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Document 62005CJ0205

    Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 9. November 2006.
    Fabien Nemec gegen Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal des affaires de sécurité sociale de Longwy - Frankreich.
    Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer - Artikel 42 EG - Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 - Artikel 58 - Leistung zugunsten von Arbeitnehmern, die Asbest ausgesetzt waren - Berechnung von Geldleistungen - Weigerung, in einem anderen Mitgliedstaat erzielte Arbeitsentgelte zu berücksichtigen.
    Rechtssache C-205/05.

    Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-10745

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:705

    Parteien
    Entscheidungsgründe
    Tenor

    Parteien

    In der Rechtssache C‑205/05

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Tribunal des affaires de sécurité sociale de Longwy (Frankreich) mit Entscheidung vom 14. April 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Mai 2005, in dem Verfahren

    Fabien Nemec

    gegen

    Caisse régionale d’assurance maladie du Nord-Est

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

    unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans sowie der Richter R. Schintgen (Berichterstatter), J. Makarczyk, G. Arestis und L. Bay Larsen,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2006,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    – von Herrn Nemec, vertreten durch M. Gamelon, avocat,

    – der Caisse régionale d’assurance maladie du Nord-Est, vertreten durch A. Schaf Codognet und F. Verra, avocats,

    – der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und C. Bergeot-Nunes als Bevollmächtigte,

    – der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Stratford als Bevollmächtigte,

    – der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin als Bevollmächtigten,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 27. April 2006

    folgendes

    Urteil

    Entscheidungsgründe

    1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, des Artikels 15 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihren durch die Verordnung (EG) des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassungen (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71 bzw. Verordnung Nr. 574/72) und der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. L 166, S. 1) sowie des Artikels 39 EG.

    2. Dieses Ersuchen ergeht in einem Rechtsstreit zwischen Herrn Nemec und der Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est (Regionale Krankenkasse für den Nordosten, im Folgenden: CRAM) wegen deren Entscheidung, für die Berechnung der Höhe der Leistung, die zugunsten von asbestexponierten Arbeiternehmern bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorgesehen ist (im Folgenden: Leistung für ehemalige Asbestarbeiter), die Arbeitsentgelte, die Herr Nemec während seiner Arbeitnehmertätigkeit in Belgien erhalten hatte, nicht zu berücksichtigen.

    Rechtlicher Rahmen

    Gemeinschaftsrecht

    Die Verordnung Nr. 1408/71

    3. Artikel 1 der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

    „Für die Anwendung dieser Verordnung werden die nachstehenden Begriffe wie folgt definiert:

    t) ‚Leistungen‘ und ‚Renten‘: sämtliche Leistungen und Renten einschließlich aller ihrer Teile aus öffentlichen Mitteln, aller Zuschläge, Anpassungsbeträge und Zulagen, soweit Titel III nichts anderes vorsieht; ferner die Kapitalabfindungen, die an die Stelle der Renten treten können, sowie Beitragserstattungen;

    …“

    4. Artikel 3 („Gleichbehandlung“) Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:

    „Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten auf Grund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen.“

    5. Artikel 4 Absatz 1 dieser Verordnung definiert ihren Geltungsbereich folgendermaßen:

    „Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit, die folgende Leistungsarten betreffen:

    a) Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft,

    b) Leistungen bei Invalidität einschließlich der Leistungen, die zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit bestimmt sind,

    c) Leistungen bei Alter,

    d) Leistungen an Hinterbliebene,

    e) Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten,

    f) Sterbegeld,

    g) Leistungen bei Arbeitslosigkeit,

    h) Familienleistungen.“

    6. Artikel 4 Absatz 2 sieht vor: „Diese Verordnung gilt für die allgemeinen und die besonderen, die auf Beiträgen beruhenden und die beitragsfreien Systeme der sozialen Sicherheit …“

    7. Titel III der Verordnung Nr. 1408/71 enthält in seinem Kapitel 4, das sich mit Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten befasst, Artikel 58 – Berechnung der Geldleistungen –, dessen Absatz 1 bestimmt:

    „Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften bei der Berechnung von Geldleistungen ein Durchschnittsentgelt zugrunde zu legen ist, ermittelt das Durchschnittsentgelt ausschließlich auf Grund der Entgelte, die für die nach den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats zurückgelegten Zeiten festgestellt worden sind.“

    Die Verordnung Nr. 564/72

    8. Artikel 15 der Verordnung Nr. 574/72 enthält die „Allgemeine[n] Vorschriften für die Zusammenrechnung der Versicherungszeiten“

    Die Verordnung Nr. 883/2004

    9. Gemäß Artikel 87 Absatz 1 der Verordnung Nr. 883/2004 begründet „diese Verordnung keinen Anspruch für den Zeitraum vor dem Beginn ihrer Anwendung“.

