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Document 62010CC0301

    Schlussanträge des Generalanwalts P. Mengozzi vom 26. Januar 2012.
    Europäische Kommission gegen Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland.
    Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umweltbelastungen – Behandlung von kommunalem Abwasser – Richtlinie 91/271/EWG – Art. 3, 4 und 10 – Anhang I Abschnitte A und B.
    Rechtssache C-301/10.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:36

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    PAOLO MENGOZZI

    vom 26. Januar 2012 ( 1 )

    Rechtssache C-301/10

    Europäische Kommission

    gegen

    Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

    „Richtlinie 91/271/EWG — Kanalisationen — Behandlung von kommunalem Abwasser — Begriffe ‚ordnungsgemäß arbeiten‘ und ‚optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen‘“

    1. 

    Der vorliegende Rechtsstreit beruht auf einer Klage der Kommission gegen das Vereinigte Königreich wegen angeblicher Verletzung der Richtlinie 91/271/EWG ( 2 ) über die Behandlung von kommunalem Abwasser (im Folgenden: Richtlinie). Diese Klage gehört zu einer Reihe ähnlicher Verfahren, die die Kommission gegen zahlreiche Mitgliedstaaten hinsichtlich verschiedener Teile der Richtlinie eingeleitet hat: Sie unterscheidet sich jedoch von den meisten dieser Verfahren dadurch, dass der Kern des Rechtsstreits nicht die Beurteilung tatsächlicher Umstände, sondern die Auslegung einiger Begriffe betrifft, die im Text der Regelung enthalten, jedoch nicht genau definiert sind. Wie zu sehen sein wird, hängt von der Bedeutung, die diesen Begriffen zu geben ist, die Bestimmung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie und somit die Begründetheit der Klage ab.

    I – Rechtlicher Rahmen

    2.

    Die im vorliegenden Fall relevanten Bestimmungen der Richtlinie sind insbesondere ihre Art. 3, 4 und 10 sowie ihr Anhang I.

    3.

    Art. 3 führt den allgemeinen Grundsatz ein, wonach die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass alle Gemeinden ab einer bestimmten Mindestgröße ( 3 ) mit einer Kanalisation ausgestattet werden. Für die von der vorliegenden Klage betroffenen Orte lief die in der Richtlinie vorgesehene Frist, Art. 3 nachzukommen, am 31. Dezember 2000 ab.

    4.

    Art. 4 sieht neben größtenteils denen des Art. 3 entsprechenden Modalitäten und Fristen die Verpflichtung vor, dass „in Kanalisationen eingeleitetes kommunales Abwasser vor dem Einleiten in Gewässer … einer Zweitbehandlung oder einer gleichwertigen Behandlung unterzogen wird“.

    5.

    Unbestritten ist, dass alle Orte, die Gegenstand der vorliegenden Klage sind, den Verpflichtungen sowohl des Art. 3 als auch des Art. 4 unterliegen.

    6.

    Art. 10 beschreibt die Eigenschaften, die die Behandlungsanlagen nach Art. 4 aufweisen müssen, und hat folgenden Wortlaut:

    „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass zur Erfüllung der Anforderungen der Art. 4, 5, 6 und 7 Abwasserbehandlungsanlagen so geplant, ausgeführt, betrieben und gewartet werden, dass sie unter allen normalen örtlichen Klimabedingungen ordnungsgemäß arbeiten. Bei der Planung der Anlagen sind saisonale Schwankungen der Belastung zu berücksichtigen.“

    7.

    Anhang I der Richtlinie enthält ergänzende technische Angaben. Sein Abschnitt A betrifft insbesondere Kanalisationen und sieht vor:

    „Kanalisationen sollen den Anforderungen an die Abwasserbehandlung Rechnung tragen.

    Bei Entwurf, Bau und Unterhaltung der Kanalisation sind die optimalen technischen Kenntnisse zugrunde zu legen, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen; dies betrifft insbesondere:

    Menge und Zusammensetzung der kommunalen Abwässer,

    Verhinderung von Leckagen,

    Begrenzung einer Verschmutzung der aufnehmenden Gewässer durch Regenüberläufe.“

    8.

    Dem soeben wiedergegebenen Abschnitt A ist außerdem eine Fußnote beigefügt, die folgenden Wortlaut hat:

    „Da es in der Praxis nicht möglich ist, Kanalisationen und Behandlungsanlagen so zu dimensionieren, dass in Extremsituationen, wie z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen, das gesamte Abwasser behandelt werden kann, beschließen die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung aus Regenüberläufen. Solche Maßnahmen könnten vom Mischungsverhältnis, von der Leistungsfähigkeit bezogen auf den Trockenwetterabfluss oder von einer bestimmten tragbaren jährlichen Überlaufhäufigkeit ausgehen.“

    9.

    Diese Fußnote gilt auch für Abschnitt B des Anhangs, der einige Anforderungen nennt, die die Behandlungsanlagen zwingend aufweisen müssen.

    II – Sachverhalt und vorprozessuales Verfahren

    10.

    Die Klage der Kommission betrifft vier Ortschaften: Whitburn, Beckton, Crossness und Mogden.

    11.

    Die erste (Whitburn) befindet sich im Nordwesten von England. Bei dieser Gemeinde beanstandet die Kommission lediglich einen Verstoß gegen Art. 3 der Richtlinie in Bezug auf die Kanalisation.

    12.

    Die anderen drei Ortschaften befinden sich indessen im Gebiet von London und sind Teil des Abwassersammel- und -behandlungssystems der Hauptstadt. Für Beckton und Crossness rügt die Kommission einen Verstoß gegen Art. 3 in Bezug auf die Kanalisation sowie gegen die Art. 4 und 10 in Bezug auf die Behandlungsanlagen. Für Mogden wird dagegen nur ein Verstoß gegen die Art. 4 und 10 gerügt.

    13.

    Das vorprozessuale Verfahren der vorliegenden Rechtssache war sehr lang und komplex und bedarf keiner ausführlichen Beschreibung. In seinen Hauptpunkten lässt es sich folgendermaßen zusammenfassen.

    14.

    Aufgrund einer im Jahr 2000 eingegangenen Beschwerde und nach fruchtlosen Gesprächen mit den britischen Behörden sandte die Kommission dem Vereinigten Königreich am 3. April 2003 ein erstes Mahnschreiben zur Situation von Whitburn.

    15.

    Später erhielt die Kommission Beschwerden über Abwassereinleitungen in großen Mengen in die Themse in den Jahren 2004–2005 und setzte sich deswegen mit den britischen Behörden in Verbindung; am 21. März 2005 übersandte sie ein Mahnschreiben zur Situation im Gebiet von London.

    16.

    Da die Antworten der Behörden des Vereinigten Königreichs die Kommission nicht zufriedenstellten, erließ sie am 10. April 2006 eine erste mit Gründen versehene Stellungnahme, in der für Whitburn ein Verstoß gegen Art. 3 und Anhang I der Richtlinie und für London ein Verstoß gegen die Art. 3, 4 und 10 sowie Anhang I gerügt wurde.

    17.

    Aufgrund der von den britischen Behörden daraufhin übermittelten Informationen erließ die Kommission am 1. Dezember 2008 eine ergänzende mit Gründen versehene Stellungnahme, in der u. a. der Gegenstand der Rügen hinsichtlich des Gebiets von London enger gefasst und auf die Gebiete von Beckton, Crossness und Mogden beschränkt wurde.

    18.

    In der Folgezeit fanden weitere Schriftwechsel und Diskussionen zwischen der Kommission und den Behörden des Vereinigten Königreichs statt, ohne dass dabei ein Ergebnis erzielt wurde. Da der Kommission die Antworten des Vereinigten Königreichs auf die mit Gründen versehenen Stellungnahmen nicht genügten, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

    III – Verfahren vor dem Gerichtshof und Anträge der Parteien

    19.

    Die Klageschrift ist am 16. Juni 2010 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen. Nach dem üblichen Schriftsatzwechsel haben die Parteien in der Sitzung vom 10. November 2011 mündlich verhandelt.

    20.

    Die Kommission beantragt,

    festzustellen, dass das Vereinigte Königreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den nachstehend genannten Bestimmungen der Richtlinie verstoßen hat, dass es nicht dafür Sorge getragen hat, dass Whitburn und die Londoner Bezirke Beckton und Crossness über angemessene Kanalisationen nach Art. 3 Abs. 1 und 2 sowie Anhang I Abschnitt A der Richtlinie verfügen und das Abwasser aus den Behandlungsanlagen der Londoner Bezirke Beckton, Crossness und Mogden einer sachgerechten Behandlung nach Art. 4 Abs. 1, Art. 4 Abs. 3 und Art. 10 sowie Anhang I Abschnitt B der Richtlinie unterzogen worden ist;

    dem Vereinigten Königreich die Kosten aufzuerlegen.

    21.

    Das Vereinigte Königreich beantragt,

    die Klage abzuweisen;

    der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

    IV – Zur Vertragsverletzung

    A – Einleitende Bemerkungen

    22.

    Wie ich bereits oben ausgeführt habe und wie die Parteien selbst mehrfach hervorgehoben haben, ist der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Sachverhalt mit Ausnahme einiger weniger Nebenaspekte fast vollständig unstreitig. Der Kern des Rechtsstreits ist daher im Wesentlichen rechtlicher Natur und dreht sich um die Notwendigkeit, einige in der Richtlinie enthaltene Schlüsselbegriffe zu definieren.

    23.

    Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich vor, in den vier fraglichen Orten eine unverhältnismäßig große Menge von Abwasser eingeleitet zu haben, ohne dieses Abwasser einer Vorbehandlung unterzogen zu haben. Ursache dieser Situation ist insbesondere eine – nach Auffassung der Kommission – übermäßige Nutzung sogenannter Regenwasserüberläufe (Englisch: combined sewer overflows oder CSO). Es handelt sich um Vorrichtungen, die es bei Überlastung einer Kanalisation ermöglichen, Wasser, das nicht vorbehandelt wurde, unmittelbar in die Umwelt (üblicherweise ins Meer oder in einen Fluss) abzuleiten.

