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Document 62011CC0219

    Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi vom 15. Mai 2012.
    Brain Products GmbH gegen BioSemi VOF und andere.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland.
    Vorabentscheidungsersuchen - Medizinprodukte - Richtlinie 93/42/EWG - Anwendungsbereich - Auslegung des Begriffs ‚Medizinprodukt‘ - Für nichtmedizinische Zwecke vertriebenes Produkt - Untersuchung eines physiologischen Vorgangs - Freier Warenverkehr.
    Rechtssache C-219/11.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:299

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PAOLO MENGOZZI

    vom 15. Mai 2012 ( 1 )

    Rechtssache C-219/11

    Brain Products GmbH

    gegen

    BioSemi VOF u. a.

    (Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs [Deutschland])

    „Freier Warenverkehr — Richtlinie 93/42/EWG — Begriff ‚Medizinprodukt‘ — Nicht für den medizinischen Gebrauch bestimmtes Produkt“

    I – Einleitung

    1.

    Die Schaffung des CE-Zeichens, das in einigen speziellen Bereichen die Produkte kennzeichnet, die die von den Normen des Unionsrechts vorgesehenen grundlegenden Anforderungen erfüllen, stellte einen Meilenstein bei der Verwirklichung des Binnenmarkts dar. Dank dieses Zeichens befinden sich nämlich viele Produkte im freien Verkehr, ohne dass die Mitgliedstaaten ihren Verkauf aufgrund eigener innerstaatlicher Vorschriften behindern können.

    2.

    Einer der Bereiche, in denen durch das Unionsrecht das System des CE-Zeichens eingeführt wurde, ist der von der Richtlinie 93/42/EWG ( 2 ) (im Folgenden auch: Richtlinie) geregelte Bereich der Medizinprodukte. Im vorliegenden Fall wird der Gerichtshof den genauen Anwendungsbereich dieser Richtlinie zu klären haben und insbesondere die Frage, ob von ihr Produkte erfasst werden, die, obwohl sie einer der in ihr enthaltenen Definitionen entsprechen, nicht für den Gebrauch zu einem medizinischen Zweck bestimmt sind.

    II – Rechtlicher Rahmen

    A – Vorbemerkung

    3.

    Die Vorgehensweise der Union bei der Harmonisierung der Produkte, die im Binnenmarkt vertrieben werden können, hat eine Entwicklung durchlaufen. In einer ersten Phase ging die allgemeine Tendenz dahin, sehr detaillierte Normen zu erlassen, die eine Vielzahl eingehender technischer Vorschriften enthielten. Eine Regelung mit einem so großen Detailreichtum hat jedoch beträchtliche Nachteile: Sie ist schwer umzusetzen, und es besteht die Gefahr, dass sie mit der technischen Entwicklung nicht Schritt halten kann.

    4.

    Deshalb entschied der Gesetzgeber ab Mitte der achtziger Jahre, bei der technischen Harmonisierung in anderer Weise vorzugehen. Ausgangspunkt der sogenannten „neuen Konzeption“, wie die neue Strategie genannt wird, ist eine Entschließung des Rates vom 7. Mai 1985 ( 3 ). Dieses Dokument skizziert bereits deutlich die zwei wesentlichen Elemente der neuen Ausrichtung: a) die Beschränkung der Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf die grundlegenden Anforderungen und b) die zentrale Rolle der harmonisierten (technischen) Normen.

    5.

    Nach der „neuen Konzeption“ beschränkt sich die Harmonisierung der Rechtsvorschriften auf die „grundlegenden Anforderungen“ der Produkte, die in einer Reihe sektorbezogener Richtlinien spezifiziert werden. Die Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen wird für ein Produkt durch die Anbringung des CE-Zeichens bestätigt. Im Allgemeinen wird die Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen vom Hersteller in eigener Verantwortung bescheinigt.

    6.

    Die Übereinstimmung mit den grundlegenden Anforderungen wird bei Produkten, die den „harmonisierten Normen“ entsprechen, vermutet. Die harmonisierten Normen sind technische Standards, die auf nationaler Ebene und auf Unionsebene von den für die industrielle Normierung zuständigen Stellen ausgearbeitet worden sind. Die Beachtung der harmonisierten Normen ist nicht verpflichtend, wird aber vom Gesetzgeber stark gefördert, vor allem durch die genannte Konformitätsvermutung. Ein Hersteller kann die Beachtung der grundlegenden Anforderungen nachweisen, ohne die harmonisierten Normen zu befolgen; dies stellt jedoch in den meisten Fällen eine unnötige Komplikation dar. In der Praxis werden die Produkte im Allgemeinen unter Beachtung der harmonisierten Normen hergestellt.

    7.

    Es gibt eine ganze Reihe von Richtlinien nach der „neuen Konzeption“, und sie decken eine breite Produktpalette ab, von Spielzeug ( 4 ) bis zu Explosivstoffen ( 5 ), von Funkanlagen ( 6 ) bis zu Aufzügen ( 7 ). Wenn ein Produkt in den Anwendungsbereich einer (oder mehrerer) Richtlinien nach der „neuen Konzeption“ fällt, muss es den dort vorgesehenen grundlegenden Anforderungen entsprechen und folglich mit dem CE-Zeichen gekennzeichnet werden.

    B – Die Richtlinie

    8.

    Im vorliegenden Fall regelt die maßgebliche Richtlinie, wie bereits erwähnt, Medizinprodukte.

    9.