    10. Artikel 90 Absatz 1 der Verordnung sieht vor, dass „[d]ie Verordnung … Nr. 1408/71 … mit dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung aufgehoben [wird]“.

    11. Artikel 91 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:

    „Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

    Sie gilt ab dem Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung.“

    Nationales Recht

    12. Im Gesetz Nr. 98-1194 vom 23. Dezember 1998 über die Finanzierung der sozialen Sicherheit für das Jahr 1999 (loi n° 98-1194, du 23 décembre 1998, de financement de la sécurité sociale pour 1999, Journal Officiel de la République Française vom 27. Dezember 1998, S. 19646) in seiner durch das Gesetz Nr. 99-1140 vom 29. Dezember 1999 über die Finanzierung der sozialen Sicherheit für das Jahr 2000 (loi n° 99-1140, du 29 décembre 1999, de financement de la sécurité sociale pour 2000, Journal Officiel de la République Française vom 30. Dezember 1999, S. 19706) geänderten Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 98-1194) ist für Arbeitnehmer und ehemalige Arbeitnehmer, die Asbest ausgesetzt waren, eine spezielle Regelung über das vorzeitige Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vorgesehen. Artikel 41 des Gesetzes Nr. 98-1194 bestimmt:

    «I. – Eine Leistung bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wird denjenigen Arbeitnehmern und ehemaligen Arbeitnehmern von Betrieben, die asbesthaltige Materialien herstellen, von Betrieben zur Spritzverarbeitung von Asbest, von Betrieben zur Wärmeisolierung mit Asbest oder von Schiffsbau- und -reparaturbetrieben unter der Bedingung gezahlt, dass sie jede Erwerbstätigkeit aufgeben, sofern sie die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

    1. Sie arbeiten oder haben in einem der Betriebe gearbeitet, die vorstehend genannt und in einer durch Erlass der für Arbeit, soziale Sicherheit und den Haushalt zuständigen Minister aufgestellten Liste aufgeführt sind, als in diesem Betrieb Asbest oder asbesthaltige Materialien hergestellt oder bearbeitet wurden;

    2. sie haben ein bestimmtes Alters vollendet, das je nach Dauer der Arbeit in den unter Nummer 1 genannten Betrieben verschieden, aber nicht geringer als fünfzig Jahre sein darf;

    Ab dem fünfzigsten Lebensjahr haben auch diejenigen Arbeitnehmer oder ehemaligen Arbeitnehmer Anspruch auf die Leistung bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, bei denen anerkannt ist, dass sie an einer Berufskrankheit im Sinne des allgemeinen Systems leiden, die durch Asbest hervorgerufen wurde und die in einer durch Erlass der für Arbeit und soziale Sicherheit zuständigen Minister aufgestellten Liste aufgeführt ist.

    Die Leistung kann – vorbehaltlich der Bestimmungen des folgenden Absatzes – weder neben einem der in Artikel L. 131-2 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit [code de la sécurité sociale] genannten Bezüge noch neben einer personenbezogenen Leistungen wegen Alters oder neben einer Leistung wegen Invalidität oder neben einer Leistung wegen Vorruhestands oder vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben beansprucht werden.

    Eine Aufstockungsleistung bis maximal zur Höhe der nach den Bestimmungen des vorliegenden Artikels berechneten Leistung kann ergänzend zu einer Invaliditätsrente, einer Leistung für Hinterbliebene oder einer personenbezogenen Leistung wegen Alters aus einem Sondersystem im Sinne des ersten Kapitels des ersten Titels von Buch VII des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit gezahlt werden.

    II. – Die Höhe der Leistung wird anhand des aktualisierten Durchschnitts der monatlichen Bruttoarbeitsentgelte der letzten zwölf Monate der Arbeitnehmertätigkeit des Berechtigten berechnet; dabei werden unter durch Dekret festgesetzten Bedingungen bestimmte zu einer reduzierten Vergütung führende Tätigkeitszeiten nicht berücksichtigt. Sie wird wie die nach Artikel L. 322-4 Absatz 2 des Arbeitsgesetzbuchs [Code du travail] gewährten Leistungen angepasst.

