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Document 62003CJ0475
Judgment of the Court (Grand Chamber) of 3 October 2006.#Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl v Agenzia Entrate Ufficio Cremona.#Reference for a preliminary ruling: Commissione tributaria provinciale di Cremona - Italy.#Sixth VAT Directive - Article 33(1) - Prohibition on the levying of other domestic taxes which can be characterised as turnover taxes - Definition of 'turnover taxes' - Italian regional tax on productive activities.#Case C-475/03.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 3. Oktober 2006.
Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl gegen Agenzia Entrate Ufficio Cremona.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Commissione tributaria provinciale di Cremona - Italien.
Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Artikel 33 Absatz 1 - Verbot der Erhebung anderer nationaler Steuern mit dem Charakter von Umsatzsteuern - Begriff "Umsatzsteuern" - Italienische Regionalsteuer auf Produktionstätigkeiten.
Rechtssache C-475/03.
Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 3. Oktober 2006.
Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl gegen Agenzia Entrate Ufficio Cremona.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Commissione tributaria provinciale di Cremona - Italien.
Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie - Artikel 33 Absatz 1 - Verbot der Erhebung anderer nationaler Steuern mit dem Charakter von Umsatzsteuern - Begriff "Umsatzsteuern" - Italienische Regionalsteuer auf Produktionstätigkeiten.
Rechtssache C-475/03.
Sammlung der Rechtsprechung 2006 I-09373
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2006:629
*A9* Commissione tributaria provinciale, ordinanza del 09/10/2003 11/11/2003 (39/2/03)
- Procopio, Massimo: L'asserita incompatibilità dell'Irap con la normativa comunitaria, Diritto e pratica tributaria 2005 I p.629-670
- Uckmar, Victor; Oldman, Oliver; Bird, Richard; Cnossen, Sijbren; De Capitani di Vimercate, Paolo: "Brief amicus curiae " alla Corte di giustizia sulla compatibilità dell'Irap con il diritto comunitario, Diritto e pratica tributaria 2005 I p.777-782
- Düsterhaus, Dominik: Es geht auch ohne Karlsruhe: Für eine rechtsschutzorientierte Bestimmung der zeitlichen Wirkungen von Urteilen im Verfahren nach Art. 234 EG, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2006 p.393-397
*P1* Commissione tributaria provinciale di Cremona, ordinanza del 20/09/2007 11/10/2007 (943/01)
Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor
In der Rechtssache C‑475/03
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht von der Commissione tributaria provinciale di Cremona (Italien) mit Entscheidung vom 9. Oktober 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 17. November 2003, in dem Verfahren
Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl
gegen
Agenzia Entrate Ufficio Cremona
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Schiemann und J. Makarczyk, der Richterin N. Colneric (Berichterstatterin), des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Lenaerts, P. Kūris, E. Juhász und G. Arestis,
Generalanwalt: F. G. Jacobs, dann C. Stix-Hackl,
Kanzler: K. Sztranc, Verwaltungsrätin, dann H. von Holstein, Hilfskanzler, und L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. November 2004,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl, vertreten durch R. Tieghi, avvocato,
– der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in der Sitzung vom 17. März 2005,
aufgrund des Beschlusses vom 21. Oktober 2005 zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Dezember 2005,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl, vertreten durch R. Tieghi und R. Esposito, avvocati,
– der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,
– der belgischen Regierung, vertreten durch M. Wimmer als Bevollmächtigten,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Boček als Bevollmächtigten,
– der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,
– der deutschen Regierung, vertreten durch R. Stotz und U. Forsthoff als Bevollmächtigte,
– der spanischen Regierung, vertreten durch N. Díaz Abad als Bevollmächtigte,
– der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues als Bevollmächtigten,
– Irlands, vertreten durch J. O’Reilly, SC, und P. McCann, BL,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch A. Müller und R. Somssich als Bevollmächtigte,
– der niederländischen Regierung, vertreten durch M. de Grave als Bevollmächtigten,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten,
– der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandesz, A. Seiça Neves und R. Lares als Bevollmächtigte,
– der finnischen Regierung, vertreten durch E. Bygglin als Bevollmächtigte,
– der schwedischen Regierung, vertreten durch K. Norman und A. Kruse als Bevollmächtigte,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch E. O’Neill als Bevollmächtigte im Beistand von D. Anderson, QC, und T. Ward, Barrister,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin Stix-Hackl in der Sitzung vom 14. März 2006
folgendes
Urteil
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. September 1991 (ABl. L 376, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banca popolare di Cremona Soc. coop. arl (im Folgenden: Banca popolare) und der Agenzia Entrate Ufficio Cremona über die Erhebung einer regionalen Steuer auf Produktionstätigkeiten.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3. Artikel 33 Absatz 1der Sechsten Richtlinie bestimmt:
„Unbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen, insbesondere der geltenden Gemeinschaftsbestimmungen über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, hindern die Bestimmungen dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, Abgaben auf Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen, sofern diese Steuern, Abgaben und Gebühren im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim Grenzübergang verbunden sind.“
4. Bereits die ursprüngliche Fassung der Richtlinie 77/388 enthielt einen Artikel 33, der mit der vorstehenden Bestimmung im Wesentlichen inhaltsgleich war.
