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Document 62010CC0527

Schlussanträge des Generalanwalts J. Mazák vom 26. Januar 2012.
ERSTE Bank Hungary Nyrt gegen Magyar Állam u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Legfelsőbb Bíróság.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Insolvenzverfahren – Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 – Art. 5 Abs. 1 – Zeitlicher Geltungsbereich – Dingliche Klage in einem nicht der Europäischen Union angehörenden Staat – Insolvenzverfahren, das in einem anderen Mitgliedstaat gegen den Schuldner eröffnet wurde – Beitritt des ersten Staates zur Europäischen Union – Anwendbarkeit.
Rechtssache C‑527/10.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:37

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 26. Januar 2012 ( 1 )

Rechtssache C-527/10

ERSTE Bank Hungary Nyrt.

gegenRepublik Ungarn,B.C.L. Trading GmbHund

ERSTE Befektetési Zrt.

(Vorabentscheidungsersuchen des Legfelsőbb Bíróság [Ungarn])

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Insolvenzverfahren — Zeitlicher Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 — Internationale Zuständigkeit — Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen — Anwendbares Recht — Dingliche Rechte Dritter — Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens“

1. 

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Legfelsőbb Bíróság (Ungarn) betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über das Insolvenzverfahren (im Folgenden: Verordnung) ( 2 ). Im Wesentlichen geht es um die Klärung der Frage, ob Art. 5 Abs. 1 der Verordnung, der dingliche Rechte Dritter an Gegenständen des Schuldners betrifft, die sich im Gebiet eines anderen als des Mitgliedstaats befinden, in dem das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, auch für den Fall gilt, dass sich der fragliche Gegenstand des Schuldners im Gebiet eines Staates befindet, der erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Mitglied der Europäischen Union geworden ist.

Rechtlicher Rahmen

Akte über die Beitrittsbedingungen

2.

Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik zur Europäischen Union und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge ( 3 ) (im Folgenden: Akte über die Beitrittsbedingungen) lautet:

„Ab dem Tag des Beitritts sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe und der Europäischen Zentralbank für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte.“

Verordnung

3.

Zur Bestimmung des für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zuständigen Gerichts heißt es in Art. 3 Abs. 1 und 2 der Verordnung:

„(1)   Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.

(2)   Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.“

4.

Zur Bestimmung des auf das Insolvenzverfahren anwendbaren Rechts heißt es in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung:

„Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.“

5.

Zu den dinglichen Rechten Dritter bestimmt Art. 5 Abs. 1 der Verordnung:

„Das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an körperlichen oder unkörperlichen, beweglichen oder unbeweglichen Gegenständen des Schuldners – sowohl an bestimmten Gegenständen als auch an einer Mehrheit von nicht bestimmten Gegenständen mit wechselnder Zusammensetzung –, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, wird von der Eröffnung des Verfahrens nicht berührt.“

6.

Art. 16 Abs. 1 der Verordnung, der Teil ihres Kapitels II („Anerkennung der Insolvenzverfahren“) ist, lautet:

„Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Artikel 3 zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats wird in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist.

…“

7.

Art. 43 der Verordnung enthält Bestimmungen über ihren zeitlichen Geltungsbereich und sieht Folgendes vor:

„Diese Verordnung ist nur auf solche Insolvenzverfahren anzuwenden, die nach ihrem Inkrafttreten eröffnet worden sind. Für Rechtshandlungen des Schuldners vor Inkrafttreten dieser Verordnung gilt weiterhin das Recht, das für diese Rechtshandlungen anwendbar war, als sie vorgenommen wurden.“

8.

Nach ihrem Art. 47 ist die Verordnung am 31. Mai 2002 in Kraft getreten.

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

9.

Am 8. Mai 1998 gewährte die Postabank és Takarékpénztár Rt. (im Folgenden: Postabank) der B.C.L. Trading GmbH mit Sitz in Wien (im Folgenden: B.C.L. Trading) zwei unwiderrufliche Akkreditive mit aufgeschobener Zahlung über 6000000 USD und 6120000 USD.

10.

B.C.L. Trading trat ihre Forderungen aus den Kreditbriefen an verschiedene Banken ab. Postabank verweigerte sodann die Zahlung der Beträge, die aufgrund der Akkreditive von ihr gefordert wurden, mit der Begründung, dass die vorgelegten Hinterlegungsscheine gefälscht seien.

11.

Am 9. Juli 2003 stellte B.C.L. Trading Postabank für den Fall, dass diese aufgrund der Kreditbriefe Zahlungen leisten müsse, die in ihrem Eigentum stehenden Anteile an Postabank bis zu einem Betrag von 12120000 USD als Sicherheit. Diese Anteile waren Gegenstand des Sicherungsrechts.