    Die Leistung wird nicht mehr gewährt, wenn der Berechtigte die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Altersrente in voller Höhe im Sinne der Artikel L. 351-1 und L. 351-8 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit erfüllt.

    …“

    13. Artikel 2 des Dekrets Nr. 99-247 vom 29. März 1999 über die in Artikel 41 des Gesetzes über die Finanzierung der sozialen Sicherheit für das Jahr 1999 vorgesehene Leistung bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben (décret n° 99-247, du 29 mars 1999, relatif à l’allocation de cessation anticipée d’activité prévue à l’article 41 de la loi de financement de la sécurité sociale pour 1999, Journal Officiel de la République Française vom 31. März 1999, S. 4471) lautet:

    „Das Referenzarbeitsentgelt, das als Grundlage für die Berechnung der Leistung dient, wird anhand der in Artikel L. 242-1 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit genannten Entgelte festgelegt, die der Betreffende in den letzten zwölf Monaten seiner Arbeitnehmertätigkeit erhalten hat. Diese Entgelte, die gegebenenfalls nach den Vorschriften des Artikels R. 351-29-2 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit angepasst werden, werden bis zum Zweifachen des zum Zeitpunkt der Entstehung des Leistungsanspruchs geltenden Höchstbetrags im Sinne von Artikel L. 241-3 dieses Gesetzbuchs berücksichtigt. Das Referenzarbeitsentgelt entspricht dem monatlichen Durchschnitt der auf diese Art und Weise ermittelten Entgelte.

    Die monatliche Leistung beträgt 65 % des auf den Höchstbetrag im Sinne von Artikel L. 241-3 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit begrenzten Referenzarbeitsentgelts zuzüglich 50 % des Anteils des Referenzarbeitsentgelts, der zwischen diesem Höchstbetrag und dem Doppelten dieses Höchstbetrags liegt.

    Der Leistungsbetrag darf den Mindestbetrag der in L. 351-3 des Arbeitsgesetzbuchs vorgesehenen Versicherungsleistung nicht unterschreiten. Die damit garantierte Leistung darf jedoch nicht mehr als 85 % des Referenzarbeitsentgelts betragen.“

    14. Artikel L. 242-1 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit sieht vor:

    „Für die Berechnung der Beiträge zu den Sozialversicherungen, zur Arbeitsunfallkasse und zur Familienkasse werden als Entgelt alle an die Arbeitnehmer als Gegenleistung für oder anlässlich der Arbeit gezahlten Beträge berücksichtigt, insbesondere Löhne oder Gehälter, Urlaubsgelder, Arbeitnehmeranteile an den Sozialversicherungsbeiträgen, Entschädigungen, Prämien, Gratifikationen und alle anderen Geldleistungen, Sachleistungen sowie unmittelbar oder über Dritte als Trinkgelder bezogene Beträge.

    …“

    15. Das Rundschreiben DSS/4B/99/332 vom 9. Juni 1999 zur Umsetzung der Regelung über das vorzeitige Ausscheiden von Asbestarbeitern aus dem Erwerbsleben (circulaire n° DSS/4B/99/332, du 9 juin 1999, concernant la mise en oeuvre du dispositif de cessation anticipée d’activité des travailleurs de l’amiante) präzisiert die Regeln für die Gewährung, Berechnung und Zahlung der zugunsten von asbestexponierten Arbeitnehmern eingeführten Leistung durch die regionalen Krankenkassen. Dieses Rundschreiben führt u. a. aus, dass hinsichtlich der Methode für die Berechnung dieser Leistung und in Bezug auf die Zeiträume einer Arbeitnehmertätigkeit im Ausland „mehrere Fallgestaltungen vorliegen können. Wenn das Arbeitsentgelt nach Artikel L. 242-1 des Gesetzbuchs der sozialen Sicherheit sozialbeitragspflichtig war, wird es mit den dazugehörigen Zeiträumen berücksichtigt. Andernfalls sind die Arbeitsentgelte heranzuziehen, die während des letzten Jahres einer Arbeitnehmertätigkeit in Frankreich erzielt worden sind.“

    Das Ausgangsverfahren und die Vorlagefrage

    16. Herr Nemec, ein 1954 geborener und in Frankreich wohnender französischer Staatsbürger, arbeitete mehrere Jahre lang in einem in Frankreich ansässigen Unternehmen. Unstreitig war er bei dieser Arbeit Asbest ausgesetzt.