    Der Begriff „Medizinprodukt“ wird in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie wie folgt definiert:

     

    „alle einzeln oder miteinander verbunden verwendeten Instrumente, Apparate, Vorrichtungen, Software, Stoffe oder anderen Gegenstände, einschließlich der vom Hersteller speziell zur Anwendung für diagnostische und/oder therapeutische Zwecke bestimmten und für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzten Software, die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen für folgende Zwecke bestimmt sind:

    Erkennung, Verhütung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten;

    Erkennung, Überwachung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen;

    Untersuchung, Ersatz oder Veränderung des anatomischen Aufbaus oder eines physiologischen Vorgangs;

    Empfängnisregelung,

    und deren bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper weder durch pharmakologische oder immunologische Mittel noch metabolisch erreicht wird, deren Wirkungsweise aber durch solche Mittel unterstützt werden kann“.

    10.

    Nach Art. 2 („Inverkehrbringen und Inbetriebnahme“) der Richtlinie dürfen die Produkte, die unter die Definition in Art. 1 fallen, nur in Verkehr gebracht werden, wenn sie die Anforderungen der Richtlinie erfüllen. Nach Art. 3 bedeutet dies im Wesentlichen, dass die Produkte den in Anhang I aufgeführten „grundlegenden Anforderungen“ genügen müssen.

    11.

    In Art. 5 („Verweis auf Normen“) der Richtlinie wird der Grundsatz der Konformitätsvermutung bei den Produkten, die den harmonisierten Normen entsprechen, wie folgt zum Ausdruck gebracht:

    „Die Mitgliedstaaten gehen von der Einhaltung der grundlegenden Anforderungen gemäß Artikel 3 bei Produkten aus, die den einschlägigen nationalen Normen zur Durchführung der harmonisierten Normen, deren Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht wurden, entsprechen …“

    12.

    Schließlich müssen nach Art. 17 alle Produkte, die die grundlegenden Anforderungen erfüllen, mit einer CE-Kennzeichnung versehen sein.

    13.

    Die harmonisierten Normen, auf die Art. 5 der Richtlinie verweist, werden regelmäßig im Amtsblatt veröffentlicht. Zuletzt wurde die Liste der harmonisierten Normen zu Medizinprodukten im August 2011 veröffentlicht ( 8 ).

    C – Die Leitlinien der Kommission

    14.

    Die Kommission veröffentlicht regelmäßig Leitlinien zur Auslegung der Richtlinien nach der „neuen Konzeption“, deren Hauptziel darin besteht, den Herstellern von Gütern, die möglicherweise den in den Unionsvorschriften vorgesehenen Verpflichtungen unterliegen, Orientierung zu geben. Diese Dokumente sind rechtlich nicht bindend; es ist jedoch angebracht, ihre Existenz nicht außer Acht zu lassen, und sei es nur, um zu wissen, wie die Normen aktuell in der Praxis ausgelegt werden.

    15.

    Im Bereich der Medizinprodukte ist insbesondere auf ein Dokument (MEDDEV 2.1/1) hinzuweisen, das von der Kommission im April 1994 veröffentlicht wurde und zur Definition einiger in der Richtlinie enthaltener Schlüsselbegriffe dient ( 9 ). Zum Begriff „Medizinprodukt“ weist die Kommission in dem Dokument ausdrücklich darauf hin, dass „Medizinprodukte … Artikel [sind], die dazu bestimmt sind, zu einem medizinischen Zweck verwendet zu werden“ ( 10 ). Weiter heißt es dort, dass der „Hersteller … [den] spezifischen medizinischen Zweck“ des Produkts bestimmt.

    III – Sachverhalt und Vorlagefrage

    16.

    Die Gesellschaft niederländischen Rechts BioSemi vertreibt ein Produkt namens „ActiveTwo“. Es handelt sich dabei um ein System, das in der Lage ist, elektrische Signale des menschlichen Körpers aufzuzeichnen, genauer gesagt des Gehirns (EEG), des Herzens (EKG) und der Muskeln (EMG). Obwohl derartige Messungen im Gesundheitsbereich häufig sind (Elektrokardiogramm, Elektroenzephalogramm usw.), richtet sich das fragliche Produkt nicht an ein medizinisches Publikum, und in den ihm beigefügten Unterlagen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nicht für Diagnose- und/oder Behandlungstätigkeiten bestimmt ist. Benutzer des Produkts, das umgebaut und dadurch entsprechend den Anforderungen der Kunden konfiguriert werden kann, sind hauptsächlich Forscher, die sich mit Untersuchungen vor allem im Bereich der kognitiven Wissenschaften beschäftigen.

    17.

    Das Produkt ist nicht mit dem die Übereinstimmung mit der Richtlinie über Medizinprodukte bescheinigenden CE-Zeichen versehen. Auf diesen Umstand wird derzeit unter anderem auf der Website des Herstellers klar hingewiesen. Dort heißt es auch, dass ActiveTwo ein nicht für den medizinischen Gebrauch bestimmtes Produkt sei.

    18.

    Brain Products ist eine Konkurrentin von BioSemi und hat gegen diese mit der Begründung Klage erhoben, dass das von BioSemi hergestellte System unabhängig von seiner Zweckbestimmung als Medizinprodukt im Sinne der Richtlinie anzusehen sei und daher als solches zertifiziert werden müsse.

    19.

    Die von Brain Products erhobene Klage wurde in erster und in zweiter Instanz abgewiesen und ist nun vor dem Bundesgerichtshof anhängig. Im Unterschied zu den Vorinstanzen, die die Notwendigkeit der Übereinstimmung eines Produkts, das ausdrücklich nicht für einen medizinischen Gebrauch bestimmt ist, mit der Richtlinie verneint hatten, hat das vorlegende Gericht insoweit Zweifel und hat daher dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

    Stellt ein Gegenstand, der vom Hersteller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines physiologischen Vorgangs bestimmt ist, nur dann ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Richtlinie 93/42 dar, wenn er auf einen medizinischen Zweck ausgerichtet ist?