12.

Im Anschluss daran schloss die Rechtsnachfolgerin von Postabank, die ERSTE Bank Hungary Nyrt. (im Folgenden: ERSTE Bank), mit den Banken als Abtretungsempfängerinnen einen Vergleich, wonach sie ihnen einen Betrag von 7850000 USD zu zahlen hatte.

13.

Am 5. Dezember 2003 wurde in Österreich ein Insolvenzverfahren gegen B.C.L. Trading eröffnet, das am 4. Februar 2004 bekannt gemacht wurde.

14.

Mit Teilurteil des Legfelsőbb Bíróság vom 6. Dezember 2005 wurde der ungarische Staat verpflichtet, die als Sicherheit begebenen Anteile von B.C.L. Trading an Postabank, die durch Anteile an ERSTE Bank – als Rechtsnachfolgerin von Postabank – ersetzt worden waren, zu einem Preis von 1516450200 HUF zu erwerben, da der ungarische Staat maßgeblichen Einfluss auf Postabank habe und deshalb nach ungarischem Recht verpflichtet sei, die von Kleinaktionären zum Kauf angebotenen Anteile an Postabank zu erwerben. Der ungarische Staat kam seiner Verpflichtung nach, indem er die betreffenden Anteile erwarb und den vom Legfelsőbb Bíróság festgelegten Betrag bei Gericht hinterlegte.

15.

Am 27. Januar 2006 erhob ERSTE Bank beim Fővárosi Bíróság (Gericht von Budapest) gegen den ungarischen Staat, Beklagter zu 1, B.C.L. Trading, Beklagte zu 2, und ERSTE Befektetési Zrt., Beklagte zu 3, Klage auf Feststellung des Bestehens eines Sicherungsrechts an dem bei Gericht hinterlegten Betrag.

16.

Der Fővárosi Bíróság stellte das Verfahren ein, nachdem er festgestellt hatte, dass in Österreich bereits ein Insolvenzverfahren gegen B.C.L. Trading eröffnet worden sei und dass das österreichische Insolvenzrecht die Möglichkeit ausschließe, gegen einen Wirtschaftsteilnehmer in Liquidation einen die Konkursmasse betreffenden Rechtsstreit anhängig zu machen, was einem vollständigen Klageverbot gleichkomme.

17.

Im zweiten Rechtszug bestätigte das Ítélőtábla (regionales Berufungsgericht) auf die Berufung von ERSTE Bank den im ersten Rechtszug ergangenen Beschluss unter Hinweis darauf, dass auf den vorliegenden Fall gemäß Art. 4 Abs. 1 der Verordnung österreichisches Recht anwendbar sei und somit keine Möglichkeit bestehe, einen solchen Rechtsstreit anhängig zu machen.

18.

ERSTE Bank legte Kassationsbeschwerde beim Legfelsőbb Bíróság ein. Dieser war der Auffassung, dass es für die Entscheidung über den Rechtsstreit erforderlich sei, Art. 5 Abs. 1 der Verordnung auszulegen. Daher hat er beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 5 Abs. 1 der Verordnung auf einen Zivilrechtsstreit über das Bestehen eines dinglichen (Sicherungs-)Rechts anwendbar, wenn das Land, in dem sich die Gegenstände, nämlich die als Sicherheit dienenden Wertpapiere und später der Geldbetrag, durch den sie ersetzt wurden, befanden, noch kein Mitgliedstaat war, als in einem anderen Mitgliedstaat das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, wohl aber zum Zeitpunkt der Klageerhebung?

19.

Ergänzend ist auszuführen, dass ERSTE Bank neben der genannten Klage auf Feststellung des Bestehens eines Sicherungsrechts auch eine Klage auf Eröffnung eines zweiten Insolvenzverfahrens über das in Ungarn befindliche Vermögen von B.C.L. Trading erhoben hat. Der Legfelsőbb Bíróság wies diese Klage ab, weil ERSTE Bank nicht habe dartun können, dass B.C.L. Trading eine Niederlassung in Ungarn habe, nachdem sie die Anwendbarkeit der Verordnung eingeräumt habe.

Würdigung

20.

Den Angaben im Vorlagebeschluss kann entnommen werden, dass sich die ungarischen Gerichte im ersten und im zweiten Rechtszug bei der Abweisung der Klage von ERSTE Bank auf österreichisches Recht stützten, das sie aufgrund von Art. 4 der Verordnung anwandten, wonach für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen grundsätzlich das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats gilt, in dem das Verfahren eröffnet wird (lex concursus).