    24.

    Wie ihrer Bezeichnung selbst zu entnehmen ist, sind die CSO ein wesentlicher Bestandteil sogenannter Mischsysteme, in denen eine einzige Kanalisation sowohl die Haushalts- und/oder Industrieabwässer, die von Privathaushalten und Industriebetrieben erzeugt werden, als auch das Regenwasser aus Niederschlägen aufnimmt. Wie leicht nachzuvollziehen ist, sind die bei einem Kanalisationssystem dieses Typs durch die Niederschläge bedingten Belastungsschwankungen besonders hoch: In Regenzeiten erhöht sich nämlich die Menge des Wassers, das in die Kanalisation gelangt, erheblich. Die Kanalisationen neuerer Bauweise nehmen das Regenwasser häufig separat auf, im Fall bereits bestehender Mischanlagen ist eine dementsprechende Änderung jedoch oft unmöglich, da sie umfassende Anpassungsarbeiten erfordert und übermäßig hohe Kosten mit sich bringt. Der überwiegende Teil der Kanalisationen, um die es in dieser Rechtssache geht, sind solche dieses Mischtyps.

    B – Zur Auslegung der Richtlinie

    25.

    Vor der Prüfung der einzelnen von der Kommission gerügten Gesichtspunkte der Vertragsverletzung sind einige grundsätzliche Aspekte der Richtlinie zu prüfen.

    26.

    Zunächst ist daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie, wie der Gerichtshof bereits festzustellen Gelegenheit hatte, weit ist: Es beschränkt sich nicht auf den Schutz der aquatischen Ökosysteme, sondern ganz allgemein sollen „der Mensch, die Tier- und Pflanzenwelt, der Boden, die Gewässer, die Luft, das Klima und die Landschaft“ vor negativen Einflüssen geschützt werden. Bei der Auslegung des Regelungstexts muss daher immer dieses weite Ziel der Richtlinie präsent bleiben ( 4 ).

    27.

    In einigen Bereichen sieht die Richtlinie zahlenmäßige Vorgaben für die Mitgliedstaaten vor, deren Einhaltung relativ leicht nachgeprüft werden kann: Zu denken ist beispielsweise an die Definition der Erstbehandlung in Art. 2 Nr. 7 oder an die Anforderungen, die in Tabelle I des Anhangs I für Behandlungsanlagen aufgestellt sind.

    28.

    Hinsichtlich anderer Anforderungen fehlen dagegen in den Richtlinienbestimmungen präzise zahlen- oder mengenmäßige Bezugsgrößen, so dass divergierende Auslegungen möglich sind und es letztlich Sache des Unionsrichters ist, die zutreffende Auslegung zu bestimmen. Wie leicht nachzuvollziehen ist, haben wir es vorliegend mit einer Situation dieser zweiten Fallgruppe zu tun. Natürlich kann der Gerichtshof nicht willkürlich zahlenmäßige Bezugsgrößen aufstellen, die der Gesetzgeber vermeiden wollte. Er kann jedoch Definitionen liefern, die dadurch, dass sie den Regelungstext innerhalb der Grenzen des Möglichen erläutern, vernünftige Auslegungshinweise darstellen.

    29.

    Ich muss in diesem Zusammenhang außerdem darauf hinweisen, dass in dem Bereich, der Gegenstand der vorliegenden Rechtssache ist, das Fehlen präziser Bezugspunkte besonders problematisch ist. Die Richtlinie enthält nicht nur einige allgemeine und unbestimmte Begriffe in überdies hochtechnischen Bereichen, auch die Kommission selbst hat dazu keine – eventuell auch einseitigen – Leitlinien erarbeitet, anhand deren die Auslegung der Vorschriften durch ihre Dienststellen fassbar würde. Eine entsprechende Klärung, wenn nicht schon des Gesetzgebers, so doch wenigstens der Kommission durch Ausarbeitung und Veröffentlichung geeigneter Auslegungshinweise, wäre meiner Ansicht nach höchst angebracht.

    30.

    Dies vorausgeschickt, komme ich nun zur Prüfung der wichtigsten Begriffe, die in der vorliegenden Rechtssache auszulegen sind.

    1. „Ordnungsgemäß[es] [A]rbeiten“ der Abwasserbehandlungsanlagen

    31.

    Der Begriff „ordnungsgemäß arbeiten“ findet sich in Art. 10 der Richtlinie und bezieht sich ausschließlich auf Abwasserbehandlungsanlagen, nicht auf Kanalisationen. Es handelt sich um einen Begriff, der im ersten von der Kommission im Jahr 1989 vorgelegten Vorschlag für eine Richtlinie ( 5 ) schon vorhanden war und der im endgültigen Text im Wesentlichen unverändert geblieben ist: Wie sich aus dem oben wiedergegebenen Wortlaut von Art. 10 ergibt, spricht die Richtlinie von Anlagen, die „unter allen normalen örtlichen Klimabedingungen ordnungsgemäß arbeiten“.

    32.

    Meines Erachtens ist die soeben genannte Vorschrift zweifelsfrei in dem Sinne auszulegen, dass Abwasserbehandlungsanlagen generell in der Lage sein müssen, das gesamte unter normalen Bedingungen von einem bestimmten Ort produzierte Abwasser zu behandeln. Dies hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung bestätigt. Er hat eine Vertragsverletzung in Fällen bejaht, in denen die Sammlung und/oder Behandlung 80 % oder 90 % des von einer Gemeinde produzierten Abwassers betrafen ( 6 ). Ein derartig strenger Maßstab steht im Übrigen im Einklang mit dem besonders weiten Ziel der Richtlinie, auf das ich oben hingewiesen habe. Außerdem sind nach der genannten Vorschrift bei der Planung von Abwasserbehandlungsanlagen saisonale Schwankungen zu berücksichtigen. Mit anderen Worten rechtfertigen vorhersehbare saisonale Klimaschwankungen nicht eine unterbliebene Abwasserbehandlung. Der Umstand, dass die Richtlinie von saisonalen Schwankungen spricht, bedeutet, dass es sich grundsätzlich um regelmäßige Schwankungen handelt, die sich im Allgemeinen jährlich wiederholen. Umgekehrt kann eine völlig unregelmäßige und unvorhersehbare Belastungsschwankung nach Art. 10 eine unterbliebene Behandlung rechtfertigen.

    33.

    Wie in der vorstehenden Nummer ausgeführt, ist Art. 10 jedoch nicht übertrieben streng auszulegen, indem eine unterbliebene Abwasserbehandlung nur bei Ereignissen als gerechtfertigt angesehen wird, die im Durchschnitt weniger als einmal jährlich auftreten (die man offenkundig nicht als saisonal bezeichnen kann). Art. 10 ist nämlich in Verbindung mit der sogleich von mir zu prüfenden Fn. 1 des Anhangs I zu lesen, wonach die Mitgliedstaaten eine bestimmte maximale tragbare jährliche Überlaufhäufigkeit festlegen dürfen.

    34.

    Anders gesagt darf nach Art. 10 der Richtlinie die Abwasserbehandlung nur dann unterbleiben, wenn Bedingungen vorliegen, die über das Übliche hinausgehen. Es ist nicht möglich, diese Situation präziser zu definieren, da der Gesetzgeber es bewusst vermieden hat, sie durch Zahlen genauer zu erläutern. Unbestreitbar ist indessen, dass eine Abwasserbehandlungsanlage, die so geplant ist, dass sie regelmäßig unbehandeltes Abwasser in die Umwelt entlässt, mit der Richtlinie unvereinbar ist.

    35.

    In diesem Zusammenhang ist es angesichts einer eindeutigen grundsätzlichen Verpflichtung und dem Fehlen einer genauen Quantifizierung der möglichen Ausnahmen von dieser Verpflichtung meines Erachtens völlig legitim, dass die Kommission in Wahrnehmung ihrer Aufgabe, die Einhaltung des Unionsrechts zu kontrollieren, interne Leitlinien erlässt, die die Angaben des Gesetzgebers in bestimmte nachprüfbare Zahlen übersetzen, auf deren Grundlage sie im konkreten Fall beurteilen kann, ob es angezeigt ist, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen Staat einzuleiten. Selbstverständlich kommt in jedem Fall die endgültige Beurteilung dem Gerichtshof in seiner Eigenschaft als Richter über Vertragsverletzungen zu: Dabei werden alle Umstände jedes einzelnen Falles berücksichtigt werden können und müssen.

    36.

    Das Problem der vorliegenden Rechtssache besteht, wie ich bereits angedeutet habe, darin, dass die Kommission nicht nur keine entsprechenden Hinweise mitgeteilt hat, sondern intern auch keine klar definierte Praxis auf diesem Gebiet zu haben scheint. Es liegt auf der Hand, dass dies die Aufgabe der Kommission wie auch die des Unionsrichters erschwert.

    2. „Ungewöhnlich starke Niederschläge“ und „Regenüberläufe“

    37.

    Diese beiden Begriffe werden vom Gesetzgeber der Richtlinie in Anhang I, u. a. in dessen Fn. 1, verwendet. Es ist angebracht, nachfolgend noch einmal den Text dieser Fußnote wiederzugeben (Hervorhebungen nur hier):

    „Da es in der Praxis nicht möglich ist, Kanalisationen und Behandlungsanlagen so zu dimensionieren, dass in Extremsituationen, wie z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen, das gesamte Abwasser behandelt werden kann, beschließen die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung aus Regenüberläufen.“

    38.

    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass beide Begriffe sowohl für Kanalisationen als auch für Behandlungsanlagen relevant sind. Für die einen wie für die anderen hat der Gesetzgeber hier zur Kenntnis genommen, dass die Verwirklichung vollkommener Systeme, die in der Lage sind, das gesamte Abwasser ohne jede Ausnahme in der Kanalisation aufzunehmen und zu behandeln, sich konkret als unmöglich erweisen kann. Folglich sind die Mitgliedstaaten aufgefordert, Modalitäten vorzusehen, um die Schäden zu begrenzen, die unweigerlich eintreten, wenn nicht das gesamte Abwasser gesammelt und/oder behandelt wird.

