. 13 Abs. 1 der Verordnung schreibt vor, dass die Waren zu überlassen oder ihre Zurückhaltung aufzuheben ist, wenn die Zollbehörden nicht innerhalb von zehn Arbeitstagen nach Eingang der Benachrichtigung von der Aussetzung der Überlassung oder von der Zurückhaltung darüber unterrichtet worden sind, dass ein Verfahren eingeleitet worden ist, in dem festgestellt werden soll, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist ( 14 ). Waren, die erkanntermaßen ein Recht geistigen Eigentums verletzen, unterliegen den Maßnahmen des Kapitels IV der Verordnung, zu denen auch die Vernichtung der rechtsverletzenden Waren gehört ( 15 ).

    26.

    Sobald erkannt ist, dass Waren ein Recht geistigen Eigentums verletzen, finden die in Kapitel IV der Verordnung genannten Maßnahmen Anwendung: Die Waren dürfen nicht in das Zollgebiet der Union eingelassen oder einer anderen der in Art. 16 genannten Handlungen zugeführt werden, und die Mitgliedstaaten müssen die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit die zuständigen Stellen die Maßnahmen nach Art. 17, einschließlich der Vernichtung der Waren, ergreifen können.

    27.

    Der Sachverhalt lässt nicht erkennen, ob das in der Verordnung vorgesehene Verfahren eingehalten worden ist, insbesondere ob der Rechtsinhaber den Antrag auf Tätigwerden der Zollbehörden gestellt hat. Es ist Sache der nationalen Gerichte, diese Voraussetzungen zu prüfen.

    B – Interpretation des Sachverhalts des Falles durch die nationalen Gerichte im Hinblick auf das System der Verordnung ( 16 )

    28.

    In seiner Klage gegen die Zurückhaltung der Ware vor dem Verwaltungsgericht Tallinn machte Sintax u. a. geltend, dass das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren zur Feststellung, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist, nicht rechtzeitig eingeleitet worden sei. Das MTA trug dagegen vor, dass es festgestellt sei, dass die Waren ein Recht geistigen Eigentums verletzten.

    29.

    Das Verwaltungsgericht Tallinn hat entschieden, dass in der Benachrichtigung von Acerra durch das MTA das erstmalige Tätigwerden des MTA im Verwaltungsverfahren zur Feststellung, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist, gesehen werden könne, das nach Art. 9 und Art. 10 der Verordnung zulässig sei. Demnach war das Gericht offenbar der Ansicht, dass das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren vom MTA am 27. Dezember 2010 eingeleitet worden sei. Das Gericht konnte jedoch im gesamten nachfolgenden Handeln keine Entscheidung des MTA erblicken. Das Versäumnis des MTA, eine Entscheidung zu erlassen, und die Auslegung von Art. 14 der Verordnung durch das Gericht führten dazu, dass das Gericht zugunsten von Sintax entschied.

    30.

    Das MTA legte gegen die Entscheidung Rechtsmittel mit der Begründung ein, dass es aufgrund der Klage von Sintax gegen die Gültigkeit des Rechts geistigen Eigentums keine Entscheidung über die Verletzung erlassen könne und dass Art. 14 der Verordnung mangels Leistung einer Sicherheit nicht anwendbar sei.

    31.

    Das Regionalgericht Tallinn bestätigte die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, wenn auch mit einer anderen Begründung. Nach der Interpretation des Sachverhalts durch das Regionalgericht war das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren nicht eingeleitet worden, da die Entscheidung, ob Rechte geistigen Eigentums verletzt seien, nicht von den Zollbehörden, sondern von einem Zivilgericht zu treffen sei.

    32.

    Das MTA legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde mit der Begründung ein, dass die Frage der Zuständigkeit der Zollbehörden für eine Entscheidung über die Verletzung erstmals vorgebracht worden sei und die Zollbehörden über diese Zuständigkeit in der Tat verfügten.

    33.

