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Document 62012CC0530

Schlussanträge des Generalanwalts Bot vom 28. November 2013.
Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) gegen National Lottery Commission.
Rechtsmittel - Gemeinschaftsmarke - Verordnung (EG) Nr. 40/94 - Art. 52 Abs. 2 Buchst. c - Antrag auf Nichtigerklärung auf der Grundlage eines älteren, nach nationalem Recht erworbenen Urheberrechts - Anwendung des nationalen Rechts durch das HABM - Aufgabe des Unionsrichters.
Rechtssache C-530/12 P.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2013:782

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 28. November 2013 ( 1 )

Rechtssache C‑530/12 P

Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM)

gegen

National Lottery Commission

„Rechtsmittel — Gemeinschaftsmarke — Verordnung (EG) Nr. 207/2009 — Art. 53 Abs. 2 Buchst. c — Gemeinschaftsmarke — Antrag auf Nichtigerklärung auf der Grundlage eines älteren nationalrechtlichen Urheberrechts — Kenntnis und Auslegung des nationalen Rechts — Amt des Unionsrichters“

1. 

Mit seinem Rechtsmittel beantragt das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) (HABM) die Aufhebung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2012, National Lottery Commission/HABM – Mediatek Italia und De Gregorio (Darstellung einer Hand) ( 2 ), mit dem das Gericht der Klage der National Lottery Commission ( 3 ) auf Aufhebung der Entscheidung der Ersten Beschwerdekammer des HABM vom 9. Juni 2010 ( 4 ) betreffend ein Nichtigkeitsverfahren zwischen der Mediatek Italia Srl und Herrn De Gregorio ( 5 ) zum einen sowie NLC zum anderen stattgegeben hat.

2. 

Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, die Stellung des nationalen Rechts in der Rechtsordnung der Europäischen Union genauer darzulegen und Leitlinien für die Kontrolle festzulegen, die der Unionsrichter in Bezug auf den Inhalt und die Auslegung dieses Rechts im Rahmen einer Rechtsstreitigkeit über die Gemeinschaftsmarke ausüben muss.

3. 

Der erste Rechtsmittelgrund wirft insbesondere die Frage auf, ob das Gericht, das mit der Klage gegen die Entscheidung einer Beschwerdekammer des HABM befasst ist, von Amts wegen den Inhalt des nationalen Rechts ermitteln darf, das von der Partei geltend gemacht wird, die die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke wegen eines älteren Rechts, das von diesem nationalen Recht geschützt wird, beantragt.

4. 

Insoweit werde ich in diesen Schlussanträgen darlegen, dass die dem Gericht obliegende Durchführung der vollen Rechtmäßigkeitsprüfung voraussetzt, dass es in dem Rechtsstreit eine Entscheidung treffen kann, die dem nationalen positiven Recht entspricht, und dass es dazu, erforderlichenfalls von Amts wegen, den Inhalt, die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung und die Tragweite der nationalen Rechtsnormen, auf die die Beteiligten ihr Vorbringen stützen, ermitteln kann.

5. 

Jedoch muss der Unionsrichter, wenn er diese Ermittlung von Amts wegen durchführt, den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens beachten.

6. 

Da das Gericht diesen Grundsatz nicht beachtet hat, werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, dem Rechtsmittel stattzugeben und das angefochtene Urteil aufzuheben.

7. 

Der Rechtsstreit ist meines Erachtens nicht zur Entscheidung reif, deshalb werde ich dem Gerichtshof schließlich vorschlagen, die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen.

I – Rechtlicher Rahmen

A – Verordnung (EG) Nr. 207/2009

8.

Die Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke ( 6 ) wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 207/2009 des Rates vom 26. Februar 2009 über die Gemeinschaftsmarke ( 7 ), die am 13. April 2009 in Kraft getreten ist, aufgehoben und kodifiziert.

9.

Art. 53 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009 lautet:

„Die Gemeinschaftsmarke wird auf Antrag beim [HABM] oder auf Widerklage im Verletzungsverfahren ebenfalls für nichtig erklärt, wenn ihre Benutzung aufgrund eines sonstigen älteren Rechts gemäß dem für dessen Schutz maßgebenden Gemeinschaftsrecht oder nationalen Recht untersagt werden kann[,] insbesondere eines

c)

Urheberrechts“.

10.

Art. 76 Abs. 1 dieser Verordnung lautet:

„In dem Verfahren vor dem [HABM] ermittelt das [HABM] den Sachverhalt von Amts wegen. Soweit es sich jedoch um Verfahren bezüglich relativer Eintragungshindernisse handelt, ist das [HABM] bei dieser Ermittlung auf das Vorbringen und die Anträge der Beteiligten beschränkt.“

B – Verordnung (EG) Nr. 2868/95

11.

Die Verordnung (EG) Nr. 2868/95 der Kommission vom 13. Dezember 1995 zur Durchführung der Verordnung Nr. 40/94 ( 8 ) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1041/2005 der Kommission vom 29. Juni 2005 geänderten Fassung ( 9 ) legt u. a. die Regeln für den Ablauf der Verfahren zur Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke vor dem HABM fest.

12.

Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung bestimmt:

„Der Antrag beim [HABM] auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke … muss folgende Angaben enthalten:

b)

hinsichtlich der Gründe für den Antrag,

iii)

bei Anträgen gemäß Artikel [53 Absatz 2 der Verordnung Nr. 207/2009] Angaben, aus denen hervorgeht, auf welches Recht sich der Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit stützt, und Angaben, die beweisen, dass der Antragsteller Inhaber eines in Artikel [53 Absatz 2 dieser] Verordnung genannten älteren Rechts ist oder dass er nach einschlägigem nationalen Recht berechtigt ist, dieses Recht geltend zu machen“.

II – Vorgeschichte des Rechtsstreits und streitige Entscheidung

13.

Am 2. Oktober 2007 wurde für NLC beim HABM die folgende Gemeinschaftsbildmarke eingetragen ( 10 ):

Image

14.

Am 20. November 2007 reichte Mediatek Italia beim HABM auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 40/94, jetzt Art. 53 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009 ( 11 ), einen Antrag auf Nichtigerklärung der streitigen Marke wegen eines älteren Urheberrechts ein, das Herr De Gregorio an dem folgenden Bildzeichen ( 12 ) besitzen soll:

Image

15.

Mit Entscheidung vom 16. Juli 2009 gab die Nichtigkeitsabteilung des HABM diesem Antrag statt und begründete dies im Wesentlichen damit, dass Mediatek Italia nachgewiesen habe, dass ein im italienischen Recht geschütztes, mit der streitigen Marke quasiidentisches Urheberrecht bestehe und dass dieses Recht gegenüber der genannten Marke das ältere Recht sei.

16.

NLC legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.

17.

Mit der streitigen Entscheidung wies die Erste Beschwerdekammer des HABM diese Beschwerde zurück.

18.

Die Beschwerdekammer war erstens der Ansicht, Mediatek Italia habe den Beweis für die Herstellung des Werks und die Inhaberschaft des Urheberrechts durch Vorlage einer Fotokopie einer privatschriftlichen Vertragsurkunde vom 16. September 1986 ( 13 ) erbracht, in der ein Dritter, der sich als Urheber der mano portafortuna bezeichne, bestätige, dass er seine Reproduktions- und Nutzungsrechte an diesem Werk, das mit anderen Zeichen in der Anlage dieses Vertrags abgebildet sei, an einen der Antragsteller, die die Nichtigerklärung beantragt hätten, abgetreten habe.

19.

Zweitens vertrat sie die Auffassung, dass die von NLC genannten Anomalien, nämlich die Angabe einer maximalen Schutzdauer von 70 Jahren für das Urheberrecht, obwohl eine solche Frist erst seit 1996 existiere, das Datum des Poststempels, das einem Sonntag entspreche, einem Tag, an dem die Postämter geschlossen seien, sowie der qualitative und konzeptuelle Unterschied zwischen der Abbildung der mano portafortuna und den anderen Abbildungen in der Anlage nicht geeignet seien, Zweifel an der Echtheit des Vertrags von 1986 hervorzurufen.

20.

Drittens stellte sie fest, auch wenn die privatschriftliche Urkunde die Herkunft der Erklärungen von denjenigen, die sie unterzeichnet hätten, bis zur Anfechtung der Echtheit gemäß Art. 2702 des italienischen Zivilgesetzbuchs voll und ganz beweise, sei sie befugt, ihren Inhalt frei zu beurteilen.

III – Klage beim Gericht und angefochtenes Urteil

21.

NLC erhob mit Klageschrift, die am 8. September 2010 bei der Kanzlei des Gerichts einging, eine Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung.