    39.

    Das Vereinigte Königreich hat in seinen Erklärungen den Standpunkt vertreten, dass es sich bei den Fällen, in denen die Richtlinie zulasse, dass das Abwasser aus der Kanalisation entweiche oder nicht behandelt werde, nicht nur um Ausnahmesituationen handele: Die Fn. 1 des Anhangs I sei ein Beispiel und hindere die Mitgliedstaaten nicht, auch auf der Grundlage einer Kosten/Nutzen-Analyse solche Situationen zu akzeptieren, selbst wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorlägen. Demgegenüber darf nach Auffassung der Kommission die Sammlung oder Behandlung des Abwassers nur ganz ausnahmsweise in außergewöhnlichen Situationen unterbleiben.

    40.

    Obwohl der auszulegende Text nicht sehr klar ist, halte ich die Auffassung der Kommission für zutreffend. Die angeführte Fn. 1, weit davon entfernt, die vom Vereinigten Königreich vorgeschlagene Auslegung zu stützen, ist in dem Sinne zu verstehen, dass die Nichtsammlung oder die Nichtbehandlung des Abwassers nie als eine „normale“, mit der Richtlinie vereinbare Situation angesehen werden kann, es sei denn, es treten außergewöhnliche Umstände ein.

    41.

    Zwar führt die Richtlinie den Fall „ungewöhnlich starker Niederschläge“ in den verschiedenen Sprachfassungen beispielhaft an („wie z. B.“) und räumt damit implizit ein, dass auch in anderen Fällen das Sammeln oder die Behandlung des Abwassers unterbleiben kann. Welche Situationen dies sind, wird jedoch nicht gesagt.

    42.

    Anders als das Vereinigte Königreich bin ich der Auffassung, dass es sich jedenfalls um Situationen handeln muss, die bei all ihren möglichen Unterschieden durch ihren Ausnahmecharakter gekennzeichnet sind. Keinesfalls zulässig ist, dass unbehandeltes Abwasser in gewöhnlichen, „normalen“ Situationen in die Umwelt abgeleitet werden kann. Dafür sprechen insbesondere die folgenden Argumente.

    43.

    Erstens ist die Fn. 1 im Licht des allgemeinen Zieles der Richtlinie zu sehen, das darin besteht, ein hohes Umweltschutzniveau zu gewährleisten. Es wäre absurd, zuzulassen, dass unbehandeltes Abwasser regelmäßig in die Umwelt abgeleitet werden kann, auch wenn keine außergewöhnlichen Umstände vorliegen, nur weil eine Kanalisation oder eine Behandlungsanlage mit beschränkter Kapazität geplant worden ist.

    44.

    Zweitens bedeutet die Tatsache, dass ungewöhnlich starke Niederschläge nur einer der Fälle sind, in denen Ausnahmen vom Grundsatz der vollständigen Sammlung/Behandlung zulässig sind, nicht, dass in den anderen Fällen, in denen diese zulässig sind, nicht gleichwohl der Ausnahmecharakter weiter vorliegen muss. Im Gegenteil, Kontext und Ziel der Richtlinie verlangen diesen Ausnahmecharakter.

    45.

    Drittens heißt es in der auszulegenden Stelle weiter, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Begrenzung der Verschmutzung aus „Regenüberläufen“ beschließen müssen. Soweit das Vereinigte Königreich geltend macht, dass diese Formulierung als Bezugnahme auf einen Überlauftyp zu verstehen sei, zeigt die Lektüre der Richtlinie, dass dies nicht dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Obwohl dieser letzte Satz in einigen Sprachfassungen neutraler formuliert ist und generell von Regenüberläufen die Rede ist ( 7 ), ist dies bei den meisten anderen Sprachfassungen nicht der Fall, in denen der Ausnahmecharakter der Ursache der Überläufe hervorgehoben wird ( 8 ). Steht somit fest, dass die Verpflichtung, Umweltschäden aus Überläufen zu begrenzen, allein solche betrifft, die auf außergewöhnliche Ereignisse zurückgehen, würde die Richtlinie, wenn es den Staaten generell erlaubt wäre, auch unter „normalen“ Umständen unbehandeltes Wasser einzuleiten, diesen die Verpflichtung auferlegen, Schäden aus Überläufen, die auf außergewöhnliche Umstände zurückgehen, zu begrenzen, nicht jedoch Schäden aus Überläufen, denen eine entsprechende Rechtfertigung fehlt. Dies wäre eine absurde und dem Ziel der Richtlinie sicher zuwiderlaufende Situation. Es ist daher offenkundig, dass der Fn. 1 der Gedanke zugrunde liegt, dass Abwasser nur unter außergewöhnlichen Umständen ohne vorherige Sammlung und Behandlung in die Umwelt abgeleitet werden kann.

    46.

    Ich weise ferner darauf hin, dass nach meiner Kenntnis zumindest eine Sprachfassung existiert, in der der von mir soeben entwickelte Gedankengang eine weitere Bestätigung findet ( 9 ): Ich beziehe mich auf die deutsche Fassung, wonach die Unmöglichkeit, das Abwasser zu sammeln und zu behandeln, bei „Extremsituationen, wie z. B. bei ungewöhnlich starken Niederschlägen“ gegeben ist ( 10 ). Die Beifügung des Adjektivs „extrem“ bestätigt, dass die nach Fn. 1 zulässigen Fälle bei all ihren möglichen Unterschieden jedenfalls außergewöhnlich sein müssen.

    47.

    Nach Klarstellung dieses Punktes bleiben jedoch zwei Fragen. Zum einen, wann kann angenommen werden, dass „ungewöhnlich starke Niederschläge“ vorliegen? Zum anderen, welche anderen außergewöhnlichen Situationen – die sich von meteorologischen Ereignissen unterscheiden – können es rechtfertigen, dass eine Sammlung oder Behandlung des Abwassers unterbleibt?

    48.

    Zur ersten Frage kann ich hier nur, wie ich es bereits oben getan habe, die offenkundige Feststellung wiederholen, dass der Gerichtshof keine Zahlengrößen festsetzen kann, deren Festlegung der Gesetzgeber für nicht zweckmäßig hielt. Unter demselben Blickwinkel kann es sehr sinnvoll sein, dass die Kommission Leitlinien mit Größenangaben erarbeitet, auf die sie ihre eigene Kontrolltätigkeit stützen kann: Die Entscheidung über die Frage der Angemessenheit solcher Leitlinien verbleibt natürlich schlussendlich beim Gerichtshof. In unserem Fall hat die Kommission jedoch offenbar keine ganz klaren Leitlinien festgelegt. Mehrfach – sowohl im vorprozessualen Stadium als auch im Verfahren vor dem Gerichtshof – hat die Kommission jedenfalls ausgeführt, dass die Überschreitung von 20 Einleitungen pro Jahr generell ein Alarmsignal in Hinblick auf eine mögliche Vertragsverletzung sei. Eine solche Zahl kann trotz all ihrer Grenzen und unbeschadet der Verpflichtung, jeden Fall einzeln zu beurteilen, angemessen und akzeptabel sein, wenn sie das Ergebnis von Überlegungen ist, die sich auf einen Vergleich der in verschiedenen Mitgliedstaaten bestehenden Praktiken gründen.

    49.

    Das Problem besteht jedoch darin, dass sich die Kommission offenbar selbst nicht sicher ist, welche Rolle die Grenze von 20 Einleitungen spielen soll. Sie hat nicht nur zu keinem Zeitpunkt einen offiziellen Hinweis in diesem Sinne gegeben, sondern schien auch im vorliegenden Fall bis zuletzt zu schwanken, ob diese Grenze, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, als grundsätzlich niemals zu überschreitende Schwelle oder – schwächer – nur als Indiz ohne unmittelbare Wirkung anzusehen sei.

    50.

    Folglich kann einerseits dem Vereinigten Königreich nicht vorgeworfen werden, seine Ausführungen weitgehend auf die Regel der 20 Einleitungen konzentriert zu haben, die einzige Regel, die die Kommission im Vorverfahren und insbesondere in ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme einigermaßen klar angegeben hat; andererseits ist der Gerichtshof jedoch gehalten, die angebliche Vertragsverletzung unmittelbar anhand der Richtlinie und ihrer allgemeinen Angaben zu beurteilen. Der Standpunkt der Kommission ist zu vage, um annehmen zu können, sie stütze ihre Klage auf eine genau festgelegte Praxis, die auf der Regel von 20 Einleitungen beruhe, wobei diese Regel selbst in diesem Fall vom Gerichtshof geprüft würde.

    51.

    In jedem Fall muss meines Erachtens eine präzisere Auslegung des Begriffs „ungewöhnlich starke Niederschläge“ notwendigerweise über den Begriff erfolgen, den ich sogleich prüfen werde, nämlich „optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ (oder, in Verwendung des englischen Ausdrucks, „best technical knowledge not entailing excessive costs“, nach seinen Anfangsbuchstaben abgekürzt: BTKNEEC). Es handelt sich natürlich um einen völlig anderen Begriff, der sich nicht auf meteorologische Ereignisse bezieht, sondern auf menschliche Errungenschaften. Ich meine jedoch, dass konkret die einzig vernünftige Art, die Richtlinienverpflichtungen auszulegen, so aussieht, dass die Umstände eines jeden Falles umfassend geprüft werden, wobei die Prüfung der Außergewöhnlichkeit des Ereignisses und die Kosten, die erforderlich wären, um ausreichende Kanalisationen und Behandlungsanlagen einzurichten, die auch in einem solchen Fall Überläufe verhinderten, in einer einzigen Gesamtbewertung zu verbinden sind. Anders gesagt bin ich der Auffassung, dass der Begriff „ungewöhnlich starke Niederschläge“ nicht statisch ist, sondern nach Maßgabe der übrigen Parameter auch variieren kann.

    52.