    Der Staatsgerichtshof Estlands führt in seinem Vorlagebeschluss aus, dass es „grundsätzlich möglich“ sei, das estnische Recht ( 17 ) dahin auszulegen, dass die Zollbehörden die Zuständigkeit hätten, zu entscheiden, ob die fraglichen Waren unerlaubt hergestellt seien ( 18 ). Das vorlegende Gericht hat jedoch Zweifel, ob diese Auslegung des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht vereinbar ist, und hält eine Beantwortung der beiden gestellten Fragen für notwendig, um über den Inhalt der Vorgaben entscheiden zu können, die das Gericht dem MTA zu machen hat.

    C – Vorlagefragen

    34.

    Wie bereits ausgeführt, fragt der Staatsgerichthof Estlands im Wesentlichen zwei Dinge, nämlich ob das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren von den Zollbehörden selbst durchgeführt werden kann (Frage 1) und ob die Zollbehörden das entsprechende Verfahren auch einleiten dürfen (Frage 2).

    1. Erste Frage

    35.

    Mit seiner ersten Frage möchte der Staatsgerichtshof Estlands wissen, ob die Zollbehörden das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren selbst durchführen können. Vor der Prüfung der Bestimmung möchte ich jedoch kurz die Ansichten der Parteien und des vorlegenden Gerichts zusammenfassen.

    a) Vor dem Gerichtshof abgegebene Erklärungen

    36.

    Das vorlegende Gericht bezweifelt, ob die Verordnung den Zollbehörden selbst gestattet, das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren durchzuführen. Im Titel des Kapitels III der Verordnung sei die Rede von „Zollbehörden und der für die Entscheidung in der Sache zuständigen Stelle“ und würden diese somit offenbar klar voneinander getrennt. Die Rechtsprechung in dieser Frage sei jedoch nicht eindeutig.

    37.

    Alle Beteiligten des vorliegenden Verfahrens würden die erste Frage bejahen.

    38.

    Nach Ansicht der Republik Estland harmonisiert die Verordnung lediglich Grenzmaßnahmen. Wie im achten Erwägungsgrund und in Art. 10 der Verordnung deutlich werde, sei die in Art. 13 Abs. 1 genannte Feststellung der Verletzung dem nationalen Recht überlassen und liege – nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten – die Bestimmung der zuständigen Stelle in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Estland sieht seine Ansicht in den Art. 49 und 55 des TRIPS-Übereinkommens bestätigt; in der ersteren Bestimmung seien Verwaltungsverfahren ausdrücklich erwähnt. Die Formulierung im Titel von Kapitel III weise lediglich darauf hin, dass es sich um verschiedene Behörden handeln könne, nicht aber, dass dies so sein müsse. Ferner sehe Art. 10 der Verordnung vor, dass das in Art. 13 Abs. 1 genannte Verfahren von der Zolldienststelle eingeleitet werden könne, und da eine Verwaltungsdienststelle selten ein Gerichtsverfahren einleite, um Interessen einzelner Personen zu schützen, setze Art. 10 implizit ein Verwaltungsverfahren als gegeben voraus. Ein Verwaltungsverfahren trage auch zur Erreichung der Ziele der Verordnung bei, nämlich eines besseren Schutzes gegen Verletzungen geistigen Eigentums. Diese Auffassung werde durch die Rechtsprechung bestätigt.

    39.

    Die Tschechische Republik stimmt mit Estland im Wesentlichen überein. Sie trägt ergänzend vor, dass eine andere Auslegung nur statthaft wäre, wenn eine Trennung zwischen den Zollbehörden und der Stelle, die in dem in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannten Verfahren entscheide, ein erklärtes Ziel der Verordnung verfolgen würde.

    40.

    Nach Ansicht der Kommission handelt es sich bei dem in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannten Verfahren um ein Verfahren nach nationalem Recht, um in der Sache festzustellen, ob tatsächlich eine Verletzung von Rechten geistigen Eigentums gegeben sei. Dieses Verfahren sei von dem Verfahren der Zurückhaltung von Waren (Tätigwerden der Zollbehörden) zu trennen. Die Art. 41 bis 49 des TRIPS-Übereinkommens stellten Kriterien für das Verfahren in der Sache auf, doch sei es Sache der Mitgliedstaaten, u. a. darüber zu entscheiden, ob als zuständige Stelle eine solche der Justiz oder der Verwaltung bestimmt werde – wobei allerdings Entscheidungen der Verwaltungsbehörden nach Art. 41 Abs. 4 gerichtlich nachprüfbar sein müssten.

    b) Können die Zollbehörden die „für die Entscheidung in der Sache zuständige Stelle“ im Sinne von Kapitel III der Verordnung sein?