22.

NLC stützte ihre Klage auf drei Klagegründe: einen Verstoß gegen Art. 53 Abs. 2 Buchst. c der Verordnung Nr. 207/2009, die Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Beschwerdekammer, eine mündliche Verhandlung durchzuführen oder eine Beweisaufnahme anzuordnen, sowie eine fehlerhafte Beurteilung ihrer Befugnis, die Echtheit des Vertrags von 1986 zu prüfen.

23.

Mit dem angefochtenen Urteil gab das Gericht der Klage statt und verurteilte das HABM zur Tragung der Kosten.

24.

Das Gericht, das den ersten und den dritten Klagegrund zusammen prüfte, wies zunächst in den Randnrn. 17 bis 21 des angefochtenen Urteils auf die Verfahrensregelung hin, die auf den Antrag auf Nichtigerklärung der Gemeinschaftsmarke anwendbar war, der darauf gegründet wurde, dass ein älteres, durch das nationale Recht geschütztes Urheberrecht bestand.

25.

In den Randnrn. 18 und 19 des angefochtenen Urteils zitierte es die Randnrn. 50 bis 52 des Urteils des Gerichtshofs vom 5. Juli 2011, Edwin/HABM ( 14 ), und wies dann in Randnr. 20 des angefochtenen Urteils auf seine eigene, auf den Begriff der „offenkundigen Tatsache“ gestützte Rechtsprechung hin, nach der das HABM „sich von Amts wegen mit den ihm hierzu zweckdienlich erscheinenden Mitteln über das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats informieren [muss], soweit entsprechende Kenntnisse für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen des fraglichen Nichtigkeitsgrundes und vor allem für die Würdigung der vorgetragenen Tatsachen oder der Beweiskraft der vorgelegten Unterlagen erforderlich sind“.

26.

Im Licht dieser Grundsätze entschied das Gericht in den Randnrn. 23 und 24 des angefochtenen Urteils, dass sich zwar „die Beschwerdekammer … zu Recht auf die italienischen Rechtsnormen [stützte], die die Beweiskraft des Vertrags von 1986 festlegen“, dass es jedoch ihm oblag, „zu prüfen, ob [sie] die maßgeblichen Vorschriften des italienischen Rechts korrekt [ausgelegt hatte], als sie entschied, dass nach den Art. 2702 und 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs der Vertrag von 1986 die Herkunft der Erklärungen von denjenigen, die sie unterzeichnet hatten, bis zur Einleitung eines Verfahrens zur Anfechtung der Echtheit voll und ganz beweist“.

27.

Nach einem Hinweis auf den Inhalt der Art. 2702 bis 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs formulierte das Gericht seinen Standpunkt wie folgt:

„29

Aus den Art. 2702 bis 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs ergibt sich jedoch, dass dies unter den Umständen des vorliegenden Falles nur dann bestätigt werden kann, wenn die Unterschrift der Vertragsparteien auf dem Vertrag insoweit als gesetzlich anerkannt angesehen werden kann, als sie gemäß Art. 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs beglaubigt wurde, oder unter der Bedingung, dass eine der Ausnahmen in Art. 2704 dieses Gesetzbuchs Anwendung findet.

31

… Was die Anwendung von Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs betrifft, so erlaubt dieser, eine privatschriftliche Vertragsurkunde, deren Unterschrift nicht beglaubigt wurde, einem Dritten ab dem Tag nach ihrer Eintragung oder dem Eintritt eines Umstandes, der ebenso sicher beweist, dass die Urkunde früher ausgestellt worden ist, entgegenzuhalten.

32

In Anwendung der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (italienischer Kassationsgerichtshof) stellt die Anbringung eines Poststempels auf einer privatschriftlichen Urkunde einen Umstand dar, der das Datum dieser Urkunde im Sinne von Art. 2704 des Zivilgesetzbuches sicher beweist, soweit der Poststempel auf dem Dokument selbst angebracht ist (Urteil vom 14. Juni 2007, Nr. 13912[ ( 15 )]). Dieser Rechtsprechung ist ebenfalls zu entnehmen, dass der Gegenbeweis zur Richtigkeit des Datums eines Poststempels erbracht werden kann, ohne dass ein Verfahren zur Anfechtung der Echtheit eingeleitet werden muss.“

28.

Nachdem das Gericht in Randnr. 33 des angefochtenen Urteils noch ausgeführt hatte, „auch wenn die angefochtene Entscheidung keinen Verweis auf Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs enthält, so wird doch erwähnt, dass ein Poststempel mit dem Datum 21. September 1986 vorhanden ist“, räumte es in Randnr. 34 dieses Urteils ein, dass „das Vorhandensein dieses Poststempels mit dem Datum des 21. Septembers 1986 den Beweis erlaubt, dass der Vertrag mit Sicherheit ab dem 21. September 1986 gültig war“, bevor es in Randnr. 35 dieses Urteils weiter ausführte, dass „es [NLC] nach der Rechtsprechung der [Corte suprema di cassazione] freistand, den Beweis dafür zu erbringen, dass der Vertrag von 1986 in Wirklichkeit zu einem anderen Zeitpunkt als dem Datum des Poststempels abgefasst worden war, ohne dass dafür ein Verfahren zur Anfechtung der Echtheit eingeleitet werden musste“.

29.

In Randnr. 36 des angefochtenen Urteils zog das Gericht daraus den Schluss:

„Somit hat die Beschwerdekammer dadurch, dass sie … zu dem Ergebnis kam, dass es sich bei dem Vertrag von 1986 ‚um eine privatschriftliche Urkunde handelte, die gemäß Art. 2702 des Zivilgesetzbuchs bis zur Anfechtung der Echtheit den vollen Beweis für die Herkunft der Erklärungen von den Unterzeichnern erbrachte‘, während es nicht notwendig war, unter den gegebenen Umständen ein solches Verfahren einzuleiten, eine fehlerhafte Auslegung des nationalen Rechts, das gemäß Art. 53 Abs. 2 der Verordnung anwendbar war, vorgenommen und hat somit den genauen Umfang ihrer Kompetenzen nicht richtig beurteilt.“

30.

Dann stellte das Gericht, nachdem es in Randnr. 39 des angefochtenen Urteils darauf hingewiesen hatte, dass die Beurteilung der Anomalien des Vertrags von 1986 durch die fehlerhafte Auslegung des italienischen Rechts beeinträchtigt worden sein könnte, da „davon ausgegangen werden kann, dass die Beschwerdekammer diesen Punkten mehr Bedeutung beigemessen hätte, wenn sie der Ansicht gewesen wäre, dass es [NLC] freistand, vor ihr die sichere Richtigkeit des Datums auf dem Poststempel zu beanstanden, und dass folglich dem Vertrag von 1986 nicht zwangsläufig Beweiskraft für die Herkunft der Erklärungen zukommt, die in ihm enthalten sind“, in Randnr. 40 des angefochtenen Urteils fest, dass die fehlerhafte Auslegung des nationalen Rechts, das den Schutz des von Mediatek Italia geltend gemachten älteren Rechts regelt, sich auf den Inhalt der streitigen Entscheidung auswirken konnte.

31.

Das Gericht kam dann in Randnr. 41 des angefochtenen Urteils zu dem Ergebnis, dass die streitige Entscheidung aufzuheben sei, ohne dass der zweite Klagegrund geprüft werden müsse.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

32.

Das HABM beantragt die Aufhebung des angefochtenen Urteils und die Verurteilung von NLC zur Tragung der Kosten, während NLC beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen.

33.

Das HABM stützt sein Rechtsmittel auf drei Gründe. Es rügt erstens einen Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009, wie er vom Gerichtshof in Verbindung mit Art. 53 Abs. 2 dieser Verordnung ausgelegt wird, und gegen Regel 37 der Durchführungsverordnung, zweitens einen Verstoß gegen das Recht des HABM, gehört zu werden, und drittens eine offensichtliche Inkohärenz sowie eine Verfälschung der Tatsachen.

A – Zum ersten Rechtsmittelgrund: Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und gegen Regel 37 der Durchführungsverordnung

34.

Mit dem ersten Rechtsmittelgrund, der in zwei Teile untergliedert ist, trägt das HABM vor, dass sich das Gericht weder auf Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs (erster Teil) noch auf das Urteil vom 14. Juni 2007 (zweiter Teil) stützen könne, da diese beiden Punkte von den Parteien nicht geltend gemacht worden seien und deshalb nicht Teil des Streitgegenstands des Rechtsstreits vor der Beschwerdekammer seien.

1. Vorbringen der Parteien

35.