    Dabei ist meines Erachtens der Begriff BTKNEEC, auch wenn er in Anhang I ausdrücklich nur in Bezug auf Kanalisationen genannt wird, auch bei Behandlungsanlagen zu berücksichtigen. Dieser Begriff scheint nämlich am besten geeignet zu sein, um die Verfolgung der ehrgeizigen Ziele der Richtlinie zu gewährleisten, ohne dabei den notwendigen Bezug zur Realität hinsichtlich der wirtschaftlichen und technischen Möglichkeit zu verlieren.

    53.

    Was die zweite Frage schließlich betrifft, welche anderen außergewöhnlichen Situationen, die sich von meteorologischen Ereignissen unterscheiden, es geben kann, so ist auch hier hervorzuheben, dass es zweckmäßig ist, die Grenzen hinreichend weit zu ziehen, um nicht nur außergewöhnliche, sondern auch unvorhersehbare Situationen zu erfassen. Als Beispiel sei nur an Fälle eines elektrischen Blackouts in großem Stil gedacht, der die Behandlungsanlagen außer Betrieb setzen würde, oder an Naturkatastrophen, die, auch wenn sie nicht auf Niederschläge zurückgehen (beispielsweise Erdbeben), die Behandlungsanlagen oder Kanalisationen gleichwohl beschädigen oder vorübergehend außer Betrieb setzen könnten. In dergleichen Fällen ist nicht zweifelhaft, dass keine Verletzung der Richtlinie vorliegt. Ebenso ist jedoch klar, dass die Mitgliedstaaten auch in solchen Fällen verpflichtet wären, Maßnahmen zu erlassen, um die Verschmutzung im Sinne von Fn. 1 des Anhangs I zu begrenzen, auch wenn das ohne Behandlung eingeleitete Wasser nicht unbedingt aus Niederschlägen stammt. Jede andere Auslegung liefe der Verpflichtung zuwider, die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu gewährleisten und deren Ziele zu beachten.

    3. „Optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen“ (BTKNEEC)

    54.

    Die Definition des Begriffs BTKNEEC ist eine der Fragen in der vorliegenden Rechtssache, über die die Parteien – sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung – länger und intensiver diskutiert haben. Es handelt sich um einen Begriff in Anhang I Abschnitt A: Er bezieht sich daher formal betrachtet nur auf Kanalisationen und nicht auf Behandlungsanlagen. Wie ich jedoch in den vorangegangenen Nummern zu erklären versucht habe, kann der Begriff BTKNEEC meines Erachtens als einer der Schlüsselbegriffe der Richtlinie angesehen werden, der für die Auslegung aller ihrer Bestimmungen einschließlich derer, die sich auf Behandlungsanlagen beziehen, von Nutzen ist. Er erlaubt es nämlich, die Notwendigkeit der Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie in angemessener Weise mit dem Verbot, den Staaten Verpflichtungen aufzuerlegen, deren Erfüllung unmöglich ist, in Einklang zu bringen. Obschon anders formuliert, liegt dem Begriff „ordnungsgemäß[es] [A]rbeiten“ der Behandlungsanlagen in Art. 10 derselbe Gedanke zugrunde und kann selbst als Ausdruck der BTKNEEC-Klausel verstanden werden.

    55.

    Gemäß der Auslegung des Vereinigten Königreichs ist der Begriff BTKNEEC die Hauptstütze einer Regel, die den Mitgliedstaaten grundsätzlich ein weites Ermessen bei der im Wesentlichen auf einer Kosten/Nutzen-Analyse beruhenden Entscheidung einräumt, welcher Umfang der Abwassersammlung und -behandlung als adäquat anzusehen ist. Im Rahmen einer solchen Analyse hält es das Vereinigte Königreich insbesondere für wesentlich, stets auf Auswirkungen von Einleitungen unbehandelten Abwassers auf die aufnehmenden Gewässer abzustellen: Mit anderen Worten würden die Grundsätze der Richtlinie eingehalten, und es läge kein Verstoß vor, wenn das gesammelte und/oder behandelte Abwasser zwar nur einen Teil des produzierten Abwassers ausmachte, die Einleitungen aber nicht zu nennenswerten Umweltschäden führten.

    56.

    Gemäß der Auslegung der Kommission folgt aus dem Begriff BTKNEEC in der Praxis indessen lediglich, dass die Mitgliedstaaten zwischen den möglichen Systemen wählen können, um ein Ziel zu erreichen, das – von Ausnahmefällen abgesehen – unveränderlich ist: zu gewährleisten, dass das produzierte Abwasser zu 100 % gesammelt und behandelt wird. Mit anderen Worten bedeutet die Vorschrift nach Auffassung der Kommission einfach, dass sich die Staaten unter den technisch möglichen Alternativen zur Erreichung des geforderten Ergebnisses für die kostengünstigste entscheiden können.

    57.

    Mir scheint, dass bei genauer Betrachtung sowohl die Auslegung des Vereinigten Königreichs als auch die der Kommission zurückzuweisen sind. Beide sind trotz ihrer Unterschiede durch eine extreme Lesart der auszulegenden Norm gekennzeichnet. Einerseits würde man, folgte man der vom Vereinigten Königreich befürworteten Auffassung, den Mitgliedstaaten ein so großes Ermessen einräumen, dass der Richtlinie insgesamt ihre praktische Wirksamkeit genommen oder fast genommen würde, insbesondere in den Teilen, in denen sie die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Gemeinden ab einer bestimmten Mindestgröße mit Kanalisationen und Behandlungsanlagen auszustatten. Andererseits könnte die Auslegung der Kommission, obwohl sie dem Geist der Regelung, wie sie der Gesetzgeber verstanden haben wollte, wahrscheinlich näher kommt, zwar nicht der Richtlinie insgesamt, aber sicher der BTKNEEC-Klausel ( 11 ) die praktische Wirksamkeit nehmen. Es ist nämlich nicht einsichtig, dass der Gesetzgeber mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass optimale technische Kenntnisse, die keine unverhältnismäßig hohen Kosten verursachen, zugrunde zu legen sind, den Mitgliedstaaten lediglich die Freiheit eingeräumt haben soll, unter den möglichen technischen Systemen zur Erreichung eines einheitlichen Endergebnisses das kostengünstigste System auszuwählen. Klar ist dagegen, dass der Gesetzgeber mit dieser Klausel die möglichen „überschießenden“ Wirkungen einer zu strikten Anwendung der Richtlinie mildern wollte und schon die Möglichkeit vorausgesehen hat, dass solche negativen Auswirkungen auf die Umwelt in bestimmten Fällen hinzunehmen sind.

    58.

    Meines Erachtens liegt die zutreffende Auslegung der BTKNEEC-Klausel in der Mitte zwischen den beiden soeben von mir dargestellten extremen Positionen.

    59.

    Die BTKNEEC-Klausel ist vor allem als eine Art „Sicherheitsventil“ anzusehen, durch das vermieden werden kann, dass den Mitgliedstaaten unrealistische Verpflichtungen oder völlig außer Verhältnis stehende Durchführungskosten auferlegt werden. Insoweit müssen jedoch einige Punkte klargestellt werden.

    60.

    Erstens stellt die Klausel eine Ausnahmeregelung dar, die nicht dazu verwendet werden kann, den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs selbst bestätigten Grundsatz, dass die Sammlung und Behandlung generell sämtliche Abwässer erfassen muss, zu vernachlässigen. Dieser Ausnahmecharakter wird vor allem im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs deutlich, wonach gerade im Zusammenhang mit der Richtlinie 91/271 die Kosten der zur Anpassung erforderlichen Arbeiten an sich irrelevant sind ( 12 ).

    61.

    Zweitens kann die Anwendung dieser Klausel – ganz offensichtlich – nicht abstrakt an irgendwelche vorher festgelegten Umstände geknüpft werden. Es kann also beispielsweise nicht von vorneherein ein Kostenniveau festgesetzt werden, dessen Überschreitung die Verpflichtung zur Sammlung des gesamten Abwassers automatisch entfallen lassen würde. Die BTKNEEC-Klausel erfordert vielmehr immer und auf jeden Fall eine umfassende Beurteilung sämtlicher Umstände jedes Einzelfalls, denen sie unbedingt anzupassen ist.

    62.

    Drittens können in diesem Zusammenhang, wie vom Vereinigten Königreich in seinen schriftlichen Erklärungen und in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich befürwortet, auch die Auswirkungen der Einleitungen des unbehandelten Abwassers auf die Umwelt berücksichtigt werden. Ob die Kosten solcher Arbeiten unverhältnismäßig sind und die Arbeiten somit im konkreten Fall nicht durchgeführt werden müssen, kann mit größerer Sicherheit beurteilt werden, wenn auch die Umweltauswirkungen dieser Nichtdurchführung mit einbezogen werden. Es ist klar, dass die Nichtdurchführung solcher Arbeiten und daher die Inkaufnahme der Einleitungen unbehandelten Abwassers in die Umwelt umso eher hinnehmbar sind, je geringer die potenziellen Schäden sind, die das unbehandelte Abwasser verursachen kann.

    63.

    Der Umstand, dass das Kriterium der schädlichen Umweltauswirkungen des unbehandelten Abwassers berücksichtigt werden kann, bedeutet jedoch nicht, dass es, wie das Vereinigte Königreich geltend macht, das einzige Kriterium wäre, anhand dessen die Richtlinienkonformität zu beurteilen ist. Wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung zu Recht hervorgehoben hat, nennt die Richtlinie keinen tolerierbaren Grad der Verschmutzung: Sie enthält die grundlegende Verpflichtung, die Gemeinden mit Kanalisationen und Behandlungsanlagen auszustatten. In den von mir oben ( 13 ) angeführten Urteilen aus jüngerer Zeit hat der Gerichtshof im Anschluss an die Feststellung, dass einige Gemeinden nicht zu 100 % mit Kanalisationen ausgestattet seien, nicht untersucht, ob sich dies schädlich auf die Umwelt auswirke, sondern ohne Weiteres eine Vertragsverletzung der betreffenden Mitgliedstaaten bejaht.

    64.

    Dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, wonach bei Ablauf der von der Richtlinie festgelegten Fristen für die Anlage von Kanalisationen und die Errichtung von Behandlungsanlagen allein von Bedeutung gewesen sei, ob die Gemeinden über solche Einrichtungen verfügten, unabhängig von den Leistungen, die diese erbringen könnten, kann daher nicht gefolgt werden. In letzter Konsequenz würde dies bedeuten, dass es, um der Richtlinie zu entsprechen, ausreichend wäre, wenn z. B. eine Anlage errichtet worden wäre, in der lediglich 50 % des Abwassers einer Stadt behandelt werden könnten, und eine Verbesserung der Leistungen, um eine 100%ige Behandlung zu erreichen, nicht unter die gesetzliche Verpflichtung fiele, der Richtlinie innerhalb der vorgesehenen Fristen nachzukommen, sondern nur eine Verbesserung der Effizienz des Systems wäre, für die keine Frist gälte und die grundsätzlich nicht kontrolliert werden könnte. Es ist offensichtlich, dass eine solche Auslegung weder dem Willen des Gesetzgebers noch der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht.

    65.

    Um die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu wahren, ist zudem unabdingbar, dass der betreffende Mitgliedstaat, wenn es unmöglich oder besonders schwierig ist, 100 % des Abwassers zu sammeln und zu behandeln – ausgenommen natürlich im Fall außergewöhnlicher Ereignisse, für die die Kommission die Möglichkeit einer Nichtbehandlung zulässt –, den Nachweis der Anwendbarkeit der BTKNEEC-Klausel erbringt. In solchen Situationen besteht nämlich zwischen dem Mitgliedstaat und der Kommission ein deutliches Informationsgefälle: Die Kommission verfügt über kein eigenständiges Instrumentarium, um die konkrete Situation zu beurteilen, und muss sich auf die Informationen stützen, die ihr insbesondere von dem betreffenden Mitgliedstaat übermittelt werden. Die entspricht im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach die Beweislast in Vertragsverletzungsverfahren zwar bei der Kommission liegt, der Mitgliedstaat jedoch, nachdem diese die Tatsachen grundsätzlich dargetan hat, auf die sie ihre Klage stützt, auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden umfangreicheren Informationen im Einzelnen beweisen muss, dass die Vertragsverletzung tatsächlich nicht vorliegt ( 14 ).

    4. Zusammenfassung

    66.

    Zieht man ein Resümee der bisherigen Ausführungen zum allgemeinen Umfang der Verpflichtungen aus der Richtlinie, so ist festzustellen, dass diese den Mitgliedstaaten generell vorschreibt, die Gemeinden mit Kanalisationen und Behandlungsanlagen auszustatten, die – von außergewöhnlichen Umständen abgesehen – in der Lage sind, das gesamte produzierte Abwasser zu behandeln. Die Verpflichtung der vollständigen Sammlung und Behandlung erstreckt sich nicht auf die Fälle, in denen dies technisch unmöglich ist oder – auch unter Berücksichtigung der begrenzten schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt – völlig unverhältnismäßige Kosten anfielen.

    67.

    Konkret schlage ich sowohl für Kanalisationen als auch für Behandlungsanlagen eine Prüfung in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob die Einleitungen als außergewöhnliches Ereignis oder besser als ein nicht „normaler“ Vorgang im Rahmen des Betriebs der Kanalisation oder der Behandlungsanlage angesehen werden können. Wenn dieser erste Schritt ergeben hat, dass die Einleitungen von unbehandeltem Abwasser in die Umwelt nicht außergewöhnlicher Natur waren, ist in einem zweiten Schritt die Prüfung anhand der BTKNEEC-Klausel vorzunehmen. In dieser Phase liegt die Beweislast, die in der ersten Phase in der üblichen Weise zwischen der Kommission und dem Mitgliedstaat verteilt ist, allein bei Letzterem. Der Staat hat nachzuweisen, dass ein höherer Grad der Sammlung oder Behandlung des Abwassers technisch nicht möglich ist oder zu Kosten führt, die angesichts des Nutzens für die Umwelt völlig unverhältnismäßig wären.

    68.

    Nach dieser einleitenden Klarstellung der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten können nun die Beschwerdepunkte geprüft werden, die die Kommission dem Vereinigten Königreich im Einzelnen zur Last legt.

    C – Die Situation von Whitburn

    1. Sachverhalt und Standpunkte der Parteien

    69.

    Die hinsichtlich Whitburn von der Kommission angeführte Vertragsverletzung bezieht sich, wie ausgeführt, nur auf den Art. 3 der Richtlinie, der Kanalisationen betrifft. Dass Behandlungsanlagen fehlen oder nicht ausreichen, wird dagegen nicht gerügt.

    70.

    Whitburn gehört zum Ballungsraum Sunderland, der von einer einzigen Hauptkanalisation des Mischtyps bedient wird, in die sowohl städtische Abwässer als auch Niederschläge einfließen. Unter normalen Bedingungen wird das Wasser aus der Kanalisation von Whitburn durch einige Pumpstationen (Seaburn, Roker und dann St. Peters) zur Behandlungsanlage von Hendon geleitet, wo das Wasser aus dem gesamten Ballungsgebiet geklärt wird.

    71.

    Sobald die Menge des in der Kanalisation von Whitburn gesammelten Abwassers das 4,5-Fache der Aufnahme in Trockenperioden ( 15 ) übersteigt, wird der Wasserüberschuss in einen Sammeltunnel abgeleitet, der eine Aufnahmekapazität von 7000 m3 hat. Wenn sich die in der Kanalisation vorhandene Wassermenge verringert, wird das im Tunnel gespeicherte Wasser wieder in die Kanalisation gepumpt und zur anschließenden Klärung in die Anlage von Hendon geleitet. Ist jedoch die Aufnahmekapazität des Tunnels überschritten, wird das überschüssige Wasser direkt ins Meer geleitet und keiner anderen Behandlung als einer mechanischen Filterung durch ein Netz mit Öffnungen von 6 mm unterzogen. Diese Einleitung erfolgt über eine Unterwasserleitung von 1,2 km Länge.

    72.

    In den Jahren vor der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist (1. Februar 2009) beliefen sich die Einleitungen unbehandelten Abwassers in Whitburn auf die in der nachfolgenden Tabelle angegebene Zahl. Die Angaben stammen von der Kommission, sind jedoch vom Vereinigten Königreich nicht bestritten worden.

    Jahr

    Zahl der Einleitungen

    Einleitungsvolumen (m3)

    2005

    27 (1)

    542 070

    2006

    25

    248 130

    2007

    28

    478 620

    2008

    47

    732 150

    73.

    Nach Ansicht der Kommission lässt sich diesen Angaben eine übermäßig große Menge an Einleitungen unbehandelten Abwassers entnehmen, die mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus der Richtlinie unvereinbar sei.

    74.

    Die Kommission stützt sich zur Untermauerung ihres Standpunkts weitgehend auf einen Bericht, den ein vom Umweltministerium des Vereinigten Königreichs ernannter unabhängiger Inspektor (im Folgenden: Inspektor) am 25. Februar 2002 im Zusammenhang mit dem Antrag einer Gesellschaft, die das System von Whitburn betreibt, auf Änderungen ihrer Betriebsgenehmigung für dieses System vorlegte. Dieser Bericht enthält einige sehr kritische Feststellungen zur Kanalisation von Whitburn, die als unzureichend angesehen wurde, um die Ableitungen unbehandelten Wassers in die Umwelt adäquat zu begrenzen ( 16 ). Nach Auffassung des Inspektors hatte die unzureichende Leistung der Kanalisation von Whitburn häufige Einleitungen unbehandelten Wassers auch in Zeiten mit mäßigen oder keinen Niederschlägen zur Folge. In den auf den Bericht des Inspektors folgenden Jahren wurde die Kanalisation von Whitburn physisch nicht verändert. Geändert wurden lediglich die Modalitäten des Betriebs des Tunnels zur Speicherung des Wassers bei Überlastung: Dank dieser neuen Modalitäten wurden die Ableitungen seltener, die Mengen des in die Umwelt abgeleiteten unbehandelten Wassers blieben zwischen 2001 und 2008 jedoch im Wesentlichen gleich und bewegten sich zwischen einem Maximum von 732150 m3 (2008) und einem Minimum von 248130 m3 (2006).

    75.

    Diese Mengen unbehandelten Wassers entsprechen, wie die Kommission anmerkt, einer Gemeinde mit einer Einwohnerzahl über 3700 (hinsichtlich der Mengen des Jahres 2006) bzw. über 11000 (hinsichtlich der Mengen des Jahres 2008), jedenfalls mit mehr als 2000 Einwohnerwerten, von denen ab die Richtlinie die Verpflichtung vorsieht, eine Gemeinde mit Kanalisationen und Behandlungsanlagen auszustatten. Mit anderen Worten stellt es sich so dar, als existierte eine ganze Gemeinde dieser Größenordnung ohne irgendeine Form der Sammlung und Behandlung des Abwassers.

    76.

    Die Kommission hält den Verstoß gegen die Richtlinie für umso schwerer, als die Unterwasserleitung in der Nähe einiger Strände verlaufe, an denen oft Abfälle angezeigt würden, die mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Kanalisation von Whitburn stammten.

    77.

    Das Vereinigte Königreich bestreitet den größten Teil des von der Kommission dargestellten Sachverhalts nicht, ausgenommen ihre Behauptungen zu den an den Stränden aufgefundenen Abfällen. Diese Abfälle könnten nicht aus dem System von Whitburn stammen, da die für die Einleitung verwendete Unterwasserleitung mit Filternetzen ausgestattet sei: Die Abfälle, die im Übrigen in den letzten Jahren weniger geworden seien, müssten daher einen anderen Ursprung haben. Im Übrigen ist der Sachverhalt in Bezug auf Whitburn jedoch unstreitig, und die Verteidigung des Vereinigten Königreichs stützt sich hauptsächlich auf die Auslegung der Richtlinie.

    78.