    41.

    Es ist unbestreitbar, dass auch eine Verwaltungsbehörde die zuständige Stelle für die Feststellung sein kann, ob ein Recht geistigen Eigentums nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats verletzt ist; der Gerichtshof hat sich bereits in diesem Sinne geäußert, als er von der für „die Entscheidung [über die Verletzung] in der Sache zuständige[n] Stelle, sei es ein Gericht oder eine Behörde“, gesprochen hat ( 19 ). Der neutrale Wortlaut der Verordnung selbst, namentlich die Erwähnung der „für die Entscheidung in der Sache zuständigen Stelle“ im Titel von Kapitel III, und die Tatsache, dass sie nicht angibt, wo das in Art. 13 Abs. 1 genannte Verfahren durchgeführt wird, belegen, dass sie die Bestimmung der zuständigen Stelle den Mitgliedstaaten überlassen wollte ( 20 ).

    42.

    Allerdings folgt aus der Tatsache, dass die Verordnung nicht ausschließt, dass das in Art. 13 Abs. 1 genannte Verfahren von einer Verwaltungsbehörde durchgeführt werden kann, in Verbindung mit der Tatsache, dass die Zollbehörden unbestreitbar Verwaltungsbehörden sind, an und für sich noch nicht, dass die Zollbehörden ermächtigt werden dürfen, das entsprechende Verfahren durchzuführen.

    43.

    Tatsächlich gibt es eine Reihe von Umständen, aufgrund deren einer solchen Schlussfolgerung mit besonderer Vorsicht zu begegnen ist. Erstens erscheint angezeigt, daran zu erinnern, dass die Verordnung selbst im Titel von Kapitel III „Zollbehörden“ und die „für die Entscheidung in der Sache zuständige Stelle“, d. h. die Stelle, die feststellt, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist, nebeneinander stellt und somit offenbar eine Trennung zwischen beiden nahelegt.

    44.

    Darüber hinaus lässt der Wortlaut von Art. 10 der Verordnung, auf den ich in meinen Ausführungen zur zweiten Frage zurückkommen werde, erkennen, dass die Bestimmung davon ausgeht, dass die Stelle, die feststellt, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist, und die Zolldienststelle oder Zollstelle, die das Verfahren möglicherweise eingeleitet hat, verschiedene Stellen sind ( 21 ).

    45.

    Fraglich ist nun, ob der Gerichtshof angesichts der vorgenannten Umstände und wie offenbar von der Kommission vertreten ohne Weiteres entscheiden sollte, dass die Verordnung der Ansicht nicht entgegensteht, dass die Zollbehörden für die Feststellung zuständig sind, ob eine Verletzung vorliegt.

    46.

    Tatsächlich sollte der Gerichtshof nach Ansicht der Kommission feststellen, dass es in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt, zu entscheiden, welche Stelle zuständig ist, und die Einzelheiten des Verfahrens festzulegen, in dem festgestellt wird, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist. Sie legt allerdings Wert auf die Feststellung, dass das nationale Recht klar festlegen müsse, welche Stelle für dieses Verfahren zuständig sei. Sie betont ferner, dass das Verfahren über die Verletzung in der Sache nicht mit denjenigen identisch sein dürfe, in denen darüber entschieden werde, ob die Überlassung von Waren ausgesetzt werde oder Waren zurückgehalten würden, wenn Waren im Verdacht ständen, ein Recht geistigen Eigentums zu verletzen. Es bleibe jedoch zu prüfen, ob diese Schutzanforderungen ausreichten.

    47.

    Meines Erachtens ist das nicht der Fall.

    48.