Nationales Recht
5. Die Regionalsteuer auf Produktionstätigkeiten (Imposta regionale sulle attività produttiva, im Folgenden: IRAP) wurde mit dem Decreto legislativo Nr. 446 vom 15. Dezember 1997 (ordentliche Beilage zur GURI Nr. 298 vom 23. Dezember 1997, im Folgenden: Decreto legislativo) eingeführt.
6. Die Artikel 1 bis 4 des Decreto legislativo lauten:
„Artikel 1. Einführung der Steuer
1. Es wird die Regionalsteuer auf Produktionstätigkeiten, die im Gebiet der Regionen ausgeübt werden, eingeführt.
2. Die Steuer ist eine Realsteuer und nicht abzugsfähig für die Zwecke der Einkommensteuern.
Artikel 2. Steuergegenstand
1. Steuergegenstand ist die gewohnheitsmäßige Ausübung einer selbständigen Tätigkeit, die auf die Herstellung von Gegenständen oder den Handel damit oder auf die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet ist. Die von Gesellschaften oder Körperschaften einschließlich der staatlichen Organe und Behörden ausgeübte Tätigkeit ist in jedem Fall Steuergegenstand.
Artikel 3. Steuerpflichtige
1. Steuerpflichtig ist, wer eine oder mehrere Tätigkeiten im Sinne des Artikels 2 ausübt. Steuerpflichtig sind somit:
a) die Gesellschaften und Körperschaften im Sinne des Artikels 87 Absatz 1 Buchstaben a und b des mit dem Decreto del Presidente della Repubblica Nr. 917 vom 22. Dezember 1986 verabschiedeten Einheitstextes über die Einkommensteuern;
b) die Offenen Handels- oder Kommanditgesellschaften und die ihnen … gleichgestellten Gesellschaften sowie die natürlichen Personen, die gewerbliche Tätigkeiten im Sinne des Artikels 51 des genannten Einheitstextes ausüben;
c) die natürlichen Personen, die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts und die ihnen … gleichgestellten Gesellschaften, die Gewerbe und Berufe im Sinne des Artikels 49 Absatz 1 des genannten Einheitstextes ausüben;
d) die landwirtschaftlichen Erzeuger, die Einkünfte aus Landwirtschaft erzielen …
…
2. Nicht steuerpflichtig sind:
a) die gemeinsamen Anlagefonds …
b) die Rentenfonds …
c) die Europäischen Wirtschaftlichen Interessenvereinigungen (EWIV) …
Artikel 4. Besteuerungsgrundlage
1. Die Steuer wird auf den Nettproduktionswert erhoben, der sich aus der innerhalb der Region ausgeübten Tätigkeit ergibt.
…“
7. Die Artikel 5 bis 12 des Decreto legislativo enthalten die Kriterien für die Ermittlung dieses „Nettoproduktionswerts“, die sich je nach der Wirtschaftstätigkeit, deren Ausübung den Steuertatbestand der IRAP bildet, unterscheiden.