    Insbesondere hebt das Vereinigte Königreich hervor, dass die Qualität der Gewässer, in die die Einleitungen erfolgt seien, durch diese Einleitungen nicht beeinträchtigt worden sei, wie auch die Tatsache belege, dass die den örtlichen Stränden vorgelagerten Gewässer stets die im Unionsrecht vorgesehenen Grenzwerte für Badegewässer eingehalten hätten ( 17 ).

    79.

    Das Vereinigte Königreich hat sich sodann auf eine Ende 2010 erstellte Studie bezogen, in der die Lage in Whitburn unter Berücksichtigung der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme der Kommission geprüft wurde. Diese Studie bewertete insbesondere die möglichen Folgen einer Verringerung der Anzahl der Einleitungen unter die Schwelle von 20 pro Jahr, wie dies die Kommission offenbar vor allem in der ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme verlangt hatte. In dieser Studie wurde festgestellt, dass die einzig mögliche Lösung, um unter 20 Einleitungen pro Jahr zu bleiben, die Vergrößerung des Sammeltunnels sei, dessen Kapazität auf 10800 m3 erhöht werden müsse. Eine solche Änderung würde indessen nur zu einer minimalen Verbesserung der Qualität der aufnehmenden Gewässer um etwa 0,31 % führen, für deren Berechnung die normalerweise für die Beurteilung der Badegewässer verwendeten Parameter herangezogen worden seien. Aus diesen Gründen wurde in der Studie keine Änderung der Kanalisation von Whitburn empfohlen.

    2. Beurteilung

    80.

    Um festzustellen, ob das Vereinigte Königreich in Bezug auf die Situation in Whitburn eine Vertragsverletzung begangen hat, werde ich eine Prüfung in zwei Schritten entsprechend dem oben vorgeschlagenen Modell vornehmen.

    81.

    Was erstens die nicht außergewöhnliche Natur der Einleitungen von unbehandeltem Wasser betrifft, hat die Kommission den entsprechenden Nachweis meines Erachtens hinreichend erbracht. Wie oben dargestellt worden ist und im Übrigen vom Vereinigten Königreich nicht bestritten wird, wird aus der Kanalisation von Whitburn trotz einer Verbesserung der Situation in den letzten Jahren weiterhin regelmäßig unbehandeltes Abwasser abgeleitet. Wie ich bereits festgestellt habe, ist es nicht möglich, die Zahl von Einleitungen anzugeben, die die unveränderliche Grenze zwischen außergewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Ereignissen bildet: Die Kommission bezieht sich, wie dargelegt wurde, häufig auf eine Zahl von 20 Einleitungen; nach einem von der Regierung des Vereinigten Königreichs zur Situation von London in Auftrag gegebenen Bericht ( 18 ) wurde sogar eine noch niedrigere Grenze in Höhe von 12 Einleitungen während eines Jahres für angemessen gehalten. Jedenfalls war unabhängig vom angewandten Modell die Situation von Whitburn – bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist – zweifellos durch Einleitungen gekennzeichnet, deren Zahl und Intensität zeigen, dass sie regelmäßig und gewiss nicht nur gelegentlich vorgenommen wurden. Wie der in Nr. 72 wiedergegebenen Tabelle zu entnehmen ist, gab es zwischen 2006 und 2008 jedes Jahr zwischen 25 und 47 Einleitungen. Eine solche Zahl weist sicher nicht auf ein außergewöhnliches Ereignis hin, und im Übrigen hat nicht einmal das Vereinigte Königreich die Außergewöhnlichkeit der Einleitungen in Whitburn behauptet.

    82.

    Es bleibt jedoch zu prüfen, ob das Vereinigte Königreich angesichts des von der Kommission erbrachten Nachweises aufzeigen konnte, dass im vorliegenden Fall die BTKNEEC-Klausel anzuwenden ist: mit anderen Worten, ob die Verringerung der Zahl der Einleitungen technologisch unmögliche Lösungen erfordert oder im Verhältnis zum Nutzen völlig unangemessene Kosten verursacht.

    83.

    Das insoweit zentrale Dokument ist meiner Meinung nach die 2010 erstellte Studie, auf die ich oben in Nr. 79 hingewiesen habe. Aus dieser ergibt sich zunächst eindeutig, dass eine erhebliche Verringerung der Einleitungen unbehandelten Abwassers in Whitburn vom technologischen Standpunkt aus auf keine besonderen Hindernisse trifft: Sie würde nämlich im Wesentlichen eine Erweiterung des bestehenden Auffangtunnels erforderlich machen, und das Vereinigte Königreich hat nirgendwo behauptet, dass eine solche Lösung nicht praktikabel sei.

    84.

    Gleichzeitig jedoch wurde in der Studie berechnet, wie sehr sich die Qualität der aufnehmenden Gewässer durch eine Erweiterung des Tunnels und die daraus resultierende Verringerung der Einleitungen konkret verbessern würde. Bei den Überlegungen wurden als Bezugsgröße eine Obergrenze von 20 Einleitungen zugrunde gelegt und damit die Angaben der Kommission im vorprozessualen Stadium übernommen. Dabei wurde in der Studie eine Verbesserung der Gewässerqualität um nur 0,3 Prozentpunkte angenommen, was zu dem Schluss führte, dass das Kosten/Nutzen-Verhältnis zusätzliche Maßnahmen in Whitburn nicht rechtfertige.

    85.

    In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Qualität der Whitburn vorgelagerten Meeresgewässer nach dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, dem insoweit von der Kommission nicht widersprochen worden ist, eher hoch ist und stets den von der Union für Badegewässer festgelegten Normen genügt. Auch wenn die Eignung der aufnehmenden Gewässer als Badegewässer für die Beurteilung der Einhaltung der Richtlinie 91/271 nicht unmittelbar relevant ist, kann dies, wie ich bereits früher erwähnt habe, im Rahmen einer umfassenden Beurteilung im Hinblick auf eine mögliche Anwendung der BTKNEEC-Klausel zu berücksichtigen sein. Es scheint daher vernünftig, dass die nationalen Behörden in einer solchen Situation beschlossen haben, keine kostspieligen Änderungsarbeiten durchzuführen, die lediglich zu einer äußerst geringfügigen Verbesserung der Umweltsituation führen würden.

    86.

    Im Licht dieser Erwägungen stelle ich fest, dass die Argumente des Vereinigten Königreichs durchgreifen und es der Kommission im vorliegenden Fall nicht gelungen ist, eine Vertragsverletzung hinsichtlich der Kanalisation von Whitburn nachzuweisen. Obwohl sich nämlich herausgestellt hat, dass die Einleitungen unbehandelten Abwassers in diesem Gebiet regelmäßig vorgenommen werden, hat das Vereinigte Königreich nachgewiesen, dass eventuelle Arbeiten zur Erweiterung der Kanalisation, die durchzuführen wären, um die Vorgaben der Kommission im Vorverfahren zu erfüllen, nur einen Nutzen erbracht hätten, der nicht ausreicht, um die Durchführung der Arbeiten zu rechtfertigen. Der erste Teil der Klage der Kommission ist daher zurückzuweisen.

    D – Zur Situation von Beckton, Crossness und Mogden

    1. Sachverhalt und Standpunkte der Parteien

    87.

    Die Klage der Kommission bezieht sich, was London betrifft, auf die drei Zonen von Beckton, Crossness und Mogden. Genauer geht es um die Behandlungsanlagen aller drei Orte, die für unzureichend gehalten werden, um die Einhaltung der Richtlinie zu gewährleisten, was als Verstoß gegen deren Art. 4 und 10 angesehen wird. Bei Beckton und Crossness rügt die Kommission zudem auch einen Verstoß gegen Art. 3 der Richtlinie und hält somit auch die jeweiligen Kanalisationen für unzureichend.

    88.

    Alle drei genannten Ortschaften gehören zum System der Sammlung und Behandlung des Abwassers von London, das insgesamt mehr als 9 Millionen Einwohnerwerte bedient. Es handelt sich zum großen Teil um ein Mischsystem, das im 19. Jahrhundert geplant und schrittweise mit dem Anwachsen des städtischen Ballungsgebiets erweitert und verändert wurde.

    89.

    In London sind zwei Probleme aufgetreten. Erstens greifen, wenn die Kapazität der Kanalisationen überschritten wird, wie in Whitburn Regenwasserüberläufe ein. Das Londoner System hat 57, die fast alle das Wasser in die Themse leiten und bisher offenbar über keine Anlagen für eine auch nur rudimentäre Filterung des eingeleiteten Wassers verfügen. Zweitens sind einige der Behandlungsanlagen, in die das in den Kanalisationen gesammelte Abwasser geleitet wird, in manchen Fällen nicht in der Lage, sämtliche Mengen zu behandeln, die sie aufnehmen: In solchen Fällen wird ein Teil des Abwassers nach einer nur minimalen Behandlung sofort abgeleitet.

    90.

    Der wichtigste Beweis, auf den die Kommission ihr Vorbringen zu London stützt, ist ein von einer Arbeitsgruppe im Rahmen der Thames Tideway Strategic Study (im Folgenden: TTSS) vorbereiteter Bericht. Die TTSS wurde im Jahr 2000 von der Regierung des Vereinigten Königreichs ins Leben gerufen, um die ökologische Situation der Themse zu beurteilen.

    91.

    Der Bericht der TTSS weist insbesondere darauf hin, dass von den 57 Regenüberläufen des Londoner Systems 36 negative Auswirkungen auf die Umwelt haben. Durchschnittlich werden in dem System jedes Jahr – auch in Zeiten geringer Niederschläge – etwa 60 Einleitungen unbehandelten Abwassers festgestellt. Jedes Jahr strömen viele Millionen Tonnen unbehandelten Wassers in die Umwelt, die der Abwasserproduktion eines Ballungsraums mit Hunderttausenden von Einwohnern entsprechen. Das Problem wird dadurch verschärft, dass das Wasser der Themse nur langsam ins Meer gelangt, so dass das eingeleitete verschmutzte Wasser sich erst nach längerer Zeit auflöst.

    92.