    Der Umstand, dass es sich nach nationalem Recht um eine Verwaltungsbehörde handeln kann, die ermächtigt wird, in dem in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannten Verfahren festzustellen, ob ein Recht geistigen Eigentums verletzt ist, ändert weder die Natur noch den Inhalt der Entscheidung, die diese Stelle zu treffen hat. Klar ist, dass die Verwaltungsbehörde in einem solchen Verfahren über Rechte und legitime Interessen einzelner Personen entscheiden würde, nämlich – in der Terminologie der Verordnung – „des Anmelders, des Besitzers oder des Eigentümers der Waren“ ( 22 ). In diesem Zusammenhang ist noch einmal zu betonen, dass Waren aufgrund der Entscheidung den in Kapitel IV der Verordnung vorgesehenen Maßnahmen unterliegen können.

    49.

    In der Rechtssache Sopropé, in der es um eine Entscheidung von Zollbehörden in Verbindung mit Zollabgaben ging, hat der Gerichtshof entschieden, dass nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts „die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, in die Lage versetzt werden [müssen], ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen“ ( 23 ). Diese Analyse hat natürlich in entsprechender Weise nach Inkrafttreten der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) mit dem Vertrag von Lissabon zu gelten ( 24 ).

    50.

    Sicherlich fällt die Gestaltung des in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannten Verfahrens allgemein in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in Wahrnehmung ihrer Verfahrensautonomie ( 25 ), wie die Kommission zutreffend ausführt. Gleichwohl ist das Handeln der Mitgliedstaaten in dieser Hinsicht als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ( 26 ).

    51.

    Vor diesem Hintergrund ist der nächste Schritt der notwendigen Analyse, zu bestimmen, wie und, worauf es noch mehr ankommt, wo im Kontext nach Lissabon die angesprochenen Verfahrensgarantien, die gleichzeitig als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts geschützt sind, zu verorten sind.

    52.

    Meines Erachtens, und dies ist insoweit mein hauptsächlicher Punkt, überwiegt die Bedeutung der Art der Aufgabe, die wahrgenommen wird, die der Art der Behörde, die sie wahrnimmt. Es ist zwar richtig, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK), auf dem Art. 47 Abs. 2 der Charta basiert ( 27 ), sich im Allgemeinen auf Verfahren vor einem „Gericht“ und nicht auf Verwaltungsverfahren bezieht ( 28 ). Zu unterstreichen ist gleichwohl, dass die Umstände des vorliegenden Falles sicherlich besonderer Art sind. Im vorliegenden Fall würde von einer Verwaltungsbehörde eine Aufgabe wahrgenommen, deren Struktur und Methodik offenbar derjenigen einer gerichtlichen Instanz entspricht. In diesem Sinne ist meine Stellungnahme in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Philips zu verstehen, dass die zuständige Stelle „normalerweise“ ein Gericht ist ( 29 ). Aus dieser Perspektive betrachtet, bin ich der Ansicht, dass Art. 47 der Charta die richtige Grundlage für die erwähnten Verfahrensgarantien ist.

    53.

    Meine Ansicht wird durch die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bekräftigt. Diesem zufolge umfasst der Begriff der „Streitigkeiten in Bezug auf … [zivil-rechtliche] Ansprüche“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK Streitigkeiten über Bestehen und Verletzung von Rechten geistigen Eigentums unabhängig von der Rechtsnatur der diese Prüfung vornehmenden Stelle im nationalen Recht ( 30 ). Der Schutz des Art. 6 EMRK kommt somit zur Anwendung, soweit, wie hier, eine solche Streitigkeit in Rede steht und das Ergebnis der Streitigkeit für die fraglichen Ansprüche entscheidend ist. Jedoch müssen die Mitgliedstaaten in diesem Fall die Streitigkeit nicht einem Gericht zuweisen, das allen Anforderungen des Art. 6 EMRK in jedem Stadium des Verfahrens genügt. „Notwendigkeiten der Flexibilität und Effizienz können die vorherige Einschaltung von Stellen der Verwaltung rechtfertigen, die den genannten Anforderungen nicht in jeder Hinsicht entsprechen.“ ( 31 ) Dieser Aussage ist zu entnehmen, dass die materiellen Anforderungen des Art. 6 EMRK grundsätzlich auch für diese Verwaltungsverfahren gelten, wenn auch möglicherweise nicht mit der gleichen Stringenz. Diese Erwägungen sind nach Art. 52 Abs. 3 der Charta in gleicher Weise auf Art. 47 der Charta zu übertragen.