    IV – Zur Vorlagefrage

    20.

    Offenbar hat die Auslegung der Richtlinie, um die das vorlegende Gericht ersucht, bislang nie Anlass zu Zweifeln gegeben, weder in der Praxis noch in der nationalen Rechtsprechung; es wurde stets die Ansicht vertreten, dass die Richtlinie allein auf Produkte Anwendung findet, die nicht nur unter die abstrakte Definition der „Medizinprodukte“ im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a fallen, sondern auch für den Gebrauch zu medizinischen Zwecken bestimmt sind. So besagen es die Leitlinien der Kommission sowie, nach den Angaben in den Akten, die deutsche und die niederländische Verwaltungspraxis.

    21.

    Ich möchte aber sogleich darauf hinweisen, dass die Antwort auf die Vorlagefrage nicht ganz einfach ist. Es stehen sich nämlich einerseits die verlockende Einfachheit einer wörtlichen Auslegung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Richtlinie und andererseits eine ganze Reihe von Argumenten gegenüber, die, auch wenn sie isoliert betrachtet weniger bedeutsam sind, in ihrer Gesamtheit ein beachtliches Gegengewicht bilden. Zwar spricht eine isolierte Betrachtung des dritten Gedankenstrichs für eine Einordnung des fraglichen Produkts als Medizinprodukt, doch sprechen der systematische und der teleologische Ansatz dafür, dass ein solches Produkt nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt und daher nicht als Medizinprodukt zertifiziert werden muss.

    22.

    Ich nehme sogleich vorweg, dass mir die zweite Gruppe von Argumenten insgesamt gesehen überzeugender erscheint als die wörtliche Auslegung des dritten Gedankenstrichs. Daher meine ich aus den Gründen, die ich nun darlegen werde, dass ein Produkt wie „ActiveTwo“ von BioSemi nicht als Medizinprodukt im Sinne der Richtlinie anzusehen ist.

    A – Die wörtliche Auslegung

    23.

    Zur Stützung der These, dass ein Produkt wie das hier in Rede stehende den Regeln über Medizinprodukte unterworfen werden müsse, kann die wörtliche Auslegung des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Richtlinie herangezogen werden. Es ist nämlich klar, dass das System „ActiveTwo“ Funktionen erfüllt, die als „Untersuchung … eines physiologischen Vorgangs“ definiert werden können, denn es handelt sich um ein Produkt, das vom menschlichen Körper, genauer gesagt vom Herzen, vom Gehirn und von den Muskeln, ausgehende elektrische Signale aufzeichnen kann.

    24.

    Diese Auslegung ist sicher sehr verlockend, vor allem wegen ihrer Einfachheit. Es gibt jedoch zahlreiche Gesichtspunkte, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen und die ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des wörtlichen Ansatzes wecken.

    25.

    Erstens sprechen die teleologische und die systematische Auslegung für eine Lösung, die der, die sich aus der wörtlichen Auslegung ergibt, zuwiderläuft; nach einem teleologischen und systematischen Ansatz fallen nur Produkte, die für einen medizinischen Gebrauch bestimmt sind, in den Anwendungsbereich der Richtlinie.

    26.

    Zweitens hat die wörtliche Auslegung nicht zu vernachlässigende Nachteile und könnte ganz unerwartete Folgen haben.

    27.

    Ich werde nun getrennt die beiden soeben genannten Aspekte untersuchen, zunächst die systematische und die teleologische Auslegung und dann die mit der wörtlichen Auslegung verbundenen Probleme.

    28.

    Ich weise allerdings darauf hin, dass sich das mit der aktuellen Vorlagefrage aufgeworfene Einstufungsproblem jedenfalls nur für Produkte stellen kann, die unter den dritten Gedankenstrich der Definition fallen können. Bei Produkten im Sinne des ersten und des zweiten Gedankenstrichs ist nämlich der Gebrauch zu medizinischen Zwecken implizit in ihrer Definition enthalten, die auf Tätigkeiten der Erkennung, Verhütung, Behandlung usw. Bezug nimmt. Die Produkte im Sinne des vierten Gedankenstrichs bilden, wie wir in Kürze sehen werden, nach der Intention des Gesetzgebers eine ganz spezielle Kategorie, die sich in jedem Fall auch auf einen „medizinischen“ Zweck zurückführen lässt.

    B – Die systematische und die teleologische Auslegung

    29.

    Aus dem Blickwinkel der systematischen und/oder teleologischen Auslegung der Richtlinie sind als Medizinprodukte nur solche Produkte anzusehen, die für einen Gebrauch zu medizinischen Zwecken bestimmt sind. Die Gesichtspunkte, die dafür sprechen, sind zahlreich und können wie folgt zusammengefasst werden.

    1. Die Wortwahl des Gesetzgebers

    30.

    Hervorzuheben ist vor allem, dass sich die Richtlinie, angefangen bei ihrem Titel, auf „Medizinprodukte“ bezieht. Dies ist bereits ein klarer Hinweis auf den Bezugskontext des Gesetzgebers beim Verfassen der Norm: Der Gedanke war, einen Bezugsrahmen abzustecken, der es ermöglicht, in angemessener Weise diejenigen zu schützen, die mit den Produkten aktiv oder passiv in einem medizinischen Kontext in Berührung kommen ( 11 ). Es erscheint jedoch nicht mit diesem Grundgedanken der Richtlinie, der sie völlig durchdringt, vereinbar, darunter Produkte zu fassen, die nie in einem medizinischen Rahmen verwendet werden sollen. Dies ist bei einem Produkt wie „ActiveTwo“ der Fall, denn es wird nicht von Ärzten verwendet (oder zumindest nicht von Ärzten im Rahmen der Diagnose und der Behandlung von Krankheiten), und es wird auch nicht bei Patienten verwendet, sondern bei Freiwilligen (den Teilnehmern an Experimenten).