    17. 1994 wurde er entlassen, weil sein Arbeitgeber in Frankreich seinen Betrieb vollständig eingestellt hatte. Im selben Jahr fand er in Belgien in einem Unternehmen, das etwa zehn Kilometer von seinem Wohnort entfernt ansässig war, wieder eine Beschäftigung. Während der ganzen Zeit seiner Arbeitnehmertätigkeit in Belgien wohnte Herr Nemec weiter in Frankreich und zahlte dort weiter Steuern.

    18. 1995 erkannte die zuständige französische Behörde an, dass Herr Nemec an einer Berufskrankheit litt, weil er Asbest ausgesetzt gewesen war.

    19. Einem Antrag auf Zahlung der Leistung für ehemalige Asbestarbeiter, den Herr Nemec im März 2004 gestellt hatte, gab die CRAM im Mai 2004 statt. Entsprechend dem nationalen Recht war der Betrag dieser Leistung unter Zugrundlegung des Durchschnitts der Arbeitsentgelte berechnet worden, die der Antragsteller während der letzten zwölf Monate seiner Arbeitnehmertätigkeit in Frankreich erhalten hatte.

    20. Herr Nemec legte bei der Schiedsstelle der CRAM gegen diese Entscheidung Widerspruch ein und machte geltend, dass die CRAM seine zuletzt in Belgien bezogenen Arbeitsentgelte, die höher gewesen seien als die für die Berechnung der Leistung für ehemalige Asbestarbeiter zugrunde gelegten, nicht berücksichtigt habe.

    21. Der Widerspruch wurde von der Schiedsstelle zurückgewiesen; die Widerspruchsentscheidung stützte sich auf das Rundschreiben DSS/4B/99/332.

    22. Herr Nemec rief das Tribunal des affaires de sécurité sociale de Longwy an, das beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Hat die CRAM, indem sie es unter Berufung auf Artikel 2 der Durchführungsverordnung Nr. 99 247 vom 29. März 1999 und das Rundschreiben DSS/4B/99 Nr. 332 vom 9. Juni 1999 abgelehnt hat, die von Herrn Nemec in Belgien erzielten Arbeitsentgelte bei der Berechnung der ihm nach Artikel 41 des Gesetzes Nr. 98-1194 vom 23. Dezember 1998 gewährten Leistung für ehemalige Asbestarbeiter zu berücksichtigen, weil von diesen Arbeitsentgelten keine Beiträge nach Artikel L 241-1 des französischen Code de la sécurité sociale abgeführt worden seien, eine für Herrn Nemec nachteilige Entscheidung getroffen, die ein Hindernis für die in Artikel 39 EG verankerte Freizügigkeit, einen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 883/2004 oder einen Verstoß gegen Artikel 15 der Verordnung Nr. 574/72 darstellt?

    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    23. Die französische Regierung macht geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, weil das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen der vorgelegten Frage nicht hinreichend genau dargelegt habe.

    24. Anhand der Vorlageentscheidung lasse sich nämlich nicht feststellen, ob Herr Nemec im Rahmen einer Berufstätigkeit, die er außerhalb der Französischen Republik in anderen Mitgliedstaaten ausgeübt habe, Asbest ausgesetzt gewesen sei. Zudem würden die einschlägigen nationalen Vorschriften in der Vorlageentscheidung nur unvollständig und andeutungsweise erwähnt. Außerdem habe das nationale Gericht weder die Gründe, die es bewogen hätten, sich Fragen nach der Auslegung der verschiedenen, in der Vorlageentscheidung genannten Gemeinschaftsbestimmungen zu stellen, noch den Zusammenhang, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Ausgangsrechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstelle, erläutert.

    25. Nach ständiger Rechtsprechung ist es, um zu einer für das nationale Gericht nützlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gelangen, erforderlich, dass das nationale Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die von ihm gestellten Fragen einfügen, festlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen erläutert, auf denen diese Fragen beruhen (vgl. u. a. Urteil vom 26. Januar 1993 in den verbundenen Rechtssachen C‑320/90 bis C‑322/90, Telemarsicabruzzo u. a., Slg. 1993, I‑393, Randnr. 6, Beschluss vom 8. Juli 1998 in der Rechtssache C‑9/98, Agostini, Slg. 1998, I‑4261, Randnr. 4 sowie Urteile vom 9. September 2004 in der Rechtssache C‑72/03, Carbonati Apuani, Slg. 2004, I‑8027, Randnr. 10, und vom 23. März 2006 in der Rechtssache C‑237/04, Enirisorse, Slg. 2006, I‑2843, Randnr. 17).