    Nicht besser als bei den Kanalisationen steht es dem Bericht der TTSS zufolge bei den Behandlungsanlagen. Ihre Kapazität ist bei trockenen Wetterbedingungen ausreichend, bei Niederschlägen leiten die Anlagen jedoch nur teilweise behandeltes Wasser in die Umwelt ab und verschlimmern damit die bereits erhebliche Schadstoffbelastung durch die Regenüberläufe der Kanalisationen.

    93.

    Im November 2005 bereitete die TTSS einen ergänzenden Bericht für die Regierung vor, in dem sie die möglichen Lösungen für das Problem der Verschmutzung der Themse darstellte. Die Lösung, die als die beste angesehen wurde, basiert auf dem Bau eines unterirdischen Tunnels mit einer Länge von etwa 30 km und einer Kapazität von 1,5 Mio. m3, der in der Lage ist, bei Niederschlägen überschüssiges Wasser aufzunehmen, um es dem System später wieder zuzuführen, und so die Behandlung des Wassers ermöglicht.

    94.

    Im April 2007 kündigte die Regierung des Vereinigten Königreichs die Entscheidung an, den Vorschlag der TTSS, insbesondere also den neuen Tunnel, umzusetzen. In dem Schreiben des Umweltministers vom 17. April 2007 an die Betreibergesellschaft des Systems zur Sammlung und Behandlung des Wassers von London, das das Vereinigte Königreich in diesem Rechtsstreit vorgelegt hat, heißt es, dass die Entscheidung zum Bau des Tunnels „London einen dem 21. Jahrhundert angemessenen Fluss geben und das Vereinigte Königreich dazu bringen [soll], die Verpflichtungen aus der Richtlinie … einzuhalten“ ( 19 ). Wie in der mündlichen Verhandlung zu erfahren war, hat auch die gegenwärtige britische Regierung kürzlich ihre Unterstützung für den Bau des unterirdischen Tunnels bekräftigt, dessen Fertigstellung nunmehr für 2021–2023 vorgesehen ist. In der schriftlichen Ministererklärung, die dem Parlament am 3. November 2011 ( 20 ) übersandt wurde, heißt es insbesondere, dass die Notwendigkeit, das Kanalisationssystem von London zu verbessern, da in einigen Bereichen seine Kapazität auch bei Trockenwetterlagen erschöpft ist, und eine Lösung für die daraus resultierenden ökologischen Herausforderungen … zu finden, weiterhin besteht“. Die Bauarbeiten sollen 2016 beginnen.

    95.

    Das Vereinigte Königreich bestreitet den Sachverhalt, wie er von der Kommission dargestellt wird, nicht. Es unterstreicht, dass außer dem geplanten Bau des neuen großen unterirdischen Tunnels weitere Arbeiten zur Erweiterung der Kapazität der Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden im Gang seien. Diese Arbeiten sollten zwischen 2012 und 2014 vollendet sein. Zudem sei der Bau eines zweiten kleineren Tunnels vorgesehen, der bereits 2014 fertiggestellt sein solle und die Einleitungen unbehandelten Wassers in den Zonen von Beckton und Crossness erheblich verringern müsste.

    96.

    Die Verteidigung des Vereinigten Königreichs beruft sich insbesondere auf die ganz außerordentliche Größe des Systems von London und auf die unvermeidliche Komplexität eines jeden Eingriffs bei einer Reihe im Laufe des 19. Jahrhunderts geplanter Kanalisationen. So gesehen könne keine Vertragsverletzung des Vereinigten Königreichs angenommen werden, das sofort nach dem Inkrafttreten der Richtlinie alle Forschungs- und Planungstätigkeiten in die Wege geleitet habe, die erforderlich seien, um eine vollständige Übereinstimmung mit dem Unionsrecht herzustellen. Nach der BTKNEEC-Klausel sei die Richtlinie nicht verletzt, wenn im konkreten Fall ein Mitgliedstaat innerhalb der konkret kürzest möglichen Fristen alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen habe, um die Richtlinie durchzuführen.

    2. Beurteilung

    97.

    In ihrer ersten mit Gründen versehenen Stellungnahme hatte die Kommission allgemein das Funktionieren des gesamten Londoner Systems beanstandet. In ihrer ergänzenden mit Gründen versehenen Stellungnahme entschied sie jedoch nach Prüfung der Argumente, die das Vereinigte Königreich auf die mit Gründen versehene Stellungnahme vorgetragen hatte, den Klagegegenstand entsprechend der gegenwärtigen Fassung zu beschränken.

    98.

    Wie bereits ausgeführt, beanstandet die Kommission im Hinblick auf die Einhaltung der Richtlinie vor allem die Unzulänglichkeit der Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden sowie der Kanalisationen, die in den ersten beiden dieser drei Behandlungsanlagen zusammenlaufen.

    99.

    Man muss sich vorab die Frage nach der Art des Nachweises stellen, den die Kommission in Bezug auf die Vertragsverletzung zu führen hat. Ich meine hier nicht die Beweislast, da die Rechtsprechung zu diesem Punkt eindeutig und gefestigt ist: Es ist Sache der Kommission, die Vertragsverletzung zu beweisen, ohne dass sie sich dabei auf irgendeine Vermutung stützen kann ( 21 ). Worauf ich mich hier beziehe, ist vielmehr der Gegenstand des Beweises der Kommission.

    100.

    Die Lektüre der Klageschrift zeigt nämlich, dass die Kommission zwar entschieden hatte, ihre Beanstandungen auf einige besondere Teile des Londoner Systems der Abwassersammlung und -behandlung zu beschränken, jedoch nicht klar angegeben hatte, worin die Besonderheiten dieser Teile, die Gegenstand der Klage sind, bestehen. Sie hat ihre Argumentation vielmehr auf Beweise – insbesondere auf den Bericht der TTSS – gestützt, die sich auf Probleme des Systems im Allgemeinen und nicht auf jene besonderen Teile des Systems (die Zonen von Beckton, Crossness und Mogden) beziehen, die Gegenstand der Klage sind.

    101.

    Es ist somit zu prüfen, ob die Beweise der Kommission, die eine problematische ökologische Situation in London im Allgemeinen belegen, auch die besondere Rolle zeigen, die jeder einzelne der genannten Umstände für die Entstehung der Gesamtsituation gespielt hat ( 22 ).

    102.

    Insoweit sind die Dokumente, die die Kommission der Klageschrift beigefügt hat, und insbesondere die Antwort des Vereinigten Königreichs vom 15. Juni 2006 auf die mit Gründen versehene Stellungnahme, von entscheidender Bedeutung. In dem letztgenannten Dokument hat das Vereinigte Königreich in Beantwortung einer Beanstandung, die das gesamte Londoner System betraf, das Problem im Wesentlichen auf die besonderen Teile des Systems zurückgeführt, auf die die Kommission später die Klage beschränkt hat. Zwar wird das Vorliegen einer Vertragsverletzung nicht ausdrücklich zugegeben, doch heißt es in den Schlussfolgerungen dieses Schreibens: Die Regierung des Vereinigten Königreichs „räumt ein, dass eine Erhöhung der Kapazität der Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden notwendig ist; [sie] räumt ein, dass Maßnahmen erforderlich sind, um die Verschmutzung zu verringern, die einige Regenüberläufe verursachen, die Teil der Kanalisationen von Beckton und Crossness sind“.

    103.

    Unter Berücksichtigung dieses Schriftstücks stelle ich fest, dass die von der Kommission beigebrachten Beweise, soweit sie sich auf das Londoner System in seiner Gesamtheit beziehen, auch speziell für die Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden und die Kanalisationen von Beckton und Crossness herangezogen werden können. Das Vereinigte Königreich hat dagegen im Übrigen keinen Einwand erhoben.

    104.

    Nunmehr bleibt zu prüfen, ob die von der Kommission vorgelegten Beweise ausreichen, um eine Vertragsverletzung festzustellen. Ich nehme auch in diesem Fall die Prüfung in zwei Schritten entsprechend dem Ansatz vor, den ich bereits im Fall von Whitburn angewandt habe.

    105.

    Was das Problem und sein nicht nur gelegentliches Auftreten angeht, ist der Bericht der TTSS, auf den die Kommission den wesentlichen Teil ihrer Klage gestützt hat, meines Erachtens nicht nur ein hinreichender, sondern auch ein recht schwer zu widerlegender Beweis, erst recht, wenn man berücksichtigt, dass es sich um ein von der Regierung des Vereinigten Königreichs selbst in Auftrag gegebenes Dokument handelt. Insbesondere belegt, wie ausgeführt wurde, dieser Bericht die beachtliche Häufigkeit der Einleitungen von Wasser, das nicht in Kanalisationen behandelt worden ist oder in Behandlungsanlagen nur minimal behandelt worden ist. Dabei beschränken sich diese Einleitungen keineswegs nur auf außergewöhnliche meteorologische Situationen, sondern lassen sich auch regelmäßig unter Bedingungen gemäßigter Niederschläge feststellen.

    106.

    Es kann daher als von der Kommission nachgewiesen angesehen werden, dass die Einleitungen, die sie dem Vereinigten Königreich vorwirft, nicht außergewöhnlich waren, und nicht nur gelegentlich vorgenommen wurden: Das Vereinigte Königreich bestreitet im Übrigen nicht die Richtigkeit der Angaben der Kommission.

    107.

    Schließlich bleibt zu prüfen, ob die Regierung des Vereinigten Königreichs nachgewiesen hat, dass es technisch unmöglich gewesen sei, der Richtlinie nachzukommen, oder die dafür anfallenden Kosten im Verhältnis zum Nutzen völlig unangemessen gewesen wären, was auf der Grundlage der BTKNEEC-Klausel eine unvollständige Sammlung und/oder Behandlung des Abwassers rechtfertigen könnte.

    108.

    Diese Frage ist meines Erachtens zu verneinen.

    109.

    Einerseits hat das Vereinigte Königreich nämlich erklärt, dass nun die Errichtung eines großen neuen Bauwerks (eines Tunnels zur Speicherung des Wassers) beschlossen sei, das in der Lage sei, wie die Kommission im Vorverfahren festgestellt habe, eine vollständige Übereinstimmung mit der Richtlinie zu verwirklichen. Die technischen Lösungen für eine Verbesserung der Situation sind also vorhanden, und ihre Kosten sind nicht als unverhältnismäßig anzusehen, da ja bereits der Beschluss gefasst wurde, sie zu verwirklichen.