    2. Die Bezugnahme auf „Patienten“

    31.

    Der Umstand, dass die Richtlinie zahlreiche Bezugnahmen auf „Patienten“ enthält, ist bedeutsam. Hätte der Gesetzgeber auch Produkte regeln wollen, die für andere als die für den medizinischen Bereich typischen Bereiche und Zwecke bestimmt sind, hätte er wahrscheinlich eine andere Terminologie zur Bezeichnung derjenigen verwendet, die beim Gebrauch der Medizinprodukte „passiv“ mit ihnen in Berührung kommen. Es ist nämlich keinesfalls möglich, die Teilnehmer an einem Experiment im Rahmen der kognitiven Wissenschaften als „Patienten“ zu definieren.

    32.

    In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass meiner Meinung nach die Tatsache, dass alle Produkte zur „Empfängnisregelung“ im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Buchst. a vierter Gedankenstrich ausnahmslos unter die Medizinprodukte fallen, kein Problem darstellt. Obwohl nämlich der Anwender solcher Produkte im Allgemeinen nicht als „Patient“ qualifiziert werden kann, sind einige Gesichtspunkte zu beachten, die meiner Meinung nach die Wahl des Gesetzgebers erklären, solche Produkte in den Anwendungsbereich der Richtlinie einzubeziehen.

    33.

    Ich verweise erstens auf die Bedeutung zumindest einiger dieser Produkte für die Prävention sexuell übertragbarer Krankheiten, die vom Gesetzgeber im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie besonders hervorgehoben wurde; dieser lautet:

    „Im Rahmen der Bekämpfung von Aids und unter Berücksichtigung der vom Rat am 16. Mai 1989 verabschiedeten Schlussfolgerungen über die künftigen Tätigkeiten zur Verhütung und Kontrolle von Aids in der Gemeinschaft müssen die zum Schutz vor einer Infizierung mit dem HIV-Virus angewandten Medizinprodukte einen hochgradigen Schutz bieten. Auslegung und Herstellung dieser Produkte müssen durch eine benannte Stelle geprüft werden.“

    34.

    Mit anderen Worten war der Gesetzgeber der Ansicht, dass diese Produkte eine zu heikle und wichtige Rolle spielen, um sie aus der Richtlinie herauszunehmen, und dass sie eine Art von „Spezialfall“ darstellen, abgesehen von der Möglichkeit, sie in eine der anderen in den Anwendungsbereich der Rechtsnorm fallenden Produktkategorien einzubeziehen.

    35.

    Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass Produkte, die die Übertragung von Krankheiten verhindern können, auch dann in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen würden, wenn es Art. 1 Abs. 2 Buchst. a vierter Gedankenstrich nicht gäbe, und auch bei einer restriktiven Auslegung, wonach sich der Anwendungsbereich auf Produkte beschränkt, die einen „medizinischen Zweck“ haben. Produkte zur Verhütung von potenziell auch sehr ernsthaften Krankheiten fallen nämlich unter die vom ersten Gedankenstrich erfasste Kategorie, zu der auch Produkte gehören, die zur „Verhütung … von Krankheiten“ dienen.

    36.

    Zudem darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch Produkte zur Empfängniskontrolle, die nicht dazu dienen, der Übertragung von Krankheiten vorzubeugen, häufig unter verschiedenen Aspekten eine wichtige „medizinische“ Eigenschaft haben. Oft handelt es sich um Produkte, deren Gebrauch auf eine spezielle ärztliche Konsultation hin erfolgt, und in einigen Fällen können sie zwar nicht speziell einer Krankheit, aber schädlichen Folgen für die Gesundheit vorbeugen (z. B. in dem von der Kommission genannten Fall von Frauen, für die eine Schwangerschaft hohe Risiken bergen würde).

    37.

    Schließlich ist noch zu bedenken, dass die potenziellen Folgen von Defekten oder Qualitätsproblemen bei Produkten zur Empfängniskontrolle sowohl aus rein medizinischer Sicht als auch aus sozialer und psychologischer Sicht äußerst wichtig sind. Daher ist es voll und ganz verständlich, dass der Gesetzgeber solche Produkte immer und in jedem Fall in den Anwendungsbereich der Richtlinie aufnehmen wollte.

    38.

    Hinzu kommt, dass diese diagnostisch-therapeutische Perspektive der Richtlinie durch die Prüfung ihrer Anhänge bestätigt wird, die vom Gesetzgeber unter klarer und konstanter Bezugnahme auf eine medizinische Verwendung der Produkte, die zertifiziert werden müssen, erstellt worden sind. Ein Beispiel liefert in diesem Zusammenhang Anhang X zur klinischen Bewertung der Produkte; das medizinische Ziel ist hier klar und unbestreitbar vorhanden.

    3. Fehlende Bezugnahmen auf andere Ziele der Norm

    39.

    An keiner Stelle der Richtlinie hat der Gesetzgeber den Willen erkennen lassen, andere als die oben genannten Personen zu schützen. Die Richtlinie zielt nämlich, wie wir gesehen haben, hauptsächlich darauf ab, in „aktiver“ Hinsicht diejenigen zu schützen, die die Produkte zur Untersuchung und/oder Behandlung von Patienten nutzen (Ärzte, Krankenpfleger usw.), und in „passiver“ Hinsicht drei verschiedene Personengruppen: erkrankte Personen (Patienten in einer Therapie), Personen, die erkrankt sein könnten (Patienten, bei denen klinische Untersuchungen durchgeführt werden), und schließlich Personen, die im Fall defekter oder unzuverlässiger Produkte erkranken oder zumindest ernsthafte Konsequenzen erleiden könnten (Anwender von Produkten zur Empfängniskontrolle).