    54.

    Ausgehend von der vorstehenden Analyse sind die wesentlichen Garantien, mit denen das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren verbunden sein muss, unschwer zu benennen.

    55.

    So muss das nationale Recht, wie die Kommission ausführt, den Zollbehörden ausdrücklich die Befugnis einräumen, die entsprechenden Entscheidungen zu treffen. Es reicht selbstverständlich nicht aus, die Zuständigkeit der Zollbehörden aus etwas abzuleiten, das als ihre „normale“ Zuständigkeit bezeichnet werden kann. Ebenso haben Zollbehörden, die ermächtigt sind, die genannten Entscheidungen zu treffen, in einer Weise zu handeln, die ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit garantiert. Ferner müssen die Adressaten von Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar beeinträchtigen, unter Beachtung der Verteidigungsrechte, in der Lage sein, ihren Standpunkt zu den Elementen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen ( 32 ). Den betroffenen Personen ist also ein Anspruch auf rechtliches Gehör zu gewähren. Zudem muss die Entscheidung der Zollbehörde selbstverständlich gerichtlich nachprüfbar sein.

    56.

    Demnach schlage ich zur Beantwortung vor, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Zollbehörden zur Durchführung des in der Bestimmung genannten Verfahrens zu ermächtigen, vorausgesetzt, dass diese Ermächtigung ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist, die Zollbehörden in einer Weise handeln, die ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit garantiert, das Recht auf rechtliches Gehör gewahrt und die Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung gewährt wird.

    2. Zweite Frage

    57.

    Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Mitgliedstaaten vorsehen können, dass die Zollbehörden das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren einleiten dürfen.

    58.

    Alle Verfahrensbeteiligten vertreten die Ansicht, dass dies zu bejahen sei. Sie betonen, dass das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren nach Art. 10 Satz 1 nationalem Recht unterliege. Estland und die Tschechische Republik weisen darauf hin, dass nach Art. 14 Abs. 2 und Art. 10 Satz 2 das Verfahren von jemandem eingeleitet werden könne, der nicht der Rechtsinhaber sei, und zwar auch von den Zollbehörden selbst, und dass diese Auslegung mit dem Ziel der Verordnung vereinbar sei, nämlich dem Kampf gegen Verletzungen geistigen Eigentums und dem Schutz des Verbrauchers vor rechtsverletzenden Waren.

    59.

    Dem Sachverhalt ist nicht zu entnehmen, ob die nationalen Behörden das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren eingeleitet haben oder nicht. Die Prüfung des Sachverhalts obliegt den nationalen Gerichten.

    60.

    Es ist zwar richtig, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die Verordnung dem Rechtsinhaber eine wesentliche Rolle überträgt: Es ist der Rechtsinhaber, der den Antrag auf Tätigwerden der Zollbehörden nach Art. 5 der Verordnung stellen muss, und ein Tätigwerden der Zollbehörden von Amts wegen nach Art. 4 Abs. 1 ist nur gestattet, „um dem Rechtsinhaber die Möglichkeit zu geben, einen Antrag auf Tätigwerden nach Artikel 5 zu stellen“. Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang festgestellt, dass „die endgültige Verurteilung derartiger Praktiken durch die für die Entscheidung in der Sache zuständige nationale Stelle deren Befassung durch den Rechtsinhaber voraus[setzt]. In Ermangelung einer solchen Befassung durch den Rechtsinhaber verlieren die Aussetzung der Überlassung oder die Zurückhaltung der Waren … ihre – kurzfristige – Wirkung.“ ( 33 ) Diese Feststellung bezog sich zwar auf die Verordnung Nr. 3295/94, trifft jedoch auch auf die Verordnung zu, die zum Zeitpunkt der Ereignisse des vorliegenden Falles in Kraft war.