21.

Das vorlegende Gericht, das über eine Kassationsbeschwerde zu entscheiden hat, zieht die Anwendung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung in Erwägung, der im Sinne ihrer Erwägungsgründe 24 und 25 eine Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz darstellt. Es handelt sich um eine Ausnahme zugunsten dinglicher Rechte an Gegenständen des Schuldners, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem der Verfahrenseröffnung befinden.

22.

Das vorlegende Gericht hat insoweit Zweifel, ob der Anwendung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung nicht entgegensteht, dass sich der Gegenstand des Schuldners (im vorliegenden Fall die Anteile von B.C.L. Trading an ERSTE Bank und der Geldbetrag, durch den sie ersetzt wurden), an dem die Dritten ein dingliches Recht haben (nämlich ein Sicherungsrecht zugunsten von ERSTE Bank), in einem anderen Mitgliedstaat (hier der Republik Ungarn) als dem der Verfahrenseröffnung (hier der Republik Österreich) befindet, wobei der Staat, in dem sich der betreffende Gegenstand befindet, erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners Mitglied der Union wurde.

23.

Diese Tatsache stellt aber nicht nur die Anwendbarkeit dieser Bestimmung der Verordnung, sondern auch die zeitliche Anwendbarkeit der Verordnung als solcher auf die vorliegende Rechtssache in Frage. Folglich ist vor der Auseinandersetzung mit der Frage der Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung deren zeitliche Wirkung in den Staaten zu klären, die nach ihrem Inkrafttreten der Union beigetreten sind.

24.

Der zeitliche Geltungsbereich der Verordnung wird in deren Art. 43 geregelt, wonach sie nur auf Insolvenzverfahren anzuwenden ist, die nach ihrem Inkrafttreten eröffnet worden sind. Dessen Datum ist leicht festzustellen, weil es in der Verordnung selbst ausdrücklich genannt ist. Nach ihrem Art. 47 handelt es sich um den 31. Mai 2002.

25.

In der vorliegenden Rechtssache wurde am 5. Dezember 2003 in Österreich ein Insolvenzverfahren gegen B.C.L. Trading eröffnet, das am 4. Februar 2004 bekannt gemacht wurde. Somit steht fest, dass das Insolvenzverfahren nach dem 31. Mai 2002 eröffnet wurde und die Verordnung folglich hierauf in vollem Umfang anwendbar ist.

26.

Auch wenn dies aus den im Vorlagebeschluss enthaltenen Angaben nicht ausdrücklich hervorgeht, könnte man annehmen, dass es sich, da B.C.L. Trading ihren Sitz in Wien hatte, bei dem in Österreich eröffneten Insolvenzverfahren aufgrund von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung um ein Hauptinsolvenzverfahren handelte, das im Sinne des 12. Erwägungsgrundes mit dem Ziel, das gesamte Vermögen des Schuldners zu erfassen, universale Geltung hat. Insoweit ist jedoch daran zu erinnern, dass der Ausdruck „das gesamte Vermögen des Schuldners“ zwangsläufig auf dasjenige Vermögen des Schuldners zu beschränken ist, das sich in all den Mitgliedstaaten befindet, in denen die Verordnung gilt ( 4 ).

27.

Das bedeutet, dass das Vermögen von B.C.L. Trading, das sich in Ungarn befand, als dieser Staat noch nicht Mitglied der Union war, auf der Grundlage der Verordnung nicht von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Österreich erfasst wurde.

28.

Hat sich daran jedoch durch den Beitritt der Republik Ungarn zur Union, also nach dem 1. Mai 2004, etwas geändert? Meines Erachtens ist dies zu bejahen, und zwar aufgrund der Art. 16 Abs. 1 und 17 Abs. 1 der Verordnung, die gemäß Art. 2 der Akte über die Beitrittsbedingungen in Ungarn anwendbar wurde. Gerade diese Vorschriften der Verordnung setzen die kontinuierliche Einbeziehung des in einem beitretenden Staat befindlichen Vermögens des Schuldners in das vom Hauptinsolvenzverfahren erfasste Vermögen voraus.

29.

Nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anzuerkennen, sobald sie im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist, vorausgesetzt, sie ist durch ein nach Art. 3 der Verordnung zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats erfolgt. Es liegt auf der Hand, dass für die Staaten, die der Union nach dem Inkrafttreten der Verordnung beigetreten sind, diese Verpflichtung gemäß Art. 2 der Akte über die Beitrittsbedingungen erst ab dem Beitritt des betreffenden Staates zur Union gelten kann.