8. Nach Artikel 5 des Decreto legislativo wird für die Steuerpflichtigen im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstaben a und b des Decreto legislativo, die nicht die Tätigkeiten von Banken, anderen Finanzeinrichtungen und -gesellschaften sowie Versicherungsunternehmen ausüben, die Besteuerungsgrundlage anhand der Differenz zwischen der Summe der unter die betrieblichen Erträge im Sinne des Artikels 2425 Absatz 1 Abschnitt A des Zivilgesetzbuchs fallenden Posten und der Summe der unter die betrieblichen Aufwendungen im Sinne des Abschnitts B dieser Bestimmung fallenden Posten unter Ausschluss bestimmter Aufwendungsposten, zu denen die Personalkosten zählen, ermittelt.
9. Artikel 2425 des Zivilgesetzbuchs bestimmt unter der Überschrift „Inhalt der Gewinn- und Verlustrechnung“:
„Die Gewinn- und Verlustrechnung ist gemäß der folgenden Gliederung aufzustellen:
A) Betriebliche Erträge:
1) Erträge aus Verkäufen und Leistungen;
2) Veränderungen der Lagerbestände an in Herstellung befindlichen, halbfertigen und fertigen Erzeugnissen;
3) Veränderungen der in Ausführung befindlichen Arbeiten auf Bestellung;
4) Zuwächse des Anlagevermögens durch Eigenleistungen;
5) sonstige Erträge und Einnahmen unter gesonderter Angabe der Zuschüsse für den Betrieb.
Gesamtbetrag.
B) Betriebliche Aufwendungen:
6) für Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie Waren;
7) für Dienstleistungen;
8) für die Nutzung von Gütern Dritter;
9) für Personal:
a) Löhne und Gehälter;
b) Sozialabgaben;
c) Abfindungen;
d) Ruhegeldzahlungen und ähnliche Zahlungen;
e) sonstige Aufwendungen;
10) Abschreibungen und Wertminderungen:
a) Abschreibung des immateriellen Anlagevermögens;
b) Abschreibung des Sachanlagevermögens;
c) sonstige Wertminderungen des Anlagevermögens;
d) Wertminderungen der im Umlaufvermögen enthaltenen Forderungen und der sonstigen flüssigen Mittel;
11) Veränderungen der Lagerbestände an Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen sowie Waren;
12) Rückstellungen für Risiken;
13) sonstige Rückstellungen;
14) andere betriebliche Aufwendungen.
Gesamtbetrag.
Differenz zwischen betrieblichen Erträgen und Aufwendungen (A-B).
…“
10. Nach Artikel 14 des Decreto legislativo wird „[d]ie Steuer … für einzelne Besteuerungszeiträume geschuldet, denen jeweils eine selbständige Steuerschuld entspricht. Der Besteuerungszeitraum bemisst sich nach den für die Zwecke der Einkommensteuern aufgestellten Kriterien.“
11. Nach Artikel 16 des Decreto legislativo wird im Allgemeinen „[d]ie Steuer … ermittelt, indem auf den Nettoproduktionswert ein Satz von 4,25 % erhoben wird“. Dieser Satz ist nach Maßgabe der Region, in der das Unternehmen ansässig ist, veränderlich.
Der Ausgangsrechtsstreit und die Vorlagefrage
12. Die Banca popolare focht vor dem vorlegenden Gericht den Bescheid der Agenzia Entrate Ufficio Cremona an, mit der diese ihr die Erstattung der in den Jahren 1998 und 1999 entrichteten IRAP verweigert hatte.
13. Nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens widerspricht das Decreto legislativo Artikel 33 der Sechsten Richtlinie.
14. Das vorlegende Gericht führt Folgendes aus:
– Erstens werde die IRAP allgemein auf alle gewerblichen Umsätze angewandt, die mit der Erzeugung bzw. Erbringung oder dem Austausch von Gegenständen und Dienstleistungen bei der gewohnheitsmäßigen Ausübung einer Tätigkeit zu diesem Zweck erzielt würden, d. h. beim Betrieb von Unternehmen oder bei der Ausübung von Handwerken und anderen Berufen;
– zweitens laste die IRAP, obwohl sie auf ein anderes Verfahren als das für die Mehrwertsteuer geltende gestützt sei, auf dem Nettowert aus der Produktionstätigkeit, genauer gesagt auf dem Nettowert, der dem Erzeugnis vom Erzeuger „hinzugefügt“ werde, so dass sie eine Mehrwertsteuer sei;
– drittens werde die IRAP auf jeder Stufe des Erzeugungs- oder Vertriebsprozesses erhoben;
– viertens entspreche die Summe der auf den verschiedenen Stufen des Prozesses, von der Erzeugung bis zur Abgabe an den Endverbraucher, als IRAP erhobenen Beträge dem IRAP-Satz, der auf den Verkaufspreis von Gegenständen und Dienstleistungen bei ihrer Abgabe an den Endverbraucher erhoben werde.
15. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob die Unterschiede zwischen der Mehrwertsteuer und der IRAP die wesentlichen Merkmale betreffen, nach denen sich bestimmt, ob beide Steuern zur selben Steuerkategorie gehören oder nicht.
16. Unter diesen Umständen hat die Commissione tributaria provinciale di Cremona beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Artikel 33 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass er es verbietet, die IRAP auf den Nettoproduktionswert zu erheben, der aus der gewohnheitsmäßigen Ausübung einer selbständigen, auf die Erzeugung oder den Austausch von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen gerichteten Tätigkeit stammt?
Zur Vorlagefrage
17. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Artikel 33 der Sechsten Richtlinie der Beibehaltung einer Abgabe entgegensteht, die Merkmale wie diejenigen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuer aufweist.
18. Zu seiner Auslegung ist Artikel 33 der Sechsten Richtlinie in seinen gesetzgeberischen Kontext einzuordnen. Zu diesem Zweck ist, wie im Urteil vom 8. Juni 1999 in den Rechtssachen C‑338/97, C‑344/97 und C‑390/97 (Pelzl u. a., Slg. 1999, I‑3319, Randnrn. 13 bis 20) geschehen, zunächst an die Ziele zu erinnern, die mit der Einführung eines gemeinsamen Mehrwertsteuersystems verfolgt werden.
19. Nach den Begründungserwägungen der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301, im Folgenden: Erste Richtlinie) soll die Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern einen gemeinsamen Markt schaffen, auf dem ein unverfälschter Wettbewerb herrscht und der ähnliche Merkmale aufweist wie ein Binnenmarkt; hierzu sollen die Unterschiede in der Besteuerung ausgeschaltet werden, die geeignet sind, den Wettbewerb zu verfälschen und den Handelsverkehr zu behindern.
20. Mit der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303, im Folgenden: Zweite Richtlinie) und der Sechsten Richtlinie wurde ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem eingeführt.
21. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht gemäß Artikel 2 der Ersten Richtlinie auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen bis zur Einzelhandelsstufe einschließlich, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.
22. Jedoch wird bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer nur abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat; der Mechanismus des Vorsteuerabzugs ist durch Artikel 17 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie so ausgestaltet, dass die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände oder Dienstleistungen auf der Vorstufe belastet worden sind, und dass die Steuer auf jeder Stufe nur den Mehrwert besteuert und letztlich vom Endverbraucher getragen wird.
23. Zur Schaffung gleicher Besteuerungsbedingungen für ein und denselben Umsatz ohne Rücksicht darauf, in welchem Mitgliedstaat er getätigt wird, musste das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie sich aus den Begründungserwägungen der Zweiten Richtlinie ergibt, die in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Umsatzsteuern ersetzen.
24. Aus den gleichen Gründen gestattet Artikel 33 der Sechsten Richtlinie die Beibehaltung oder Einführung von Steuern, Abgaben oder Gebühren auf Lieferungen von Gegenständen, Dienstleistungen und Einfuhren durch einen Mitgliedstaat nur, wenn sie nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben.
25. Ob eine Steuer, Abgabe oder Gebühr den Charakter einer Umsatzsteuer im Sinne des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie hat, hängt vor allem davon ab, ob sie das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems beeinträchtigt, indem sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie kommerzielle Umsätze so belastet, wie es für die Mehrwertsteuer kennzeichnend ist.