    26. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass es unerlässlich ist, dass das nationale Gericht ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Gemeinschaftsbestimmungen, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Bestimmungen und den auf den Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften herstellt (Beschluss vom 28. Juni 2000 in der Rechtssache C‑116/00, Laguillaumie, Slg. 2000, I‑4979, Randnr. 16 sowie Urteile Carbonati Apuani, Randnr. 11, und Enirisorse, Randnr. 21).

    27. Im vorliegenden Fall verfügt der Gerichtshof über ausreichende Anhaltspunkte, um dem vorlegenden Gericht eine nützliche Antwort zu geben.

    28. Zum einen stellt die Vorlageentscheidung den Sachverhalt, der dem Ausgangsrechtsstreit zugrunde liegt, und das einschlägige nationale Recht kurz, aber präzise dar. Aus ihr geht hervor, dass dieser Rechtsstreit im Rahmen eines Antrags auf Zahlung einer im französischen Recht vorgesehenen Leistung entstanden ist, auf die Herr Nemec einen Anspruch hat und deren Anspruchsvoraussetzungen er unbestreitbar erfüllt. Zum anderen erläutert die Vorlageentscheidung die Gründe für die Wahl der Gemeinschaftsbestimmungen, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, sowie den Zusammenhang zwischen diesen und den auf diesen Rechtsstreit anzuwendenden nationalen Rechtsvorschriften.

    29. Daher kann dem Vorbringen der französischen Regierung nicht gefolgt werden, so dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.

    Zur Vorlagefrage

    30. Das vorlegende Gericht stellt im Wesentlichen die Frage, ob die Entscheidung, die Arbeitsentgelte, die Herr Nemec in Belgien erhalten hat, bei der Berechnung der Leistung für ehemalige Asbestarbeiter nicht zu berücksichtigen, einen Verstoß gegen die Verordnung Nr. 883/2004 darstellt.

    31. Nach Artikel 91 der genannten Verordnung tritt diese zwar am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft, gilt aber erst ab dem Tag des Inkrafttretens der Durchführungsverordnung.

    32. Da bis heute noch keine Durchführungsverordnung zu der Verordnung Nr. 883/2004 erlassen worden ist, gelten weiterhin die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71.

    33. Folglich ist die Frage des vorlegenden Gerichts anhand der letztgenannten Verordnung zu erörtern.

    34. Wie die Parteien des Ausgangsverfahrens, die französische Regierung sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ausgeführt haben, ist eine Leistung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die ehemaligen Arbeitern mit Asbestexposition, die die in der nationalen Regelung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllen, gewährt wird, ohne dass eine individuelle Prüfung ihrer persönlichen Bedürftigkeit vorgenommen wird, als eine Leistung der sozialen Sicherheit anzusehen, die unter Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe e der Verordnung Nr. 1408/71 fällt, der Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten erfasst.

    35. Was die im Ausgangsverfahren streitige Frage betrifft, wie die Leistung für ehemalige Asbestarbeiter, die ausgehend von der Vergütung des Berechtigten festgelegt wird, zu berechnen ist, vertreten die CRAM, die französische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs die Auffassung, dass die Nichtberücksichtigung von Arbeitsentgelten, die im Ausland bezogen worden seien und für die keine Sozialbeiträge nach dem Recht des Mitgliedstaats, dem der zuständige Leistungsträger angehöre, abgeführt worden seien, mit Artikel 58 der Verordnung Nr. 1408/71 vereinbar sei.

    36. Der Gerichtshof hat bereits hinsichtlich einer Bestimmung, die mit dem genannten Artikel 58 praktisch wortgleich ist, entschieden, dass sie nicht nur die für die Festsetzung des Referenzzeitraums des durchschnittlichen Arbeitsentgelts anzuwendenden Rechtsvorschriften bestimmt, sondern auch die Bezüge festlegt, die der zuständige Träger bei der Ermittlung des der Berechnung der Geldleistungen dienenden durchschnittlichen Arbeitsentgelts während eines bestimmten Zeitraums zugrunde legen muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 1979 in der Rechtssache 268/78, Pennartz, 268/78, Slg. 1979, 2411, Randnrn. 8 und 9).