30.

In Bezug auf die Voraussetzung, dass die Verfahrenseröffnung durch ein nach Art. 3 der Verordnung zuständiges Gericht erfolgt sein muss, kommt es nicht darauf an, ob der Staat, in dem die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens anerkannt werden soll, bereits Mitglied der Union war, als die Eröffnungsentscheidung erging.

31.

Aus Art. 16 Abs. 1 der Verordnung in Verbindung mit Art. 2 der Akte über die Beitrittsbedingungen geht hervor, dass der Mitgliedstaat, der der Union nach dem Inkrafttreten der Verordnung beigetreten ist, ab seinem Beitritt zur Union verpflichtet war, jede Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, die von einem nach Art. 3 der Verordnung zuständigen Gericht vorgenommen wurde, anzuerkennen. Ab dem Tag des Beitritts eines Staates zur Union entfaltet folglich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 der Verordnung zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung im betreffenden neuen Mitgliedstaat die Wirkungen, die das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dem Verfahren beilegt.

32.

Hierzu ist festzustellen, dass es sich gemäß dem 22. Erwägungsgrund der Verordnung um eine automatische Anerkennung der Entscheidungen über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens handelt. Wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat, war es der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der es den Mitgliedstaaten ermöglicht hat, auf ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Anerkennung und die Vollstreckbarerklärung zugunsten eines vereinfachten Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens für im Rahmen von Insolvenzverfahren ergangene Entscheidungen zu verzichten ( 5 ).

33.

Zurückkommend auf unseren Fall sei daran erinnert, dass ERSTE Bank am 27. Januar 2006, also nach dem Beitritt der Republik Ungarn zur Union, bei einem ungarischen Gericht Klage auf Feststellung erhoben hat, dass ein Sicherungsrecht an dem bei Gericht hinterlegten Betrag besteht. Aus den vorstehenden Ausführungen geht hervor, dass zu diesem Zeitpunkt das in Österreich gegen B.C.L. Trading eröffnete Insolvenzverfahren aufgrund der automatischen Anerkennung des Eröffnungsbeschlusses nach Art. 16 Abs. 1 der Verordnung, die in Ungarn mit dessen Beitritt zur Union Geltung erlangte, nicht außer Acht bleiben durfte. Folglich entfaltete die von einem österreichischen Gericht erlassene Entscheidung über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gemäß Art. 17 Abs. 1 der Verordnung in Ungarn die Wirkungen, die ihr das österreichische Recht beilegt.

34.

Da eine von ERSTE Bank erhobene Klage das Vermögen der juristischen Person betraf, über das bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Insolvenzverfahren eröffnet worden war, und da die Entscheidung des österreichischen Gerichts über die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in Ungarn anerkannt werden musste, hatten die ungarischen Gerichte die in der Verordnung enthaltenen Verfahrensvorschriften anzuwenden. Das mit der Klage von ERSTE Bank befasste Gericht musste also zunächst seine internationale Zuständigkeit prüfen und sodann anhand der Verordnung das anwendbare Recht bestimmen.

35.

Zur Prüfung der internationalen Zuständigkeit des Gerichts führt das vorlegende Gericht in seiner Vorlageentscheidung aus, es halte, um feststellen zu können, ob die ungarischen Gerichte für die Entscheidung über die Klage von ERSTE Bank zuständig seien, eine Auslegung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung für erforderlich.

36.

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung betrifft aber nicht die Zuständigkeit des Gerichts. Er regelt nicht den Zuständigkeitskonflikt, der sich aus dem Insolvenzverfahren ergeben kann. Bei dieser Vorschrift handelt es sich um eine Kollisionsregel in Form einer Ausnahme von dem in Art. 4 Abs. 1 der Verordnung verankerten allgemeinen Grundsatz, dass das Recht des Mitgliedstaats Anwendung findet, in dem das Verfahren eröffnet wird.

37.

Art. 5 Abs. 1 der Verordnung ist somit für die Prüfung der internationalen Zuständigkeit der mit der Klage von ERSTE Bank befassten ungarischen Gerichte offensichtlich nicht von Nutzen.

38.

Insoweit ist jedoch klarzustellen, dass das vorlegende Gericht die Vorlagefrage nicht im Hinblick auf die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit der ungarischen Gerichte gestellt hat. Vielmehr geht es wohl davon aus, es müsse das anwendbare Recht bestimmen, um seine eigene Zuständigkeit für die Prüfung der Klage von ERSTE Bank ermitteln zu können.

39.