    4. Die Rolle der vom Hersteller getroffenen Entscheidung über die Bestimmung des Produkts

    40.

    Die Richtlinie enthält vielfältige Bezugnahmen auf die einem Produkt vom Hersteller gegebene Bestimmung. Dies zeigt, dass dieses „subjektive“ Element keineswegs irrelevant ist, sondern bei der Auslegung der anwendbaren Bestimmungen berücksichtigt werden muss.

    41.

    Ich verweise dabei insbesondere auf den Einleitungsteil der Definition des „Medizinprodukts“ in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a. Wie der Wiedergabe des Wortlauts der Vorschrift oben in Nr. 9 zu entnehmen ist, geht dieser nämlich den vier bereits erörterten Kategorien voran und zeigt an, dass alle Produkte, „die vom Hersteller zur Anwendung für Menschen … bestimmt sind“ ( 12 ), ein Medizinprodukt darstellen.

    42.

    Dieser Hinweis auf den Willen des Herstellers ist hier für sich genommen nicht entscheidend, da Bezug darauf genommen wird, dass das Produkt für Menschen eingesetzt werden soll, und nicht darauf, dass das Produkt für Menschen zu medizinischen Zwecken eingesetzt werden soll. Gleichwohl ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass der Wille des Herstellers in Bezug auf die Verwendung eines bestimmten Produkts nicht irrelevant ist und dass die Einordnung im Sinne der Richtlinie nicht allein auf der Grundlage objektiver Gesichtspunkte erfolgen kann. Würde die Bezugnahme auf den Willen des Herstellers fehlen, wäre es unmöglich, eine klare Abgrenzung der Kategorie der Medizinprodukte vorzunehmen, denn Mediziner benutzen viele Produkte, die in gewissem Maß „funktional“ den in anderen Bereichen benutzten Produkten äquivalent sind. Man denke an chirurgische Instrumente, die in ihrer Funktionsweise oft den von Handwerkern für die Bearbeitung von Eisen oder Holz benutzten Werkzeugen ähneln; niemand würde jedoch daran denken, die Zertifizierung eines Hammers oder einer Tischlersäge als Medizinprodukt zu verlangen.

    5. Der Grundsatz des freien Warenverkehrs

    43.

    Zu den Zielen der Richtlinie gehört, wie auch der dritte Erwägungsgrund zeigt, die Verwirklichung des freien Verkehrs der Medizinprodukte im Unionsgebiet. Genauer gesagt zielt die Richtlinie darauf ab, den freien Warenverkehr mit dem Schutz der Gesundheit der Patienten in Einklang zu bringen.

    44.

    Wie der Gerichtshof, insbesondere unter Bezugnahme auf den Bereich der Arzneimittel, dessen Regelung unter ähnlichen Prämissen steht ( 13 ), ausgeführt hat, müssen die für ein Produkt geltenden Verpflichtungen und Beschränkungen mittels einer Abwägung der potenziell im Widerstreit stehenden Grundsätze des Gesundheitsschutzes und des freien Warenverkehrs ausgelegt werden. Aus dieser Sicht ist es jedoch erforderlich, die Richtlinie – und infolgedessen die Verpflichtung zur Zertifizierung und zum CE-Zeichen – so aufzufassen, dass man ein Auslegungsparadigma anwendet, das dieses Grundprinzip beachtet und die Beschränkungen auf Fälle beschränkt, in denen sie zum Schutz eines übergeordneten Interesses gerechtfertigt erscheinen ( 14 ).

    45.

    In Fällen, in denen ein Produkt nicht zu medizinischen Zwecken verwendet wird, sondern zu Forschungszwecken an Freiwilligen, die keine besonderen gesundheitlichen Probleme haben, ist es gerechtfertigt, das Erfordernis, das Produkt selbst als Medizinprodukt zu zertifizieren, in Zweifel zu ziehen.

    6. Die Praxis auf Unionsebene und auf nationaler Ebene

    46.

    Nicht vergessen werden darf auch, dass sich die Praxis auf nationaler Ebene und auf Unionsebene bisher offenbar ausnahmslos daran orientiert hat, dass die Richtlinie grundsätzlich nur für Medizinprodukte gilt, die zu medizinischen Zwecken verwendet werden.

    47.

    Es handelt sich dabei um einen Umstand, der sicher nicht entscheidend ist, aber dennoch darauf hinzudeuten scheint, dass die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten (die Kommission und die Mitgliedstaaten) keine Zweifel daran hatten, wie die Richtlinie auszulegen sei.

    7. Die Analogie zur Software

    48.

    Das Erfordernis, die Richtlinie nur auf Produkte anzuwenden, die zu einem medizinischen Zweck verwendet werden sollen, wird auch durch analoge Anwendung der Vorschriften gestützt, die Art. 1 der Richtlinie in Bezug auf Software enthält.

    49.