    61.

    Allerdings wollte der Gerichtshof nicht alle Möglichkeiten beschreiben, wie das in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannte Verfahren eingeleitet werden kann, sondern bezog sich in diesem Zusammenhang auf den häufigsten Fall.

    62.

    Tatsächlich bezieht sich Art. 14 Abs. 2 Unterabs. 3 der Verordnung ausdrücklich auf Situationen, in denen „das Verfahren, in dem festgestellt werden soll, ob ein Recht geistigen Eigentums nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verletzt ist, auf andere Weise als auf Antrag des Inhabers eines Geschmacksmusterrechts … eingeleitet worden [ist]“. Nach Art. 10 Satz 2 „gelten“ die im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Rechtsvorschriften „auch für die unverzügliche Unterrichtung der in Artikel 9 Absatz 1 genannten Dienststelle oder Zollstelle über die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 13, sofern dieses nicht von dieser Dienststelle oder Zollstelle durchgeführt wird“. Die Bestimmung geht ausdrücklich davon aus, dass das Verfahren nach Art. 13 von der in Art. 9 Abs. 1 genannten Dienststelle oder Zollstelle eingeleitet werden kann. Damit erledigt sich die Frage. Die vom vorlegenden Gericht angedeutete Frage, inwieweit die Einleitung des in Art. 13 Abs. 1 der Verordnung genannten Verfahrens durch die Zollbehörden zum Schutz der Verbraucher erforderlich oder dienlich ist, bedarf keiner Entscheidung.

    63.

    Im Licht dieser Erwägungen und der sicherlich nicht sehr eindeutigen Umstände des Falles ist noch einmal daran zu erinnern, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung den Zollbehörden eine Verpflichtung auferlegt, die Waren zu überlassen oder ihre Zurückhaltung aufzuheben, wenn seine Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Verpflichtung folgt aus dem Bestreben der Verordnung, den rechtmäßigen Handel in seiner Freiheit nicht zu beeinträchtigen, gleichzeitig aber das Inverkehrbringen von Waren, die Rechte geistigen Eigentums verletzen, zu verhindern, wie im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung erwähnt. Somit kann ein Absehen des Rechtsinhabers von der Einleitung eines Verfahrens innerhalb der geltenden Frist nur dann durch die Einleitung eines Verfahrens durch die Zollbehörden mit der Wirkung, dass eine Überlassung der Waren verhindert wird, ersetzt werden, wenn die Zollbehörden eine formelle Entscheidung treffen, das Verfahren einzuleiten. Insbesondere reicht eine einfache Feststellung, dass der Rechtsinhaber durch die Einfuhr der in Rede stehenden Waren seine Rechte geistigen Eigentums als verletzt ansieht, nicht aus, um die Ablehnung einer Forderung nach Überlassung der Waren zu rechtfertigen. Die entsprechenden Umstände festzustellen, obliegt selbstverständlich den nationalen Gerichten.

    64.

    Daher schlage ich vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass Art. 13 Abs. 1 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, die Möglichkeit vorzusehen, dass die Zollbehörden das in der Bestimmung genannte Verfahren auch selbst formell einleiten können.

    V – Ergebnis

    65.

    Im Licht der vorstehenden Erwägungen sind die vom Riigikohus vorgelegten Fragen meines Erachtens vom Gerichtshof wie folgt zu beantworten:

    Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen, ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Zollbehörden zur Durchführung des in der Bestimmung genannten Verfahrens zu ermächtigen, vorausgesetzt, dass diese Ermächtigung ausdrücklich im nationalen Recht vorgesehen ist, die Zollbehörden in einer Weise handeln, die ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit garantiert, das Recht auf rechtliches Gehör gewahrt und die Möglichkeit einer gerichtlichen Nachprüfung gewährt wird.

    Art. 13 Abs. 1 der Verordnung ist dahin auszulegen, dass diese Bestimmung die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, die Möglichkeit vorzusehen, dass die Zollbehörden das in der Bestimmung genannte Verfahren auch selbst formell einleiten können.