    110.

    Dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs, das sich auf die Komplexität und die lange Dauer der durchzuführenden Arbeiten beruft, kann jedoch nicht gefolgt werden. Nach ständiger Rechtsprechung ist bei der Beurteilung der Vertragsverletzung auf den Zeitpunkt abzustellen, der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzt wurde (hier der 1. Februar 2009), und ein Mitgliedstaat kann die Abweisung der Klage nicht allein deshalb erreichen, weil Arbeiten und Tätigkeiten im Gange sind, die in der Zukunft dazu führen, die Vertragsverletzung zu beenden ( 23 ). Es ist im Übrigen auch nicht zu vergessen, dass die Richtlinie seit mehr als 20 Jahren in Kraft ist: Sie kann daher sicher nicht als eine Regelung angesehen werden, mit der sich vertraut zu machen die Mitgliedstaaten keine Zeit gehabt hätten. Gerade in Bezug auf die Richtlinie 91/271, wenn auch zu einem anderen Artikel als den der vorliegenden Rechtssache in Rede stehenden, hat der Gerichtshof die Frist vom 9. September 2004, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde, für ausreichend gehalten ( 24 ).

    111.

    Das Vereinigte Königreich hat insbesondere in der mündlichen Verhandlung offenbar darauf hinwirken wollen, dass die erforderliche lange Dauer der Arbeiten als ein Grund angesehen wird, der die Anwendung der BTKNEEC-Klausel rechtfertigt: Wenn ein Mitgliedstaat Arbeiten in großem Umfang durchführen müsse, um dem Unionsrecht nachzukommen, könne keine Vertragsverletzung geltend gemacht werden, wenn diese Arbeiten im Gange seien und innerhalb eines normalen und angemessenen Zeitplans durchgeführt würden.

    112.

    Diesem Argument kann nicht gefolgt werden. Die BTKNEEC-Klausel ist, wie dargelegt wurde, so zu verstehen, dass sie sich auf die technischen Lösungen, die im Allgemeinen verwirklicht werden können, und nicht auf den Zeitpunkt, in dem diese Verwirklichung erfolgen kann, bezieht. Der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um die Vereinbarkeit mit einer Gemeinschaftsregelung zu beurteilen, ist der von der Kommission in der mit Gründen versehenen Stellungnahme festgesetzte. Es mag sich anders verhalten, wenn das Vereinigte Königreich nachgewiesen hätte, dass die von ihm gewählte Lösung des Problems, insbesondere also der Tunnel zur Speicherung des Wassers, in der Vergangenheit technisch nicht möglich gewesen wäre. In einem solchen Fall könnte die BTKNEEC-Klausel mit Erfolg geltend gemacht werden. Dies ist jedoch hier nicht der Fall: Zu keinem Zeitpunkt hat das Vereinigte Königreich angedeutet, dass der Bau des Tunnels oder die Vergrößerung der Behandlungsanlagen erst in jüngerer Zeit technisch möglich geworden sei.

    113.

    Im Ergebnis stelle ich somit fest, dass dem Teil der Klage, der die Stadt London betrifft, stattzugeben ist.

    E – Kosten

    114.

    Sowohl die Kommission als auch das Vereinigte Königreich haben, wie ich oben ausgeführt habe, die Verurteilung der Gegenpartei in die Kosten beantragt. Da ich dem Gerichtshof vorschlage, einem der beiden Teile der Klage der Kommission stattzugeben und den anderen abzuweisen, bin ich der Auffassung, dass der Gerichtshof Art. 69 § 3 der Verfahrensordnung anwenden und folglich die Kosten der Parteien gegeneinander aufheben sollte.

    V – Ergebnis

    115.

    Auf der Grundlage der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

    Das Vereinigte Königreich hat dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den nachstehend genannten Bestimmungen der Richtlinie 91/271/EWG über die Behandlung von kommunalem Abwasser verstoßen, dass es nicht dafür Sorge getragen hat, dass Beckton und Crossness über angemessene Kanalisationen nach Art. 3 und Anhang I Abschnitt A dieser Richtlinie verfügen und das Abwasser in den Behandlungsanlagen von Beckton, Crossness und Mogden einer sachgerechten Behandlung nach den Art. 4 und 10 sowie Anhang I Abschnitt B unterzogen wird;

    im Übrigen wird die Klage abgewiesen;

    jede Partei trägt ihre eigenen Kosten.


    ( 1 ) Originalsprache: Italienisch.

    ( 2 ) Richtlinie 91/271/EWG des Rates vom 21. Mai 1991 über die Behandlung von kommunalem Abwasser (ABl. L 135, S. 40).

    ( 3 ) Ab 2000 Einwohnerwerten. Der Begriff „Einwohnerwert“ ist in Art. 2 Nr. 6 definiert, hier jedoch nicht relevant: Es ist nämlich unstreitig, dass für alle von der Kommission in ihrer Klageschrift aufgeführten Orte die Verpflichtungen der Art. 3 und 4 der Richtlinie galten.

    ( 4 ) Urteil vom 23. September 2004, Kommission/Frankreich (C-280/02, Slg. 2004, I-8573, Randnrn. 16 f.).

    ( 5 ) KOM(89) 518 endg. (ABl. 1989, C 300, S. 8 [Art. 9]).

    ( 6 ) Urteile vom 7. Mai 2009, Kommission/Portugal (C-530/07, Randnrn. 28 und 53), und vom 14. April 2011, Kommission/Spanien (C-343/10, Randnrn. 56 und 62).

    ( 7 ) Vgl. die deutsche („Regenüberläufe“) und die niederländische („hemelwater“) Fassung.

    ( 8 ) Vgl. neben der italienischen Fassung („piogge violente“) die französische („pluies d’orage“), die englische („storm“) und die spanische („aguas de tormenta“) Fassung. Bekanntlich kann bei der Abweichung einer einzelnen Sprachfassung von den anderen diese nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht herangezogen werden, um eine Auslegung der Vorschrift zu begründen, die im Gegensatz zu den meisten anderen Sprachfassungen steht. Vgl. beispielsweise Urteile vom 27. März 1990, Cricket St. Thomas (C-372/88, Slg. 1990, I-1345, Randnr. 18), vom 19. April 2007, Velvet & Steel Immobilien (C-455/05, Slg. 2007, I-3225, Randnr. 19), und vom 25. März 2010, Helmut Müller (C-451/08, Slg. 2010, I-2673, Randnr. 38).

    ( 9 ) Auch wenn diese Bestätigung natürlich nicht maßgeblich ist. Wie ich soeben ausgeführt habe, kann der Text einer einzelnen Sprachfassung allein eine mit den anderen Sprachfassungen unvereinbare Auslegung nicht tragen.

    ( 10 ) Diese Fußnote betrifft nur die nichtdeutschen Fassungen der Schlussanträge.

    ( 11 ) Es sei erwähnt, dass diese Klausel nicht in dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission enthalten war und erst in den vom Rat angenommenen endgültigen Text der Richtlinie eingefügt wurde.

    ( 12 ) Urteil vom 30. November 2006, Kommission/Italien (C-293/05, Slg. 2006, I-122, Randnr. 35).

    ( 13 ) In Fn. 6.

    ( 14 ) Vgl. beispielsweise aus jüngerer Zeit Urteil vom 10. Dezember 2009, Kommission/Vereinigtes Königreich (C-390/07, Randnrn. 43 bis 45). Für einen allgemeinen Überblick über die Beweislast in Vertragsverletzungsverfahren vgl. auch Nrn. 42 bis 46 der Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 26. März 2009 in den Rechtssachen C-335/07, Kommission/Finnland, und C-438/07, Kommission/Schweden, über die mit Urteilen vom 6. Oktober 2009 entschieden wurde (Slg. 2009, I-9459 und I-9517).

    ( 15 ) Die Aufnahme einer Kanalisation in einer Trockenperiode ist die Menge des Wassers, das bei Niederschlagsfreiheit in diese eingeleitet wird.

    ( 16 ) Vgl. insbesondere die Punkte 16.5.1.4 bis 16.5.1.5, 16.5.1.7 bis 16.5.1.9, 16.5.5.1, 16.5.11.2 bis 16.5.11.3. In dem Bericht wurde jedoch eine Änderung der Bedingungen der bestehenden Genehmigung befürwortet, um der Betreibergesellschaft in Notfällen die Ableitung unbehandelten Abwassers durch Benutzung der Unterwasserleitung von Whitburn zu erlauben. Die Kritik des Inspektors konzentrierte sich indessen, wie ausgeführt, auf die Behandlung der Einleitungen in normalen Situationen.

    ( 17 ) Vgl. insoweit die Richtlinie des Rates 76/160/EWG vom 8. Dezember 1975 über die Qualität der Badegewässer (ABl. 1976, L 31, S. 1).

    ( 18 ) Es handelt sich um den Bericht TTSS; vgl. zu diesem unten, Nrn. 90 ff.

    ( 19 ) Hervorhebung nur hier.

    ( 20 ) Dieses vom Vereinigten Königreich kurz vor Beginn der mündlichen Verhandlung vorgelegte Dokument ist vom Gerichtshof zugelassen und zu den Akten genommen worden.

    ( 21 ) Vgl. beispielsweise Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Schweden (C-438/07, Slg. 2009, I-9517, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 22 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Oktober 2009, Kommission/Finnland (C-335/07, Slg. 2009, I-9459, Randnr. 88).

    ( 23 ) Vgl. beispielsweise Urteil vom 24. Juni 2004, Kommission/Griechenland (C-119/02, Randnrn. 52 bis 54), und vom 8. Juli 2004, Kommission/Belgien (C-27/03, Randnrn. 39 bis 40).

    ( 24 ) Urteil Kommission/Italien, oben in Fn. 12 angeführt (Randnrn. 25 bis 28).

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