    Bekanntlich werden Softwareprodukte täglich in der medizinischen Praxis verwendet, und für den Gesetzgeber hat sich daher das Problem gestellt, wie eine unterschiedslose Anwendung des Erfordernisses der Übereinstimmung mit der Richtlinie auf jedes Computerprogramm, das im medizinischen Bereich verwendet werden könnte, zu vermeiden ist. Die gefundene Lösung besteht auch in diesem Fall darin, die vom Hersteller vorgenommene Bestimmung des Produkts in den Vordergrund zu stellen. Wie ausgeführt, fällt nämlich nach Art. 1 der Richtlinie die „vom Hersteller speziell zur Anwendung für diagnostische und/oder therapeutische Zwecke bestimmte und für ein einwandfreies Funktionieren des Medizinprodukts eingesetzte“ ( 15 ) Software in den Anwendungsbereich der Norm.

    50.

    Das Argument ist natürlich nicht entscheidend und könnte auch im umgekehrten Sinn verwendet werden: Wenn der Gesetzgeber die Anwendung der Richtlinie allein auf die für medizinische Zwecke bestimmten Produkte hätte beschränken wollen, hätte er dies festlegen können, wie er es bei Software getan hat. Auch in diesem Fall scheint mir jedoch, dass der interessantere Gesichtspunkt die Bezugnahme auf den Willen des Herstellers ist; dies bestätigt, dass die objektiven Gesichtspunkte, die ein Produkt charakterisieren, nicht die einzigen sind, die berücksichtigt werden können, um festzustellen, ob es in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt.

    C – Die Nachteile einer wörtlichen Auslegung

    51.

    Für eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Richtlinie, zumindest bezüglich der von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich erfassten Produkte, allein auf diejenigen, die vom Hersteller zur Verwendung für medizinische Zwecke bestimmt sind, sprechen neben den soeben dargelegten Argumenten auch die zahlreichen und nicht zu vernachlässigenden Nachteile, die eine weitergehende Auslegung mit sich brächte.

    52.

    Erstens könnten nach den Angaben, die schriftlich und in der mündlichen Verhandlung gemacht wurden, Produkte wie das System ActiveTwo, das Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist, nicht vertrieben werden, wenn sie als Medizinprodukte im Sinne der Richtlinie zertifiziert werden müssten.

    53.

    Das System ActiveTwo hat nämlich variablen und modularen Charakter. Es handelt sich nicht um ein einziges Produkt mit vorgegebener Beschaffenheit, sondern um eine Gesamtheit verschiedener Komponenten, die der Käufer erwirbt und anhand seiner Bedürfnisse konfiguriert (d. h. in der Praxis danach, welche Art von Studien durchgeführt werden soll). Gerade dieser dem Produkt innewohnende variable Charakter würde es unmöglich machen, es einer Zertifizierung als Medizinprodukt zu unterziehen, da diese ein „standardisiertes“ Produkt voraussetzt, bei dem Parameter wie das Risiko-Nutzen-Profil, die Messgenauigkeit usw. bewertet werden können.

    54.

    Zudem sieht, wie die Kommission in ihren Erklärungen hervorgehoben hat, Anhang I der Richtlinie, der eine Aufstellung der für die Zertifizierung eines Medizinprodukts notwendigen grundlegenden Anforderungen enthält, in Abschnitt I.1 vor, dass notwendige Bedingung für die Zertifizierung eines Medizinprodukts die Tatsache ist, dass „etwaige Risiken im Zusammenhang mit der vorgesehenen Anwendung gemessen am Nutzen für den Patienten vertretbar“ sind. Diese Formulierung würde in einem Fall wie dem vorliegenden ersichtlich zu mindestens zwei Problemen führen. Einerseits kann, wie bereits ausgeführt, eine gesunde Person, die freiwillig an einem wissenschaftlichen Experiment teilnimmt, nicht als „Patient“ betrachtet werden; ein Patient ist im Allgemeinen eine Person, die erkrankt ist oder möglicherweise erkrankt. Andererseits, und das ist die eigentliche Schwierigkeit, erbringt ein zur Durchführung einer Studie und nicht zur Diagnose oder Behandlung einer Krankheit verwendetes Produkt per definitionem keinen individuellen Nutzen für diejenigen, bei denen es verwendet wird. Mit anderen Worten ziehen die Freiwilligen, die an einer wissenschaftlichen Studie teilnehmen, bei der das System ActiveTwo zum Einsatz kommt, keinen direkten Nutzen aus dieser Teilnahme.

    55.

    Infolgedessen ist das Risiko-Nutzen-Profil eines rein für Forschungszwecke bestimmten Produkts, bezogen auf eine einzelne Person, per definitionem negativ ( 16 ). Die Anwendung der in der Richtlinie enthaltenen Vorschriften könnte deswegen im Grundsatz dazu führen, dass die Zertifizierung eines derartigen Produkts stets abgelehnt würde.

    56.

    Das völlige Verbot, ein Produkt wie ActiveTwo oder jedes andere Produkt mit ähnlichen Eigenschaften zu vertreiben, wäre jedoch eine drastische und schwer zu rechtfertigende Konsequenz aus der Auslegung der Richtlinie, zumal dies nicht nur Auswirkungen auf den Binnenmarkt haben könnte, sondern auch auf die Realisierung wissenschaftlicher Forschung.

    57.

    Zweitens würde eine Auslegung der Richtlinie, wonach diese auch für nicht zur medizinischen Verwendung bestimmte Produkte gelten würde, wenn sie nur der allgemeinen Definition in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich entsprechen, dazu führen, dass das CE-Zeichen auf einer Vielzahl von Produkten des täglichen Gebrauchs angebracht werden müsste, die bislang oft vertrieben werden, ohne im Einklang mit der Richtlinie zertifiziert worden zu sein.

    58.