Da das HABM der Ansicht ist, dass aus den Ausführungen des Gerichts nicht deutlich hervorgehe, ob es das nationale Recht als eine Rechtsfrage oder als offenkundige Tatsache ansehe, macht es alternativ geltend:

Falls das Gericht der Ansicht gewesen sei, die Anwendung des nationalen Rechts stelle eine Rechtsfrage dar, habe es den in Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung genannten Grundsatz, nach dem es der Partei, die sich auf das nationale Recht berufe, obliege, dem HABM Nachweise hinsichtlich des Inhalts der Rechtsvorschriften und zu der Frage zu liefern, inwiefern sie auf den gegebenen Fall anwendbar seien, verletzt und die Entscheidung in der Rechtssache Edwin/HABM, aus der sich ergebe, dass das nationale Recht eine Tatsachenfrage sei, die von den Parteien geltend gemacht und bewiesen werden müsse, nicht beachtet;

falls das Gericht der Ansicht gewesen sei, die Anwendung des nationalen Rechts stelle eine Tatsachenfrage dar, habe es die nationalen Rechtsvorschriften unrechtmäßigerweise als „offenkundige Tatsache“ eingestuft, die als solche vom HABM aus eigener Initiative ermittelt und geltend gemacht werden könnten, und es habe außerdem seine eigene Beurteilung an die Stelle der Beurteilung der Beschwerdekammer gesetzt und Gesichtspunkte gewürdigt, zu denen sich diese Kammer nie geäußert habe.

36.

NLC antwortet, Regel 37 der Durchführungsverordnung und das Urteil Edwin/HABM beträfen ausschließlich die Beweislast, die beim Antragsteller liege, und bezögen sich weder auf den Antragsgegner noch das HABM.

37.

Außerdem obliege es dem HABM, das nationale Recht korrekt anzuwenden und sich von Amts wegen über dieses zu informieren, wenn dies für die Würdigung der Tatbestandsvoraussetzungen eines Nichtigkeitsgrundes notwendig sei.

38.

Die Beschwerdekammer habe nicht nur eine Würdigung der Tatsachen vorgenommen, sondern eine Rechtsentscheidung getroffen. Eine Auslegung von Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009, die die Prüfung der Beschwerdekammer nur auf die vom Antragsteller dargelegten relativen Eintragungshindernisse beschränke, würde der Anwendung der Rechtsgrundsätze widersprechen, die vom HABM berücksichtigt werden müssten, worauf im 13. Erwägungsgrund und in Art. 83 dieser Verordnung hingewiesen werde.

39.

Schließlich führt NLC aus, der Fehler der Beschwerdekammer beruhe auf einer fehlerhaften Auslegung der Art. 2702 und 2703 des italienischen Zivilgesetzbuchs, auf die sie aufmerksam gemacht worden sei, und die Frage der Beweiskraft des Vertrags von 1986 sei vor der Beschwerdekammer und dem Gericht aufgeworfen worden. Angenommen, das Gericht habe zu Unrecht eine Debatte in Bezug auf Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs und die dazu ergangene Rechtsprechung begonnen, habe sich dieser Fehler nicht auf das Ergebnis seiner Analyse ausgewirkt, so dass das Rechtsmittel zurückzuweisen sei ( 16 ).

2. Würdigung

a) Vorbemerkungen

40.

Der erste Rechtsmittelgrund, mit dem das HABM dem Gericht vorwirft, den Streitgegenstand verändert zu haben, weil es sich auf Vorschriften und ein Urteil gestützt habe, die von den Beteiligten nicht geltend gemacht worden seien, betrifft ausschließlich einen Verstoß gegen Art. 76 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und Regel 37 der Durchführungsverordnung.

41.

Auch wenn dieser Vorwurf neu ist, da er zum ersten Mal vor dem Gerichtshof erhoben wurde, ist er meines Erachtens zulässig, da er sich aus den Gründen des angefochtenen Urteils ergibt und naturgemäß nicht früher geltend gemacht werden konnte.

42.

Dagegen könnten Zweifel an seiner Erheblichkeit bestehen.

43.

Die beiden Vorschriften, auf die sich die Rüge stützt, beziehen sich ausschließlich auf den Ablauf des Verfahrens vor dem HABM. Die erste präzisiert die Rolle des HABM hinsichtlich der von ihm vorzunehmenden Prüfung des Sachverhalts, während die zweite die Angaben aufzählt, die der beim HABM eingereichte Antrag auf Erklärung des Verfalls oder der Nichtigkeit einer Gemeinschaftsmarke enthalten muss.

44.

Weder die eine noch die andere dieser Vorschriften betrifft also das gerichtliche Verfahren, und sie gelten nicht für das Gericht.

45.

Das HABM macht dagegen keinen Verstoß gegen Art. 21 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union oder gegen Art. 44 Abs. 1, Art. 48 Abs. 2 oder Art. 135 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Gerichts geltend.

46.

Da die Vorschriften, deren Verletzung geltend gemacht wird, nicht unmittelbar auf das gerichtliche Verfahren vor dem Gericht anwendbar sind, das über die Klage gegen die Entscheidungen der Beschwerdekammer entscheidet, und als solche nicht zu der Pflicht dieses Gerichts führen, ausschließlich die Angaben betreffend das nationale Recht zu berücksichtigen, die derjenige, der den Antrag auf Nichtigerklärung gestellt hat, dem HABM vorgelegt hat, könnte der Rechtsmittelgrund, der dem Gericht die Verletzung dieser Vorschriften zum Vorwurf macht, als ins Leere gehend angesehen werden.

47.

Jedoch müssen die Grundsätze, die sich aus den genannten Vorschriften ergeben, logischerweise auch auf das Verfahren vor dem Gericht anwendbar sein, soweit der Streitgegenstand vor der Beschwerdekammer und vor dem Gericht identisch ist ( 17 ).

48.

Daher ist die Begründetheit des Rechtsmittelgrundes noch weiter zu untersuchen.

b) Die Stellung des nationalen Rechts im Rahmen einer Streitigkeit über die Gemeinschaftsmarke und das Amt des Unionsrichters und der Instanzen des HABM

i) Hinweis auf die Rechtsprechung des Gerichts

49.

Das Ergebnis, zu dem das angefochtene Urteil in Bezug auf die Stellung des nationalen Rechts und die Rolle des HABM kam, entspricht ganz der Rechtsprechung des Gerichts.

50.

In der Regel schreibt das Gericht dem nationalen Recht den Charakter einer Tatsache zu, für die der Widersprechende oder derjenige, der die Nichtigerklärung beantragt, den Beweis zu erbringen hat. Es relativiert diesen Grundsatz jedoch erheblich dadurch, dass es dem HABM die Pflicht auferlegt, sich von Amts wegen über das nationale Recht zu informieren, wenn dieses eine offenkundige Tatsache ist. So wird in mehreren Urteilen ausgeführt, dass sich das HABM von Amts wegen mit den ihm hierzu zweckdienlich erscheinenden Mitteln über das nationale Recht des betreffenden Mitgliedstaats informieren muss, soweit entsprechende Kenntnisse für die Beurteilung der Tatbestandsvoraussetzungen eines Eintragungshindernisses oder eines Nichtigkeitsgrundes und vor allem für die Würdigung der vorgetragenen Tatsachen oder der Beweiskraft der vorgelegten Unterlagen erforderlich sind ( 18 ). Nach Ansicht des Gerichts schließt die Beschränkung der tatsächlichen Grundlage der Prüfung durch das HABM nicht aus, dass dieses neben den von den Beteiligten des Widerspruchsverfahrens oder des Nichtigkeitsverfahrens ausdrücklich vorgetragenen Tatsachen offenkundige Tatsachen berücksichtigt, d. h. Tatsachen, die jeder kennen kann oder die allgemein zugänglichen Quellen entnommen werden können ( 19 ).

51.

Diese Ausnahme ist ihrerseits beschränkt, denn das Gericht hat die Pflicht, sich von Amts wegen über das nationale Recht zu informieren, deutlich auf den Fall begrenzt, „wenn es bereits über Angaben zum nationalen Recht verfügt, sei es in Form eines Vorbringens zu dessen Inhalt oder in Form von Unterlagen, die in die Erörterung eingebracht worden sind und deren Beweiskraft geltend gemacht wurde“ ( 20 ).

52.

Nach Ansicht des Gerichts „[gehören] die Feststellung und die Auslegung der Vorschriften des nationalen Rechts für die Einrichtungen der Union, soweit sie für ihre Tätigkeit unerlässlich sind, grundsätzlich zur Feststellung des Sachverhalts und nicht zur Rechtsanwendung[, die] nämlich nur die Anwendung des Unionsrechts [betrifft]“ ( 21 ).