    ( 1 ) Originalsprache: Englisch.

    ( 2 ) Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen (ABl. L 196, S. 7). Die Verordnung ist in den Urteilen vom 12. Februar 2009, Schenker (C-93/08, Slg. 2009, I-903), vom 2. Juli 2009, Zino Davidoff (C-302/08, Slg. 2009, I-5671), vom 1. Dezember 2011, Philips und Nokia (C-446/09 und C-495/09, Slg. 2011, I-12435), ausgelegt worden. Zu vorangegangenen Rechtsvorschriften ist weitere Rechtsprechung ergangen.

    ( 3 ) Sie hob (Art. 24) die Verordnung (EG) Nr. 3295/94 des Rates vom 22. Dezember 1994 über Maßnahmen zum Verbot der Überführung nachgeahmter Waren und unerlaubt hergestellter Vervielfältigungsstücke oder Nachbildungen in den zollrechtlich freien Verkehr oder in ein Nichterhebungsverfahren sowie zum Verbot ihrer Ausfuhr und Wiederausfuhr (ABl. L 341, S. 8) auf, die ihrerseits (Art. 16) die Verordnung (EWG) Nr. 3842/86 des Rates vom 1. Dezember 1986 über Maßnahmen zum Verbot der Überführung nachgeahmter Waren in den zollrechtlich freien Verkehr (ABl. L 357, S. 1) aufhob.

    ( 4 ) Verordnung (EU) Nr. 608/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juni 2013 zur Durchsetzung der Rechte geistigen Eigentums durch die Zollbehörden und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates (ABl. L 181, S. 15). Vgl. Art. 38.

    ( 5 ) Verordnung (EG) Nr. 1891/2004 der Kommission vom 21. Oktober 2004 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EG) Nr. 1383/2003 des Rates über das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, bestimmte Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und die Maßnahmen gegenüber Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen (ABl. L 328, S. 16). Vgl. Art. 20 der Verordnung.

    ( 6 ) Dem Vorbringen Estlands zufolge entschied das MTA in Anbetracht des anhängigen Rechtsstreits über die Gültigkeit des Geschmacksmusterrechts, keine Verwaltungsentscheidung über die Frage zu erlassen, ob eine Verletzung eines Rechts geistigen Eigentums im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung vorliege, weil eine solche Entscheidung im Wesentlichen zur Beschlagnahme und Vernichtung der Ware führen würde.

    ( 7 ) Zweiter Erwägungsgrund der Verordnung.

    ( 8 ) Der Begriff ist in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung definiert.

    ( 9 ) Die Ware muss den einschlägigen zollrechtlichen Bestimmungen unterliegen. Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung.

    ( 10 ) Art. 5 und 6 der Verordnung.

    ( 11 ) Art. 8 der Verordnung. Die Verordnung verwendet verschiedene Begriffe für die verschiedenen genannten Behörden. Die Behörde, bei der der Antrag gestellt und über diesen entschieden wird, wird als „Zolldienststelle“ bezeichnet (Art. 5 Abs. 1 und 2), während die Behörde, der der Antrag nach seiner Bewilligung übermittelt wird und die daraufhin tätig wird, als „Zollstelle“ bezeichnet wird (Art. 9 Abs. 1). Der Begriff „Zollbehörden“ wird (z. B. in Art. 1 Abs. 1) als Oberbegriff für alle Einzelbehörden in der Organisation des Zolls verwendet. Ich werde durchgehend diesen Begriff verwenden.

    ( 12 ) Art. 9 Abs. 1 der Verordnung.

    ( 13 ) Art. 4 der Verordnung.

    ( 14 ) Alternativ kann gegebenenfalls das sogenannte vereinfachte Verfahren nach Art. 11 Abs. 1 angewendet werden. Vgl. auch das Urteil Schenker, Rn. 26.

    ( 15 ) Art. 17 der Verordnung.

    ( 16 ) Die Darstellung basiert auf dem Vorlagebeschluss.

    ( 17 ) §§ 39 Abs. 4 und 6, 45 Abs. 1 TS, §§ 6, 38 und 39 HMS in Verbindung mit § 1 Abs. 4 TS.