    Es handelt sich vor allem um Produkte, die für den Gebrauch im Haushalt bestimmt sind und gleiche oder ähnliche Funktionen haben wie im medizinischen Bereich verwendete Produkte: Personenwaagen, Pulsmessuhren, Schrittzähler mit Angabe des Kalorienverbrauchs usw. Im Allgemeinen gibt es zwei Hauptmärkte für Produkte mit solchen Funktionen. Zum einen den „medizinisch-professionellen“ Markt, für den Produkte mit Zertifizierung bestimmt sind und der durch höherwertige Leistungen und höhere Preise gekennzeichnet ist. Zum anderen den „häuslichen“ Markt für Produkte mit bisweilen geringerer Leistung, die im Allgemeinen (wenn auch nicht immer ( 17 )) nicht als Medizinprodukte zertifiziert sind, aber zu einem niedrigeren Preis verkauft werden. Die Auferlegung einer Pflicht zur Übereinstimmung mit der Richtlinie für alle diese Produkte würde zu einer erzwungenen „Fusion“ der beiden Märkte und zu einer unvermeidbaren Preissteigerung für die „gewöhnlichen“ Verbraucher führen.

    59.

    Noch extremer wäre zudem der Fall von Produkten wie Perücken und unechten Fingernägeln, die bei wörtlicher Auslegung auch unter den dritten Gedankenstrich der Definition des Medizinprodukts fallen, da sie jedenfalls Produkte sind, die einen „Ersatz oder [eine] Veränderung des anatomischen Aufbaus“ bewirken. Es hat aber wohl noch niemand je daran gedacht, die Zertifizierung solcher Produkte als Medizinprodukte vorzuschreiben.

    60.

    Die einzige Art und Weise, solche „abnormen“ Einordnungen zu vermeiden, besteht konkret darin, den Zweck zu berücksichtigen, für den ein Produkt bestimmt ist, und die Pflicht zur Übereinstimmung mit der Richtlinie auf Produkte zu beschränken, die zur Verwendung für einen medizinischen Zweck bestimmt sind ( 18 ). Das bedeutet konkret, dass unter den dritten Gedankenstrich der Definition nur Produkte fallen, die für einen diagnostischen oder therapeutischen Zweck bestimmt sind oder im Rahmen wie auch immer gearteter medizinischer Verfahren verwendet werden ( 19 ).

    61.

    Hinzufügen ist allerdings noch, dass es eine Reihe von Hygieneprodukten des täglichen Gebrauchs, wie z. B. Zahnbürsten, gibt, die auch zur Vorbeugung von Krankheiten dienen, was bei strenger Auslegung dafür sprechen könnte, sie als Medizinprodukte im Sinne der Richtlinie einzuordnen. Auch in diesem Fall scheint jedoch niemand ein solches Ergebnis, das paradox wäre, anzustreben ( 20 ).

    D – Zusammenfassung

    62.

    Ersichtlich sprechen zahlreiche Gesichtspunkte dafür, dass die ausschließlich wörtliche Auslegung der in der Richtlinie enthaltenen Definition des „Medizinprodukts“ nicht zufriedenstellend ist. Vielmehr erscheint es angebrachter, den Anwendungsbereich der Norm, genauer gesagt von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich, allein auf Produkte zu beschränken, die für einen medizinischen Zweck bestimmt sind.

    63.

    Dies bedarf jedoch einer Präzisierung. Auch wenn das Hauptelement bei der Klärung der Frage, ob ein Produkt zur medizinischen Verwendung bestimmt ist, in den vom Hersteller gelieferten Angaben besteht, muss ein seinem Wesen nach allein für eine Verwendung medizinischer Art bestimmtes Produkt als Medizinprodukt behandelt werden, auch wenn es vom Hersteller nicht als solches bezeichnet wird. Auf alle Fälle sollte eine solche Klausel zur Verhinderung von Missbrauch in den meisten Fällen nicht erforderlich sein, da es – auch aus evidenten Gründen der Berufshaftung – ständige Praxis medizinischer Einrichtungen ist, ausschließlich Produkte zu kaufen, die im Sinne der Richtlinie zertifiziert sind.

    64.

    Aus dem Umstand, dass ein Produkt nicht als Medizinprodukt zertifiziert ist, darf allerdings nicht geschlossen werden, dass dieses Produkt für seine Benutzer von besonderer Gefährlichkeit sein könnte. Anwendbar bleiben nämlich alle anderen allgemeinen Vorschriften zur Sicherheit von Produkten einschließlich derjenigen, die z. B. die Konformität und das Anbringen des CE-Zeichens etwa für alle elektrischen Betriebsmittel ( 21 ) sowie für alle Betriebsmittel betreffen, die Probleme mit der elektromagnetischen Verträglichkeit verursachen können ( 22 ). Paradoxerweise bestehen, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung hervorgehoben hat, bei anderen Arten der Zertifizierung in vielen Fällen noch strengere Anforderungen als bei Medizinprodukten. Während nämlich ein Medizinprodukt im Allgemeinen auch beträchtliche Risiken aufweisen darf, wenn diese durch adäquate Vorteile ausgeglichen werden, ist bei den anderen Zertifizierungsarten meist keine ähnliche Abwägung möglich, und es besteht die Tendenz, schlicht eine Minimierung jedes möglichen Risikos vorzuschreiben.

    V – Ergebnis

    65.

    Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof daher vor, die vom Bundesgerichtshof vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

    Ein vom Hersteller zur Anwendung für Menschen zum Zwecke der Untersuchung eines physiologischen Vorgangs bestimmtes Produkt stellt nur dann ein Medizinprodukt im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. a dritter Gedankenstrich der Richtlinie 93/42/EWG dar, wenn es für einen medizinischen Zweck bestimmt ist.


    ( 1 ) Originalsprache: Italienisch.