53.

Das Gericht hat darüber hinaus ausgeführt, dass es der Partei, die sich auf ein älteres Recht beruft, obliegt, „vor dem HABM nicht nur zu beweisen, dass sich dieses Recht aus den nationalen Rechtsvorschriften ergibt, sondern auch die Tragweite dieser Rechtsvorschriften selbst“ ( 22 ).

54.

Jedoch ist die Rechtsprechung des Gerichts nicht völlig eindeutig, da manche Urteile das nationale Recht nicht unter dem Blickwinkel der Beurteilung oder Auslegung von Sachverhalten, sondern der Auslegung einer Rechtsnorm zu verstehen scheinen.

55.

So prüft das Gericht für die Bestimmung des Inhalts des nationalen Rechts, wie für jede beliebige Rechtsnorm, nicht nur den Wortlaut der anwendbaren Vorschriften, sondern auch die gerichtliche Auslegung und den Standpunkt der Lehre ( 23 ). In seinem Urteil vom 14. September 2011, Olive Line International/HABM – Knopf (O-live) ( 24 ), war das Gericht „[a]ngesichts der großen Ähnlichkeit zwischen den beiden Normen“ ( 25 ), die aus einem Artikel des spanischen Markengesetzes und einem Artikel der Verordnung Nr. 40/94 bestanden, der Ansicht, dass Ersterer „im Licht der Gemeinschaftsrechtsprechung auszulegen [ist]“ ( 26 ).

56.

Trotz dieses charakteristischen Ausdrucks der Schwierigkeit, das nationale Recht als einfaches Tatsachenelement zu betrachten, halte ich dennoch fest, dass das Gericht dem HABM die Pflicht auferlegt, sich von Amts wegen über das nationale Recht zu informieren, wenn dieses den Charakter einer offenkundigen Tatsache hat und sich außerdem für verpflichtet hält, „zu überprüfen … ob die Beschwerdekammer einer korrekten Auslegung des maßgeblichen [nationalen] Rechts gefolgt ist“ ( 27 ).

57.

Es ist noch zu ermitteln, ob die eine und die andere dieser Pflichten gerechtfertigt sind und ob ein notwendiger und logischer Zusammenhang zwischen den beiden in dem Sinne besteht, dass die Pflicht, eine korrekte Auslegung des maßgeblichen nationalen Rechts vorzunehmen, diejenige, sich von Amts wegen über dieses Recht zu informieren, mit sich bringt.

58.

Um auf diese Fragen antworten zu können, ist es notwendig, auf den anwendbaren Wortlaut sowie auf die Tragweite des Urteils Edwin/HABM zurückzukommen.

ii) Wortlaut

59.

Zur Stützung seines ersten Rechtsmittelgrundes leitet das HABM aus den anwendbaren Vorschriften den Status einer einfachen Tatsache ab, der dem nationalen Recht zukomme, mit der Folge, dass die Beweislast bei der Partei liegt, die sich darauf beruft, und dem entsprechenden Verbot für das Gericht, aus eigener Initiative Vorschriften des nationalen Rechts zu berücksichtigen, die von den Parteien nicht geltend gemacht wurden.

60.

Diese Prämisse beruht auf einem Verständnis der Vorschriften, das anfechtbar ist.

61.

Abgesehen davon, dass aus Regel 37 der Durchführungsverordnung nicht abgeleitet werden kann, dass das nationale Recht eine simple Tatsache ist, die von den Parteien zu beweisen ist, verleiht Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 dem nationalen Recht in der Unionsrechtsordnung zweifellos ein gewisses Maß an „rechtlichem Gehalt“.

– Die Verfahrenssituation des nationalen Rechts nach Regel 37 der Durchführungsverordnung

62.

Man kann Zweifel daran haben, dass aus Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung abgeleitet werden kann, dass das nationale Recht eine Tatsache ist, über die sich das HABM von Amts wegen nicht informieren darf.

63.

Die wörtliche Interpretation dieser Vorschrift führt nicht zu diesem Ergebnis.

64.

Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung, der dem Inhaber des älteren Rechts, der die Erklärung der Nichtigkeit der späteren Gemeinschaftsmarke beantragt, die Darlegungs- und Beweislast für die Merkmale auferlegt, die sein älteres Recht nach den anwendbaren nationalen Vorschriften begründen, legt die für das nationale Recht geltende rechtliche Regelung nicht insgesamt fest, da sie die verfahrensmäßige Behandlung von Tatsachenfragen nur insoweit diesem Recht unterstellen will, als die Rolle desjenigen, der die Nichtigerklärung beantragt hat, bestimmt wird. Dessen Pflicht, Beweise vorzulegen, würde nicht inhaltslos, wenn dem Unionsrichter die Freiheit eingeräumt würde, sich über diese Beweise hinaus zu informieren, um zu einem Ergebnis gelangen zu können, das seines Erachtens dem des nationalen Rechts entspricht. Diese Pflicht wäre jedenfalls weiterhin mit der Unzulässigkeit des Antrags gemäß Regel 39 Abs. 3 der Durchführungsverordnung sanktioniert.

65.

Ganz allgemein ist im Übrigen zu bemerken, dass zwar zweifellos ein Zusammenhang zwischen der Beweislast im nationalen Recht und der Befugnis des Unionsrichters, deren Inhalt von Amts wegen zu ermitteln, besteht, der Umstand jedoch, dass die Beweislast des nationalen Rechts der Person auferlegt wird, die sich darauf beruft, nicht zwangsläufig jede Befugnis des Gerichts, den Inhalt, den Sinn oder die Tragweite dieses Rechts zu überprüfen, ausschließt.

66.

Die systematische Auslegung der Regel 37 Buchst. b Ziff. iii der Durchführungsverordnung zeigt im Übrigen dass der Unionsgesetzgeber das Nichtigkeits- oder Widerspruchsverfahren nicht als reines Anklageverfahren ausgestalten wollte, bei dem der Richter zum einfachen Schiedsrichter wird und das Verfahren vollkommen von den Parteien beherrscht wird. Ganz im Gegenteil sind die Untersuchungsbefugnisse, die sowohl dem HABM als auch dem Gericht eingeräumt wurden, Ausdruck eines Konzepts, bei dem die jeweilige Rolle der verschiedenen Beteiligten in allen Verfahren, einschließlich derjenigen inter partes, ausgewogener sind. So enthalten Art. 78 Abs. 1 der Verordnung Nr. 207/2009 und Regel 57 Abs. 1 der Durchführungsverordnung eine nicht erschöpfende Liste mit Beweismitteln, die vom HABM angeordnet werden können ( 28 ). Die den zuständigen Instanzen des HABM hierdurch eingeräumte Möglichkeit, die Erhebung von Beweisen anzuordnen, zeigt, dass bei der Beweisaufnahme in einer markenrechtlichen Streitsache kein Grundsatz der Neutralität oder der Passivität vorherrscht. So kann, wie das Gericht anerkannt hat, das HABM insbesondere die Beteiligten auffordern, ihm Auskünfte über den Inhalt des nationalen Rechts zu erteilen ( 29 ).

67.

Schließlich legt die Behauptung, nach der in Regel 37 der Durchführungsverordnung der Grundsatz zum Ausdruck komme, dass das nationale Recht eine einfache Tatsachenfrage sei, eine Vorschrift, die sich darauf beschränkt, den Antragsteller zu verpflichten, das nationale Recht, dessen Schutz er geltend macht, darzulegen und zu beweisen, ohne irgendeine Initiativbefugnis des HABM auszuschließen, über ihre ursprüngliche Tragweite hinaus falsch aus.

– Die Berücksichtigung des nationalen Rechts nach Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009

68.

Es gibt eine Vielzahl von Vorschriften des Unionsrechts, die auf das nationale Recht verweisen und verschiedene Aufgaben damit verbinden. Zu diesen vielfältigen Anknüpfungssachverhalten kommen mehrere Rechtsschutzmöglichkeiten hinzu, in deren Rahmen die Unionsgerichte ersucht werden können, nationales Recht zu berücksichtigen.

69.

Die Versuche einer Bestandsaufnahme der verschiedenen Funktionen des nationalen Rechts in der Unionsrechtsordnung ( 30 ) zeigen die Schwierigkeit, die Verweise in der Verordnung Nr. 207/2009 im Fall eines Widerspruchs gegen die Eintragung einer Gemeinschaftsmarke oder eines Nichtigkeitsantrags in eine klar bestimmte rechtliche Kategorie einzuordnen. Für die einen handelt es sich um eine einfache „Berücksichtigung des nationalen Rechts“ ( 31 ), während für die anderen, die die Situation des Unionsrichters, der in einer Streitigkeit über eine Gemeinschaftsmarke entscheidet, derjenigen gleichstellen, in der er aufgrund einer Schiedsklausel entscheidet, diese Verweise das Gericht berechtigen, Rechtsvorschriften des internen Rechts eines Mitgliedstaats „unmittelbar anzuwenden und auszulegen“ ( 32 ).