    37. Artikel 58 der Verordnung Nr. 1408/71 muss jedoch, wie alle Bestimmungen dieser Verordnung, im Licht des Artikels 42 EG ausgelegt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. August 1994 in der Rechtssache C‑406/93, Reichling, Slg. 1994, I‑4061, Randnr. 21, und vom 12. September 1996 in der Rechtssache C‑251/94, Lafuente Nieto, Slg. 1996, I‑4187, Randnrn. 33 und 38).

    38. Der Zweck des Artikels 42, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erleichtern, impliziert u. a., dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (vgl. Urteile Reichling, Randnr. 24, und Lafuente Nieto, Randnrn. 33 und 38, sowie vom 9. Oktober 1997 in den Rechtssachen C‑31/96 bis C‑33/96, Naranjo Arjona u. a., Slg. 1997, I‑5501, Randnr. 20, und vom 17. Dezember 1998 in der Rechtssache C‑153/96, Grajera Rodríguez, Slg. 1998, I‑8645, Randnr. 17).

    39. Unstreitig kann aber eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren streitige Wanderarbeitnehmer gegenüber Arbeitnehmern benachteiligen, die nur in einem einzigen Mitgliedstaat tätig waren.

    40. Die Anwendung einer solchen Regelung führt nämlich bei einem Wanderarbeitnehmer wie Herrn Nemec dazu, dass der Berechnung der Leistung für ehemalige Asbestarbeiter ein Arbeitsentgelt zugrunde gelegt wird, das der Betroffene vor mehr als 10 Jahren erhalten hat und das daher keinen Zusammenhang mit seiner aktuellen Situation aufweist, während bei Kollegen, die weiterhin in Frankreich tätig sind, das letzte tatsächliche Arbeitsentgelt berücksichtigt wird. Ein solcher Arbeitnehmer erhält daher eine geringere Leistung, als er erhalten hätte, wenn er nicht von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätte.

    41. Die Verpflichtung, Wanderarbeitnehmer, die ihr Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben, nicht zu benachteiligen, bedeutet jedoch nicht, dass Artikel 58 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, der nicht erlaubt, für die Berechnung von Geldleistungen Arbeitsentgelt, das in einem anderen Mitgliedstaat erzielt wurde, zu berücksichtigen, deshalb mit dem Zweck des Artikels 42 EG unvereinbar wäre. Denn diese Verpflichtung bedeutet lediglich, dass die genannten Leistungen für den Wanderarbeitnehmer die gleichen sein müssen, wie wenn er sein Recht auf Freizügigkeit nicht ausgeübt hätte (vgl. in diesem Sinne Urteile Lafuente Nieto, Randnr. 39, Naranjo Arjona u. a., Randnr. 21, und Grajera Rodríguez, Randnr. 18).

    42. Daher ist in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits, in dem nach Artikel 58 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 nur das Arbeitsentgelt zu berücksichtigen ist, das in dem Mitgliedstaat erzielt wurde, dem der zuständige Träger angehört, dieses Entgelt so zu aktualisieren und anzupassen, dass es dem Arbeitsentgelt entspricht, das der Betroffene bei normaler beruflicher Entwicklung erhalten hätte, wenn er weiterhin in dem betreffenden Mitgliedstaat beschäftigt gewesen wäre (Urteil Lafuente Nieto, Randnr. 40, Naranjo Arjona u. a., Randnr. 22, und Grajera Rodríguez, Randnr. 19).

    43. Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Artikel 58 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dem Zweck von Artikel 42 EG konform dahin auszulegen ist, dass die Berechnung des „Durchschnittsentgelts“ im Sinne der erstgenannten Vorschrift in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits aufgrund des Arbeitsentgelts erfolgt, das der Betroffene bei normaler Entwicklung seiner beruflichen Laufbahn erhalten hätte, wenn er weiterhin in dem Mitgliedstaat, dem der zuständige Träger angehört, beschäftigt gewesen wäre.

    Kosten

    44. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Tenor

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

    Artikel 58 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung ist dem Zweck von Artikel 42 EG konform dahin auszulegen, dass die Berechnung des „Durchschnittsentgelts“ im Sinne der erstgenannten Vorschrift in einem Fall wie dem des Ausgangsrechtsstreits aufgrund des Arbeitsentgelts erfolgt, das der Betroffene bei normaler beruflicher Entwicklung erhalten hätte, wenn er weiterhin in dem Mitgliedstaat, dem der zuständige Träger angehört, beschäftigt gewesen wäre.

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