    ( 2 ) Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (ABl. L 169, S. 1) in geänderter Fassung.

    ( 3 ) Veröffentlicht im ABl. 1985, C 136, S. 1.

    ( 4 ) Richtlinie 88/378/EWG des Rates vom 3. Mai 1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Sicherheit von Spielzeug (ABl. L 187, S. 1).

    ( 5 ) Richtlinie 93/15/EWG des Rates vom 5. April 1993 zur Harmonisierung der Bestimmungen über das Inverkehrbringen und die Kontrolle von Explosivstoffen für zivile Zwecke (ABl. L 121, S. 20).

    ( 6 ) Richtlinie 1999/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 1999 über Funkanlagen und Telekommunikationsendeinrichtungen und die gegenseitige Anerkennung ihrer Konformität (ABl. L 91, S. 10).

    ( 7 ) Richtlinie 95/16/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 1995 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Aufzüge (ABl. L 213, S. 1).

    ( 8 ) Mitteilung der Kommission im Rahmen der Durchführung der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über Medizinprodukte (Veröffentlichung der Titel und der Bezugsdaten der harmonisierten Normen im Sinne der Richtlinie) (ABl. 2011, C 242, S. 8).

    ( 9 ) Das Dokument ist auf der Website der Kommission verfügbar. Zum Zeitpunkt der vorliegenden Schlussanträge ist die Liste der im Bereich der Medizinprodukte verfügbaren Leitlinien abrufbar unter: http://ec.europa.eu/health/medical-devices/documents/guidelines/index_en.htm.

    ( 10 ) Abschnitt 1.1 Buchst. b des Dokuments. Hervorhebung nur hier, wobei im Kommissionstext die Worte „medizinischen Zweck“ unterstrichen sind.

    ( 11 ) Vgl. insoweit auch den dritten und den fünften Erwägungsgrund der Richtlinie, in denen von der Sicherheit und dem Schutz der „Patienten“, der „Anwender“ und „Dritter“ die Rede ist.

    ( 12 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 13 ) Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel (ABl. L 311, S. 67). Vgl. insbesondere den vierten und den fünften Erwägungsgrund.

    ( 14 ) Vgl. z. B. Urteile vom 15. November 2007, Kommission/Deutschland (C-319/05, Slg. 2007, I-9811, Randnrn. 62 und 71), und vom 15. Januar 2009, Hecht-Pharma (C-140/07, Slg. 2009, I-41, Randnr. 27). Vgl. auch entsprechend Urteil vom 14. Juni 2007, Medipac-Kazantzidis (C-6/05, Slg. 2007, I-4557, Randnr. 52).

    ( 15 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 16 ) Dieses Profil könnte allenfalls neutral sein bei Produkten, bei denen jedes Risiko, mag es auch noch so gering sein, fehlt. Andererseits gibt es in der Realität ein Risiko von null bekanntlich nicht.

    ( 17 ) In manchen Fällen sind Produkte als Medizinprodukte zertifiziert, obwohl sie nicht in erster Linie für ein professionelles Publikum bestimmt sind. Es handelt sich dabei um eine kommerzielle Entscheidung des Herstellers, die vom Image des Produkts abhängt und oft mit einem höheren Preis verbunden ist.

    ( 18 ) Das vorlegende Gericht, das sich dagegen ausspricht, die Konformitätspflicht auf Produkte zu beschränken, die zur medizinischen Verwendung bestimmt sind, hält es für möglich, jedenfalls die Anwendung der Richtlinie auf Produkte auszuschließen, bei denen die „Untersuchung … eines physiologischen Vorgangs“ nicht der „Zweck“ des Produkts selbst ist, sondern nur das „Mittel“ zur Erreichung eines anderen Zwecks. Diese Unterscheidung erscheint mir nicht überzeugend: Der Zweck einer Pulsmessuhr zum häuslichen Gebrauch besteht darin, den Herzschlag zu messen, genau wie bei einem EKG des Systems ActiveTwo. Sollte der Vorschlag des vorlegenden Gerichts auf eine Prüfung des weiterreichenden Zwecks abzielen, für den das Produkt bestimmt sein mag (Gewicht zu verlieren, die eigene körperliche Form zu verbessern usw.), führt uns das in den Rahmen einer subjektiven Bewertung, wie sie auch der Hersteller in Bezug auf die Verwendung seines Produkts vornimmt. Aus diesem Blickwinkel muss, wenn zu prüfen ist, für welchen Zweck eine Pulsmessuhr zum „Hausgebrauch“ letztlich bestimmt ist, auch geprüft werden, für welchen Zweck das System ActiveTwo letztlich bestimmt ist. Das Ergebnis ist, dass in beiden Fällen ein medizinischer Zweck fehlt.

    ( 19 ) Wie auch in der mündlichen Verhandlung ausgeführt wurde, bestehen keine Zweifel daran, dass z. B. eine implantierbare Prothese immer ein Medizinprodukt darstellt, sofern sie bei einer chirurgischen Operation implantiert wird. Ob die Prothese aus therapeutischen oder aus rein ästhetischen Gründen implantiert wird, ist mithin irrelevant.

    ( 20 ) Vgl. auch die Leitlinien der Kommission, MEDDEV 2.1/1, oben in Fn. 9 angeführt, Abschnitt I.1 Buchst. d.

    ( 21 ) Richtlinie 2006/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend elektrische Betriebsmittel zur Verwendung innerhalb bestimmter Spannungsgrenzen (kodifizierte Fassung) (ABl. L 374, S. 10).

    ( 22 ) Richtlinie 2004/108/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 2004 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit und zur Aufhebung der Richtlinie 89/336/EWG (ABl. L 390, S. 24).

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