70.

Es steht auf jeden Fall fest, dass Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 zwar dem nationalen Recht nicht den Charakter des Unionsrechts verleiht, aber die Organe der Union verpflichtet, im Fall eines Antrags auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke, der auf ein älteres, durch eine Rechtsnorm des nationalen Rechts geschütztes Recht gestützt ist, eine Bestimmung und Auslegung dieser Rechtsregel vorzunehmen.

71.

In einer Situation wie der in Rede stehenden obliegt es dem HABM, zu prüfen, ob im Rahmen des Nichtigkeitsverfahrens die Tatbestandsvoraussetzungen für die Anwendung des geltend gemachten Nichtigkeitsgrundes erfüllt sind. Wenn dieser Grund vom Bestehen eines älteren, durch das nationale Recht geschützten Rechts herrührt, können sich die Organe der Union meines Erachtens nicht auf eine Kontrolle des Werts und der Tragweite der vorgelegten Beweise beschränken. Es kann ebenso notwendig werden, dieses Recht auszulegen und anzuwenden, wie der vorliegende Fall anschaulich macht. Da die Beweiskraft der Vereinbarung von 1986, die in Kopie von Mediatek Italia vorgelegt worden war, bestritten wurde, waren das HABM, die Beschwerdekammer und das Gericht mit der Notwendigkeit konfrontiert, die geltend gemachten Beweisregeln auszulegen und anzuwenden. Die Prüfung, ob das geltend gemachte ältere Recht besteht und nachgewiesen ist, ist eine Vorfrage, die geklärt werden muss, bevor die Unionsrechtsnorm angewandt werden kann, mit der die Gemeinschaftsmarke für nichtig erklärt wird. Selbst wenn sich somit das geflügelte Wort iura novit curia nicht auf das nationale Recht erstreckt, das das Unionsgericht nicht kennen muss, und wenn der Inhalt dieses Rechts verfahrensmäßig als Tatsache verstanden wird, die von den Parteien vorgetragen und bewiesen werden muss, so nimmt dieses Recht aus Sicht der Person, die es anwenden muss, in der intellektuellen Argumentation, die zur Beilegung des Rechtsstreits führt, dieselbe Stellung ein wie jede Rechtsnorm, unabhängig von ihrem Ursprung.

72.

Aus diesen Gründen bin ich der Ansicht, dass Art. 53 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 dem nationalen Recht Zugang zu einem gewissen Maß an Rechtlichkeit in der Rechtsordnung der Union gewährt, der es verbietet, es ausschließlich als eine bloße Tatsachenfrage zu betrachten.

73.

Dieses Ergebnis wird untermauert durch die Lehre, die aus dem Urteil Edwin/HABM gezogen werden kann.

iii) Die Tragweite des Urteils Edwin/HABM

74.

Das Urteil Edwin/HABM enthält wichtige Antworten zur Verteilung der Rollen zwischen dem Antragsteller, den zuständigen Instanzen des HABM, dem Gericht und dem Gerichtshof.

75.

Erstens schließt der Gerichtshof aus Regel 37 der Durchführungsverordnung die Pflicht der Partei, die die Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke wegen eines älteren Rechts, das durch eine nationale Rechtsnorm geschützt wird, beantragt, dem HABM Beweise für den Inhalt dieser Norm vorzulegen.

76.

Zweitens ist es nach Ansicht des Gerichtshofs Sache der zuständigen Stellen des HABM, „die Aussagekraft und die Tragweite der vom Antragsteller vorgebrachten Angaben, mit denen der Inhalt der nationalen Rechtsvorschrift dargetan werden soll, zu beurteilen ( 33 ).

77.

Drittens stellt er fest, dass das Gericht dafür zuständig ist, „die vom HABM vorgenommene Beurteilung der vom Antragsteller gemachten Angaben, mit denen der Inhalt der nationalen Rechtsvorschriften, deren Schutz er geltend macht, dargetan werden soll, einer vollen Rechtmäßigkeitsprüfung zu unterziehen“ ( 34 ).

78.

Viertens bestimmt der Gerichtshof den Umfang seiner eigenen Kontrolle, indem er sie in drei Abschnitte aufteilt, die den Wortlaut, den Inhalt und die Tragweite des positiven Rechts betreffen. Der „Wortlaut der in Frage stehenden nationalen Vorschriften oder der sich auf sie beziehenden nationalen Rechtsprechung oder auch der sie betreffenden Stellungnahmen der juristischen Literatur“ ( 35 ) wird einer Verfälschungskontrolle unterzogen, während der Inhalt dieser Angaben und die Tragweite jeder dieser Angaben im Verhältnis zu den anderen daraufhin kontrolliert werden, ob ein offensichtlicher Fehler vorliegt.

79.

Meine Auslegung dieses Urteils weicht erheblich von derjenigen ab, die das HABM vornimmt. Entgegen dem Vorbringen des HABM, nach dem sich aus diesem Urteil ergebe, dass das nationale Recht eine Tatsache sei, glaube ich nicht, dass der Gerichtshof sich eher für die Tatsachenseite als für die Rechtsseite aussprechen wollte.

80.

Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof hinsichtlich der Qualifizierung der „Angaben“, die vom Antragsteller dargelegt werden müssen, um den Inhalt des nationalen Rechts festzustellen, keine Partei ergriffen hat. Er hat sie nicht nur nicht als „Tatsachenelemente“ eingestuft, sondern er hat mit der dem Gericht auferlegten Verpflichtung, „die Aussagekraft und die Tragweite der vom Antragsteller vorgebrachten Angaben zu beurteilen“, darüber hinaus ‐ um den Umfang der Kontrolle zu präzisieren, die die zuständigen Stellen des HABM hinsichtlich der vorgelegten Angaben durchführen müssen ‐ einen neuen Ausdruck verwendet, der von dem üblicherweise zur Bezeichnung der Kontrolle der Tatsachenelemente verwendeten Ausdruck abweicht.

81.

Weiter hat der Gerichtshof die „volle Rechtmäßigkeitsprüfung“, die das Gericht vorzunehmen hat, auf den Wortlaut von Art. 63 Abs. 2 der Verordnung Nr. 40/94, jetzt Art. 65 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009, gestützt, wonach die Klage gegen Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM zulässig ist „wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des EG-Vertrags, dieser Verordnung oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder wegen Ermessensmissbrauchs“ ( 36 ). Der Gerichtshof hat sich ausdrücklich auf die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott bezogen, die die Ansicht vertrat, dass der Ausdruck „einer bei … Durchführung [der Verordnung Nr. 207/2009] anzuwendenden Rechtsnorm“ weit genug sei, um nicht nur das Unionsrecht, sondern auch das nationale Recht, das bei der Durchführung dieser Verordnung zur Anwendung berufen ist, abzudecken ( 37 ).

82.

Der Gerichtshof hätte aber diese Kontrolle rechtfertigen können, indem er sich auf die Befugnis des Gerichts stützt, Fehler bei der Tatsachenbeurteilung zu sanktionieren. Er hat nämlich wiederholt entschieden, dass das Gericht bei der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Beschwerdekammern des HABM der Frage nachgehen kann, ob die Beschwerdekammern die im Rechtsstreit fraglichen Tatsachen rechtlich richtig eingeordnet haben oder ob „die Beurteilung des den Beschwerdekammern unterbreiteten Sachverhalts nicht Fehler aufweist“ ( 38 ).

83.

Wenn der Gerichtshof das nationale Recht als einfache Tatsache angesehen hätte, wäre er logischerweise veranlasst gewesen, die Kontrolle des Gerichts durch seine Befugnis, die bei der Sachverhaltsbeurteilung begangenen Fehler zu sanktionieren, zu rechtfertigen.

84.

Schließlich ist festzustellen, dass der Gerichtshof seine Kontrolle im Rahmen eines Rechtsmittels über die Verfälschung der dem Gericht unterbreiteten Angaben hinaus ausgedehnt hat, indem er das Bestehen einer Kontrolle des offensichtlichen Beurteilungsfehlers anerkannt hat ( 39 ). Es ist zwar nicht einfach, zu bestimmen, wie weit die gerichtliche Prüfung der Rechtmäßigkeit im Rahmen dieser Kontrolle gehen kann, doch darf man annehmen, dass sich die Kontrolle der Verfälschung und diejenige des offensichtlichen Beurteilungsfehlers wahrscheinlich nicht nur in ihrer Intensität, sondern auch in ihrem Objekt unterscheiden, da die erste den eigentlichen Inhalt des nationalen Rechts betrifft, während die zweite in Bezug auf die Auslegung und Beurteilung dieses Rechts erfolgt.