Wie bereits ausgeführt, hat das mit einer solchen Klage befasste Gericht aber zunächst seine internationale Zuständigkeit zu prüfen. Hierfür muss es sich auf Art. 3 Abs. 1 der Verordnung stützen, auch wenn in dieser Vorschrift nur die Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens ausdrücklich erwähnt wird.

40.

Insoweit sei auf das Urteil Seagon verwiesen, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass er dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, auch eine internationale Zuständigkeit für Klagen zuweist, die unmittelbar aus diesem Verfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen ( 6 ).

41.

Genau darum geht es meines Erachtens bei der Klage von ERSTE Bank, da sie einen Teil des von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens betroffenen Vermögens von B.C.L. Trading betrifft. Daher geht diese Klage unmittelbar aus dem gegen B.C.L. Trading eröffneten Insolvenzverfahren hervor und steht in engem Zusammenhang damit.

42.

Im Hinblick auf diese Natur der fraglichen Klage ist die internationale Zuständigkeit anhand von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung zu bestimmen, der zur Zuständigkeit der österreichischen Gerichte führt, sofern sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen von B.C.L. Trading in Österreich befindet. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es sich zwangsläufig um das Gericht handeln muss, das auch das Insolvenzverfahren eröffnet hat ( 7 ).

43.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die ungarischen Gerichte keine internationale Zuständigkeit für die Entscheidung über die Klage von ERSTE Bank besaßen, wenn man erstens davon ausgeht, dass die von einem österreichischen Gericht zum Zeitpunkt des Beitritts der Republik Ungarn zur Union vorgenommene Eröffnung des Insolvenzverfahrens von diesem Beitritt an in Ungarn automatisch anerkannt werden musste, und zweitens, dass die Klage von ERSTE Bank unmittelbar aus diesem Insolvenzverfahren hervorging und in engem Zusammenhang damit stand. Folglich wäre die Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof für das vorlegende Gericht bei der Entscheidung über die Klage ohne jeden Nutzen, da ihm die internationale Zuständigkeit fehlt; die Vorlagefrage hat somit hypothetischen Charakter.

44.

Zwar ist es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV geschaffenen Verfahrens ausschließlich Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, das allein eine unmittelbare Kenntnis des diesem zugrunde liegenden Sachverhalts hat und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten des Einzelfalls sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof somit grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden ( 8 ).

45.

Der Gerichtshof hat jedoch auch darauf hingewiesen, dass es ihm in Ausnahmefällen obliegt, die Umstände, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird, zu untersuchen, um seine eigene Zuständigkeit festzustellen. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine Beantwortung erforderlich sind ( 9 ).

46.

Angesichts der oben angeführten Rechtsprechung sowie des hypothetischen Charakters der Vorlagefrage bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof für ihre Beantwortung nicht zuständig ist.

47.

Sollte der Gerichtshof seine Zuständigkeit für die Beantwortung der Vorlagefrage jedoch bejahen, schlage ich vor, diese negativ zu beantworten, da eine der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung, und zwar diejenige, dass sich ein Gegenstand des Schuldners zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat befand, nicht erfüllt ist. Diese Voraussetzung kann nämlich nicht als erfüllt angesehen werden, wenn sich der betreffende Gegenstand zum fraglichen Zeitpunkt in einem Staat befand, der erst später Mitglied der Union geworden ist.

Ergebnis

48.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, sich in Bezug auf die Beantwortung der Vorlagefrage des Legfelsőbb Bíróság für unzuständig zu erklären.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. L 160, S. 1.

( 3 ) ABl. 2003, L 236, S. 33.

( 4 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC (C-341/04, Slg. 2006, I-3813, Randnr. 28), vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia (C-444/07, Slg. 2010, I-417, Randnr. 22), und vom 17. November 2011, Zaza Retail (C-112/10, Slg. 2011, I-11525, Randnr. 17).

( 5 ) Urteil MG Probud Gdynia (oben in Fn. 4 angeführt, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 6 ) Urteil vom 12. Februar 2009 (C-339/07, Slg. 2009, I-767, Randnr. 21). Der Gerichtshof hat diese Auslegung kürzlich im Urteil vom 15. Dezember 2011, Rastelli Davide e C. (C-191/10, Slg. 2011, I-13209, Randnr. 20), nochmals bestätigt.

( 7 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Seagon (oben in Fn. 6 angeführt, Randnr. 27).

( 8 ) Beschluss vom 15. April 2011, Debiasi (C-613/10, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Urteil vom 7. Juli 2011, Agafiţei u. a. (C-310/10, Slg. 2011, I-5989, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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