    ( 18 ) Dem Vorbringen Estlands zufolge kann ein Rechtsinhaber auch ein Verfahren vor den Zivilgerichten einleiten und stellt das Verwaltungsverfahren eine Alternative dazu dar.

    ( 19 ) Urteil Philips, Rn. 69. Meine Stellungnahme in Nr. 96 der Schlussanträge in der Rechtssache Philips („ist es … nicht Sache der Zollbehörden, abschließend zu entscheiden, ob ein Recht des geistigen Eigentums verletzt wurde“) sollte den Unterschied zwischen dem Verfahren für das Vorgehen der Zollbehörden gegen Waren, die im Verdacht stehen, Rechte geistigen Eigentums zu verletzen, und demjenigen bei Waren, die erkanntermaßen derartige Rechte verletzen, aufzeigen. Sie ist keinesfalls dahin zu verstehen, dass sie die Möglichkeit ausschließt, die hier Gegenstand der Prüfung ist.

    ( 20 ) Vrins, O. und Schneider, M., Enforcement of Intellectual Property Rights through Border Measures, Oxford, OUP (2. Auflage, 2012), 5.495.

    ( 21 ) Die deutsche und die dänische Sprachfassung von Art. 10 Satz 2 der Verordnung legen offenbar nahe, dass die Zollbehörden das Verfahren durchführen können („sofern dieses nicht von dieser Dienststelle oder Zollstelle durchgeführt wird“; „medmindre denne gennemføres af nævnte afdeling eller toldsted“). Aus der englischen, der niederländischen, der französischen und der italienischen Sprachfassung geht dagegen klar hervor, dass diese Bestimmung sich auf die Einleitung des Verfahrens durch diese Behörden bezieht („unless the procedure was initiated by that department or office“, „tenzij dat kantoor of die dienst de procedure zelf heeft ingeleid“, „à moins que celle-ci n’ait été engage par ce service ou ce bureau“, „sempre che la medesima non sia stata avviata da tale servizio o ufficio doganale“).

    ( 22 ) Art. 11 Abs. 1 der Verordnung.

    ( 23 ) Urteil vom 18. Dezember 2008, Sopropé (C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Rn. 36 und 37).

    ( 24 ) In jüngerer Zeit kam dieser allgemeine Grundsatz im Urteil vom 22. Oktober 2013, Sabou (C‑276/12, Rn. 38), zur Anwendung, allerdings im Zusammenhang mit Ermittlungen von Steuerbehörden.

    ( 25 ) Zum Grundsatz der Verfahrensautonomie vgl. Urteil vom 11. Februar 1971, Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor (39/70, Slg. 1971, 49, Rn. 4).

    ( 26 ) Vgl. das Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, Rn. 19); Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Sabou, Nrn. 38 bis 46.

    ( 27 ) Erläuterungen zu Art. 47 der Charta.

    ( 28 ) Urteil vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission (C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123); Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Sabou, Nr. 54; Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 18. März 1997, Mantovanelli/Frankreich (Receuil des arrêts et décisions 1997-II, Rn. 33).

    ( 29 ) Schlussanträge in der Rechtssache Philips, Nr. 41.

    ( 30 ) Vgl. Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2. Mai 2013, Kristiansen und Tyvik AS/Norwegen (25498/08, Rn. 51), und vom 13. September 2005, Vrábel und Ďurica/Tschechische Republik (65291/01, Rn. 5, 38 bis 40); vgl. auch Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 28. Juni 1978, König/Deutschland (Serie A, Nr. 27, Rn. 88).

    ( 31 ) Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23. Juni 1981, Le Compte, Van Leuven und de Meyere/Belgien (Serie A, Nr. 43, Rn. 51), und vom 23. Juli 2002, Janosevic/Schweden (Receuil des arrêts et décisions 2002-VII, Rn. 81).

    ( 32 ) Urteil Sopropé, Rn. 37.

    ( 33 ) Urteil vom 14. Oktober 1999, Adidas (C-223/98, Slg. 1999, I-7081, Rn. 26).

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