85.

Letztendlich folgen aus dem Wortlaut und dem Geist der anwendbaren Rechtsvorschriften sowie aus deren Auslegung durch den Gerichtshof zwei Hauptlehren, die eine in Bezug auf die Stellung des nationalen Rechts und die andere in Bezug auf das Amt des Unionsrichters.

86.

Erstens kann das nationale Recht, auch wenn es von demjenigen, der den Antrag auf Nichtigerklärung stellt, vorgetragen und bewiesen werden muss, nicht als einfache Tatsache angesehen werden. Der Verweis auf das nationale Recht in der Verordnung Nr. 207/2009 verleiht diesem Recht einen rechtlichen Gehalt, der in gewisser Weise zur Seite der Rechtmäßigkeit der Union gehört, da es einer vollständigen Rechtmäßigkeitskontrolle durch das Gericht unterliegt.

87.

Zweitens ist die Aufgabe der zuständigen Stellen des HABM und des Unionsrichters, die mit der Anwendung des nationalen Rechts konfrontiert sind, nicht von einem Neutralitätsgrundsatz beherrscht, der sie auf eine rein passive Rolle beschränken würde, mit dem Verbot jeder Prüfungsbefugnis hinsichtlich des Inhalts des behaupteten Rechts.

88.

Im Licht dieser beiden Lehren ist zu beurteilen, ob das Gericht das anwendbare nationale Recht von Amts wegen prüfen muss.

iv) Die Prüfung des anwendbaren nationalen Rechts von Amts wegen

89.

Meines Erachtens setzt die Ausübung der vollständigen Rechtmäßigkeitsprüfung, die dem Gericht obliegt, voraus, dass es in dem Rechtsstreit eine Entscheidung treffen kann, die dem nationalen positiven Recht entspricht, und dass es sich, erforderlichenfalls von Amts wegen, mit dem Inhalt, den Tatbestandsvoraussetzungen und der Tragweite der nationalen Rechtsnormen, die von den Beteiligten zur Stützung ihres Vorbringens geltend gemacht werden, befassen kann.

90.

Drei Argumente sprechen für dieses Ergebnis.

91.

Das erste betrifft die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 207/2009. Meines Erachtens würde das von dieser Verordnung verfolgte Ziel des Schutzes der Gemeinschaftsmarke in Frage gestellt, wenn die Nichtigkeit einer Marke auf der Grundlage eines älteren Rechts, das von nationalen Rechtsvorschriften geschützt wird, festgestellt werden könnte, ohne dass die zuständigen Stellen des HABM oder das Gericht herauszufinden versuchen könnten, welches Ergebnis nach dem nationalen positiven Recht für die Frage, mit der sie befasst sind, in Betracht kommt. Es ist unbestreitbar, dass eine fehlerhafte Beurteilung dieses Rechts dazu führen könnte, dass ein älteres Recht zu Unrecht anerkannt und einem Antrag auf Nichtigerklärung stattgegeben wird.

92.

Das zweite Argument betrifft die Anforderungen des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes. Die Befugnis, von Amts wegen zu prüfen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen der geltend gemachten nationalen Rechtsnorm erfüllt sind, folgt meines Erachtens auch aus dem Erfordernis, dass jede Entscheidung der zuständigen Stellen des HABM, die bewirkt, dass dem Inhaber der Marke sein Recht entzogen wird, einer gerichtlichen Kontrolle unterworfen werden kann, die den effektiven Schutz dieses Rechts gewährleisten soll. Die gerichtliche Kontrolle würde ihre Substanz verlieren, wenn der Unionsrichter sich mit den Unterlagen begnügen müsste, die vom Antragsteller beigebracht wurden, mit der Gefahr einer falschen Anwendung oder einer fehlerhaften Auslegung der anwendbaren Normen.

93.

Das dritte Argument betrifft die Rolle der zuständigen Stellen des HABM in einer Streitigkeit über eine Gemeinschaftsmarke. Diese Stellen sind keineswegs auf eine ausschließlich administrative Rolle beschränkt, sondern üben eine gerichtsähnliche Funktion aus, die derjenigen der nationalen Gerichte bei einer Entscheidung über eine Widerklage im Verletzungsverfahren entspricht. Im Übrigen verleiht Art. 100 Abs. 2 der Verordnung Nr. 207/2009 ihrer Entscheidung Rechtskraft. Somit ist es meines Erachtens nicht logisch, dass der Umfang der Kontrolle, die hinsichtlich der Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts durchgeführt wird, erhebliche Unterschiede aufweist, je nachdem ob der Antrag auf Nichtigerklärung auf dem Hauptweg vor dem HABM oder im Wege der Widerklage vor dem nationalen Gericht gestellt wird.

94.

Es ist zu betonen, dass die Befugnis, sich von Amts wegen über das maßgebliche nationale Recht zu informieren, keineswegs dazu dient, eine eventuelle Untätigkeit des Antragstellers bei der ihm obliegenden Beweisführung hinsichtlich des Inhalts des nationalen Rechts auszugleichen. Es geht vielmehr darum, dem Unionsrichter zu ermöglichen, die Erheblichkeit des behaupteten und als Beweis geltend gemachten nationalen Rechts zu prüfen. Eine gewissenhafte Prüfung zu verbieten, würde letztlich bedeuten, die zuständigen Stellen des HABM in einfache Kammern zur Erfassung des vom Antragsteller vorgetragenen nationalen Rechts umzuwandeln.

95.

Somit hat das Gericht meines Erachtens dadurch, dass es sich von Amts wegen über den Inhalt des einschlägigen italienischen Rechts informiert hat, zu Recht geprüft, ob die Beschwerdekammer eine korrekte Auslegung dieses Rechts vorgenommen hat.

96.

Ich bin aber der Ansicht, dass die Rechtfertigung dieser Prüfpflicht nicht im Begriff der offenkundigen Tatsache zu finden ist.

97.

Zum einen kann dem nationalen Recht nicht der Charakter eines Tatsachenelements zugewiesen werden.

98.

Zum anderen und vor allem führt die Anwendung des Begriffs der offenkundigen Tatsache zu einer starken Rechtsunsicherheit und zu Willkür. Insoweit habe ich erhebliche Zweifel daran, dass die komplexen Grundsätze, die den Beweis privatschriftlicher Urkunden im italienischen Recht regeln, jedermann zugänglich sind und tatsächlich als „offenkundige Tatsachen“ angesehen werden können.

99.

Wie ich zuvor bereits ausgeführt habe, stütze ich die Pflicht zur Prüfung von Amts wegen auf die Notwendigkeit, die praktische Wirksamkeit der Verordnung Nr. 207/2009 zu bewahren, und auf die Erfordernisse eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes.

100.

Es ist noch zu ergänzen, dass diese Pflicht begrenzt bleiben muss. Wie das Gericht entschieden hat ( 40 ), gilt sie nur dann, wenn das HABM bereits über Angaben zum nationalen Recht verfügt. Außerdem erlaubt sie nicht, den Streitgegenstand zu ändern, indem neue Tatschen eingefügt werden, sondern nur, den Inhalt, die Tatbestandsvoraussetzungen und die Tragweite der geltend gemachten nationalen Rechtsnormen zu prüfen.

101.

Diese Ergänzung kann zumindest teilweise eine Antwort auf den vom HABM erhobenen Einwand praktischer Art geben, der sich auf die praktische Unmöglichkeit bezieht, das anwendbare Recht zu kennen. Es geht für die zuständigen Stellen des HABM nicht darum, sich bei der Beweisführung an die Stelle der Parteien zu setzen. Ihre Pflicht, sich zu informieren, hat einen begrenzteren Umfang, da sie nur darauf gerichtet ist, die Richtigkeit der Angaben, die der Antragsteller zum Inhalt des nationalen Rechts und zum Umfang des Schutzes, den es verleiht, vorgelegt hat, zu prüfen.

102.

Ohne die Schwierigkeiten, denen das HABM bei der Suche nach dem Inhalt des nationalen Rechts gegenüberstehen kann, zu verkennen, ermöglicht die Entwicklung der Informationsmittel es diesem Organ der Union, das – wie bereits festgestellt ‐ über Ermittlungsmöglichkeiten verfügt, meines Erachtens zudem, zu überprüfen, ob sich das Vorbringen des Antragstellers zu dem vom nationalen Recht verliehenen Schutz erhärten lässt.

103.

Nach alledem ist der erste vom HABM geltend gemachte Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.

B – Zum zweiten Rechtsmittelgrund: Verletzung des Rechts des HABM, gehört zu werden

1. Vorbringen der Parteien

104.

Dem HABM zufolge müssen nach einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts die Adressaten amtlicher Entscheidungen, die ihre Interessen spürbar berühren, Gelegenheit erhalten, ihren Standpunkt gebührend darzulegen ( 41 ).

105.

Es trägt vor, dass es im vorliegenden Fall keine Möglichkeit gehabt habe, seinen Standpunkt zum Urteil vom 14. Juni 2007, das von den Parteien im Verwaltungsverfahren nicht angeführt worden und folglich nicht Teil des Streitgegenstands vor der Beschwerdekammer gewesen sei, gebührend darzulegen, und dass, wenn es diese Möglichkeit gehabt hätte, die Argumentation und das Ergebnis des Gerichts anders gelautet hätten.

106.

Das HABM zieht daraus den Schluss, dass das Gericht sein Recht, gehört zu werden, verletzt habe.

107.

NLC antwortet, dass die Rechtsfrage, für die das Urteil des Corte suprema di cassazione maßgeblich gewesen sei, vor der mündlichen Verhandlung aufgeworfen worden sei, denn das Gericht habe gemäß Art. 64 seiner Verfahrensordnung das HABM mit Schreiben vom 7. Februar 2012 aufgefordert, auf Fragen betreffend die Tragweite von Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs zu antworten. Das HABM habe somit die Möglichkeit gehabt, sowohl schriftlich als auch in der mündlichen Verhandlung zu dieser Frage gehört zu werden, und es könne nicht argumentiert werden, dass ‐ sofern nicht bereits zuvor ein Hinweis auf jede einschlägige oder potenziell einschlägige Rechtsprechung erfolgt sei ‐ ein Urteil, das auf diese Bezug nehme, die Verteidigungsrechte verletze.

108.

Angenommen, das Gericht habe einen Rechtsfehler begangen, indem es dem HABM nicht die Möglichkeit gegeben habe, zu der Rechtsprechung Stellung zu nehmen, habe dieser Rechtsfehler auf jeden Fall keine Auswirkung auf den Ausgang der Entscheidung gehabt.

2. Würdigung

109.

Zwar muss sich das Gericht, wie ich ausgeführt habe, innerhalb bestimmter Grenzen von Amts wegen über das nationale Recht informieren, doch ist es meines Erachtens fundamental, bei dieser Gelegenheit erneut die Bedeutung zu bekräftigen, die der Gerichtshof dem Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens beigemessen hat, das ein grundlegendes Erfordernis jedes fairen Prozesses ist.

110.

Das Recht auf ein faires Verfahren stellt einen fundamentalen Grundsatz des Unionsrechts dar, der in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 6 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ( 42 ) verankert ist, die einen „sich entsprechenden Schutz“ gewähren ( 43 ).

111.

Um die mit diesem Recht verbundenen Anforderungen zu erfüllen, müssen die Unionsgerichte dafür Sorge tragen, dass der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens vor ihnen und von ihnen selbst beachtet wird ( 44 ); er gilt für jedes Verfahren, das zu einer Entscheidung eines Gemeinschaftsorgans führen kann, durch die die Interessen eines Dritten spürbar beeinträchtigt werden ( 45 ).

112.

Der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verleiht nicht nur jedem Verfahrensbeteiligten das Recht, die Schriftstücke und Erklärungen, die sein Gegner dem Gericht vorgelegt hat, zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern. Es umfasst auch das Recht der Verfahrensbeteiligten, die Gesichtspunkte zur Kenntnis zu nehmen und zu erörtern, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt und auf die es seine Entscheidung gründen möchte ( 46 ).

113.

Die Rechtsprechung hat das Bestehen dieses Rechts klar anerkannt, nicht nur wenn der Unionsrichter seine Entscheidung auf Tatsachen und Schriftstücke gründet, von denen die Parteien keine Kenntnis nehmen konnten ( 47 ), sondern auch wenn er sie auf Gesichtspunkte gründet, die von Amts wegen berücksichtigt wurden ( 48 ).

114.

Der Anwendungsbereich des Rechts, gehört zu werden, erstreckt sich nämlich auf alle Umstände, die für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sind und die Grundlage der Entscheidung darstellen, unabhängig davon, ob sie tatsächlicher oder rechtlicher Natur sind, und nur der endgültige Standpunkt, den die Verwaltung einnehmen möchte, oder die Entscheidung selbst wird nicht davon erfasst.

115.

Folglich ist zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Beteiligten im Verlauf des Verfahrens die Möglichkeit hatten, zu den Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, die vom Gericht von Amts wegen berücksichtigt wurden.

116.

Insoweit konnten die Beteiligten zwar, wie sich aus den Schreiben des Gerichts vom 7. Februar 2012 und den diesem beigefügten Fragen ergibt, ihren Standpunkt zu Art. 2704 des italienischen Zivilgesetzbuchs geltend machen, sie hatten jedoch keine Gelegenheit, zum Urteil vom 14. Juni 2007 Stellung zu nehmen.

117.

Den Randnrn. 32, 35, 36, 39 und 40 des angefochtenen Urteils ist klar zu entnehmen, dass der Inhalt des Urteils vom 14. Juni 2007 in der Argumentation des Gerichts entscheidend war und dass das Ergebnis anders gelautet hätte, wenn es diesen nicht berücksichtigt hätte. Weil es festgestellt hat, dass die Beschwerdekammer dieses Urteil nicht berücksichtigt hat, nach dem der Gegenbeweis der Echtheit des Datums des Poststempels erbracht werden kann, ohne dass ein Verfahren zur Anfechtung der Echtheit durchgeführt werden musste, war das Gericht der Ansicht, dass die Beschwerdekammer den von NLC behaupteten Anomalien mehr Bedeutung hätte beimessen können und dass folglich die streitige Entscheidung aufzuheben war.

118.

Nach alledem hat das Gericht den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens verletzt, der sich aus den Anforderungen im Zusammenhang mit einem fairen Verfahren ergibt.

119.

Dem zweiten Rechtsmittelgrund ist deshalb stattzugeben.

120.

Unter diesen Umständen meine ich, dass auf den dritten Rechtsmittelgrund, der sich auf die offensichtliche Inkohärenz und die Verfälschung von Tatsachen bezieht, nicht eingegangen zu werden braucht.

V – Zur Zurückverweisung der Rechtssache an das Gericht

121.

Nach Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs hebt dieser die Entscheidung des Gerichts auf, wenn das Rechtsmittel begründet ist. In diesem Fall kann er den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen.

122.

Im vorliegenden Fall ist der Rechtsstreit meines Erachtens nicht zur Entscheidung reif, weil die Parteien die Möglichkeit erhalten müssen, sich kontradiktorisch zu den Gesichtspunkten des nationalen Rechts, die das Gericht von Amts wegen berücksichtigt hat, zu äußern.

123.

Aufgrund dieser Erwägungen schlage ich vor, die vorliegende Rechtssache an das Gericht zur Entscheidung in der Sache zurückzuverweisen.

VI – Ergebnis

124.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.

Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom 13. September 2012, National Lottery Commission/HABM – Mediatek Italia und De Gregorio (Darstellung einer Hand) (T‑404/10) wird aufgehoben.

2.

Die Rechtssache wird an das Gericht der Europäischen Union zur Entscheidung über die Begründetheit der Klage zurückverwiesen.

3.

Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) T‑404/10, im Folgenden: angefochtenes Urteil.

( 3 ) Im Folgenden: NLC.

( 4 ) Sache R 1028/2009-1, im Folgenden: streitige Entscheidung.

( 5 ) Im Folgenden gemeinsam: Mediatek Italia.

( 6 ) ABl. 1994, L 11, S. 1.

( 7 ) ABl. L 78, S. 1.

( 8 ) ABl. L 303, S. 1.

( 9 ) ABl. L 172, S. 4, im Folgenden: Durchführungsverordnung.

( 10 ) Im Folgenden: streitige Marke.

( 11 ) Auch wenn das Verfahren unter der Geltung der Verordnung Nr. 40/94 eingeleitet wurde, wird in den vorliegenden Schlussanträgen ausschließlich auf die Verordnung Nr. 207/2009 Bezug genommen, die am Wortlaut der maßgeblichen Vorschriften keine Änderung vorgenommen hat.

( 12 ) Im Folgenden: mano portafortuna.

( 13 ) Im Folgenden: Vertrag von 1986.

( 14 ) C-263/09 P, Slg. 2011, I-5853.

( 15 ) Im Folgenden: Urteil vom 14. Juni 2007.

( 16 ) NLC bezieht sich auf das Urteil vom 30. September 2003, Biret und Cie/Rat (C-94/02 P, Slg. 2003, I-10565, Randnr. 63).

( 17 ) Vgl. in diesem Sinne Nr. 54 der Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache, in der das Urteil Edwin/HABM ergangen ist (oben in Fn. 14 angeführt).

( 18 ) Urteile des Gerichts vom 20. April 2005, Atomic Austria/HABM – Fabricas Agrupadas de Muñecas de Onil (ATOMIC BLITZ) (T-318/03, Slg. 2005, II-1319, Randnr. 35), vom 16. Dezember 2008, Budějovický Budvar/HABM – Anheuser-Busch (BUD) (T-225/06, T-255/06, T-257/06 und T-309/06, Slg. 2008, II-3555, Randnr. 96), vom 9. Dezember 2010, Tresplain Investments/HABM – Hoo Hing (Golden Elephant Brand) (T-303/08, Slg. 2010, II-5659, Randnr. 67), und vom 20. März 2013, El Corte Inglés/HABM – Chez Gerard (CLUB GOURMET) (T‑571/11, Randnr. 39).

( 19 ) Urteile Atomic Austria/HABM – Fabricas Agrupadas de Muñecas de Onil (ATOMIC BLITZ) (Randnr. 35), Budějovický Budvar/HABM – Anheuser-Busch (BUD) (Randnr. 96) und Tresplain Investments/HABM – Hoo Hing (Golden Elephant Brand) (Randnr. 67).

( 20 ) Urteil El Corte Inglés/HABM – Chez Gerard (CLUB GOURMET) (Randnr. 41).

( 21 ) Ebd. (Randnr. 35).

( 22 ) Urteil des Gerichts vom 7. Mai 2013, macros consult/HABM – MIP Metro (makro) (T‑579/10, Randnr. 62). Zwar betraf dieses Urteil einen Antrag auf Nichtigerklärung einer Gemeinschaftsmarke, der vom Inhaber eines älteren Rechts im Sinne von Art. 8 Abs. 4 der Verordnung Nr. 207/2009 eingereicht wurde, die Entscheidung, die darin getroffen wird, gilt meines Erachtens entsprechend, wenn ein nationales Recht auf der Grundlage von Art. 53 Abs. 2 dieser Verordnung geltend gemacht wird (vgl. für eine symmetrische Argumentation Randnr. 60 des genannten Urteils).

( 23 ) Vgl. u. a. Urteile des Gerichts vom 14. Mai 2009, Fiorucci/HABM – Edwin (ELIO FIORUCCI) (T-165/06, Slg. 2009, II-1375, Randnrn. 42 bis 61), und vom 14. April 2011, Lancôme/HABM – Focus Magazin Verlag (ACNO FOCUS) (T-466/08, Slg. 2011, II-1831, Randnrn. 33 bis 39).

( 24 ) T‑485/07.

( 25 ) Randnr. 57. Hervorhebung nur hier.

( 26 ) Ebd.

( 27 ) Randnr. 24 des angefochtenen Urteils.

( 28 ) Es handelt sich um die Vernehmung der Beteiligten, die Einholung von Auskünften, das Vorlegen von Urkunden und Beweisstücken, die Vernehmung von Zeugen, Begutachtung durch Sachverständige, schriftliche Erklärungen, die unter Eid oder an Eides statt abgegeben werden oder nach den Rechtsvorschriften des Staates, in dem sie abgegeben werden, eine ähnliche Wirkung haben, und die Augenscheinnahme.

( 29 ) Urteil Atomic Austria/HABM – Fabricas Agrupadas de Muñecas de Onil (ATOMIC BLITZ) (Randnr. 36).

( 30 ) Vgl. u. a. Rodríguez Iglesias, G. C., „Le droit interne devant le juge international et communautaire“, Du droit international au droit de l’intégration, Liber amicorum Pierre Pescatore, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 1987, S. 583; Chanteloup, H., „La prise en considération du droit national par le juge communautaire: contribution à la comparaison des méthodes et solutions du droit communautaire et du droit international privé“, Revue critique de droit international privé, 2007, S. 539; Nrn. 38 bis 48 der Schlussanträge von Generalanwalt Jääskinen in der Rechtssache, in der das Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (C-106/09 P und C-107/09 P, Slg. 2011, I-11113), ergangen ist, sowie Nrn. 66 bis 76 der Schlussanträge von Generalanwalt Mengozzi in der Rechtssache, in der das Urteil vom 9. Juni 2011, Evropaïki Dynamiki/EZB (C-401/09 P, Slg. 2011, I-4911), ergangen ist.

( 31 ) Vgl. in diesem Sinne Chanteloup, H., ebd., der darauf hinweist, dass der „Mechanismus der Berücksichtigung dazu führt … eine Norm in eine einfache rechtliche Angabe umzuwandeln, die ihrerseits in eine Sachverhaltsangabe umgewandelt wird, die geeignet ist, von der anzuwendenden Rechtsnorm erfasst zu werden“ (Randnr. 14). Diese Umwandlung des nationalen Rechts in eine Sachverhaltsangabe sei im Unionsrecht noch hervorstechender als im internationalen Privatrecht wegen des Grundsatzes der autonomen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, aufgrund deren der Unionsrichter es „meistens ablehnt, sich in den Schatten innerstaatlicher Qualifikationen zu stellen“ (ebd.).

( 32 ) Vgl. Nr. 42 der Schlussanträge von Generalanwalt Jääskinen in der Rechtssache, in der das Urteil Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich (oben in Fn. 30 angeführt) ergangen ist.

( 33 ) Randnr. 51.

( 34 ) Randnr. 52.

( 35 ) Randnr. 53.

( 36 ) Hervorhebung nur hier.

( 37 ) Vgl. Nrn. 61 bis 67 der genannten Schlussanträge.

( 38 ) Vgl. Urteil vom 18. Oktober 2012, Neuman u. a./José Manuel Baena (C‑101/11 P und C‑102/11 P, Randnr. 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 39 ) Vgl. Coutron, L., „De l’irruption du droit national dans le cadre du pourvoi“, Revue trimestrielle de droit européen, 2012, S. 170, der feststellt, dass „das wiederholte Erinnern an eine Prüfung eines offensichtlichen Fehlers eher dazu anregt, [das nationale Recht] als Rechtselement im Stadium des Rechtsmittels zu verstehen“.

( 40 ) Urteil El Corte Inglés/HABM – Chez Gerard (CLUB GOURMET) (oben in Fn. 18 angeführt, Randnr. 41).

( 41 ) Das HABM bezieht sich auf die Urteile des Gerichts vom 27. Februar 2002, Eurocool Logistik/HABM (EUROCOOL) (T-34/00, Slg. 2002, II-683, Randnr. 21), und vom 15. September 2005, Citicorp/HABM (LIVE RICHLY) (T-320/03, Slg. 2005, II-3411, Randnr. 22).

( 42 ) Unterzeichnet in Rom am 4. November 1950.

( 43 ) Urteil vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission (C‑439/11 P, Randnr. 126 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 44 ) Urteile vom 2. Dezember 2009, Kommission/Irland u. a. (C-89/08 P, Slg. 2009, I-11245, Randnrn. 51 und 54), und vom 17. Dezember 2009, Überprüfung M/EMEA (C-197/09 RX-II, Slg. 2009, I-12033, Randnr. 42).

( 45 ) Urteile Kommission/Irland u. a. (oben in Fn. 44 angeführt, Randnr. 50) und Überprüfung M/EMEA (Randnr. 41).

( 46 ) Urteil Kommission/Irland u. a. (oben in Fn. 44 angeführt, Randnrn. 52 und 55 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 47 ) Ebd. (Randnr. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 48 ) Ebd. (Randnr. 55). Vgl. auch Urteile Überprüfung M/EMEA (oben in Fn. 44 angeführt, Randnr. 41), und vom 21. Februar 2013, Banif Plus Bank (C‑472/11, Randnr. 30). Die Rechtssache, in der das letztgenannte Urteil ergangen ist, betraf die Berücksichtigung der Missbräuchlichkeit einer Klausel durch das nationale Gericht von Amts wegen. Das Ergebnis, gestützt auf die allgemeinen Anforderungen des Rechts auf ein faires Verfahren, ist meines Erachtens dennoch übertragbar auf das Unionsgericht, das sich bei der Entscheidung eines Rechtsstreits auf einen Gesichtspunkt stützen möchte, der von Amts wegen berücksichtigt wird.

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