26. Der Gerichtshof hat hierzu erläutert, dass Steuern, Abgaben und Gebühren, die die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen, auf jeden Fall als Maßnahmen anzusehen sind, die den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer der Mehrwertsteuer vergleichbaren Art und Weise belasten, auch wenn sie sich nicht in allen Punkten mit der Mehrwertsteuer decken (Urteile vom 31. März 1992 in der Rechtssache C‑200/90, Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I‑2217, Randnrn. 11 und 14, und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C‑308/01, GIL Insurance u. a., Slg. 2004, I‑4777, Randnr. 32).
27. Dagegen steht Artikel 33 der Sechsten Richtlinie nicht der Beibehaltung oder Einführung einer Steuer entgegen, die eines der wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer nicht aufweist (Urteile vom 17. September 1997 in der Rechtssache C‑130/96, Solisnor‑Estaleiros Navais, Slg. 1997, I‑5053, Randnrn. 19 und 20, und GIL Insurance u. a., Randnr. 34).
28. Der Gerichtshof hat im Einzelnen ausgeführt, welches die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer sind. Ungeachtet einiger redaktioneller Unterschiede ergeben sich aus seiner Rechtsprechung vier solche Merkmale: allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte; Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält; Erhebung der Steuer auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze; Abzug der auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Beträge von der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer, so dass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird (vgl. insbesondere Urteil Pelzl u. a., Randnr. 21).
29. Damit Ergebnisse vermieden werden, die im Widerspruch zu dem mit dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem verfolgten Ziel stehen, wie es vorstehend in den Randnummern 20 bis 26 beschrieben worden ist, ist jeder Vergleich der Merkmale einer Steuer wie der IRAP mit den Merkmalen der Mehrwertsteuer im Licht dieses Zieles vorzunehmen. In diesem Rahmen ist besonderes Augenmerk auf das Erfordernis zu legen, dass die Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems jederzeit gewährleistet sein muss.
30. Im vorliegenden Fall ist zunächst im Hinblick auf das zweite wesentliche Merkmal der Mehrwertsteuer festzustellen, dass die IRAP im Gegensatz zur Mehrwertsteuer, die für jeden einzelnen Umsatz auf der Absatzstufe erhoben wird und deren Höhe proportional zum Preis der gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen ist, eine Steuer auf den Nettowert der Produktion des Unternehmens im Laufe eines bestimmten Zeitraums ist. Ihre Bemessungsgrundlage entspricht nämlich der aus der Gewinn- und Verlustrechnung hervorgehenden Differenz zwischen den „betrieblichen Erträgen“ und den „betrieblichen Aufwendungen“ nach ihrer jeweiligen Definition im italienischen Recht. Sie umfasst Bestandteile wie Veränderungen der Lagerbestände, Abschreibungen und Wertminderungen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Lieferung von Gegenständen oder der Erbringung von Dienstleistungen an sich stehen. Unter diesen Umständen kann die IRAP nicht als proportional zum Preis der gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen angesehen werden.
31. Sodann ist in Bezug auf das vierte wesentliche Merkmal der Mehrwertsteuer festzustellen, dass das Bestehen von Unterschieden bei der Berechnungsmethode für den Abzug der bereits entrichteten Steuer nicht dazu führen kann, dass eine Steuer dem Verbot des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie entgeht, wenn solche Unterschiede eher technischer Art und kein Hinderungsgrund dafür sind, dass die betreffende Steuer im Wesentlichen wie die Mehrwertsteuer funktioniert. Dagegen kann eine Steuer, die die Produktionstätigkeiten in einer Weise belastet, dass nicht sicher ist, dass sie wie eine Verbrauchsteuer von der Art der Mehrwertsteuer letztlich vom Endverbraucher getragen wird, aus dem Anwendungsbereich von Artikel 33 der Sechsten Richtlinie herausfallen.
32. Während die Mehrwertsteuer durch den in den Artikeln 17 bis 20 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Vorsteuerabzugsmechanismus nur den Endverbraucher belastet und für die im Produktions- und Vertriebsprozess vor der Stufe der endgültigen Besteuerung tätigen Steuerpflichtigen unabhängig von der Zahl der bewirkten Umsätze völlig neutral ist (Urteile vom 24. Oktober 1996 in der Rechtssache C‑317/94, Elida Gibbs, Slg. 1996, I‑5339, Randnrn. 19, 22 und 23, und vom 15. Oktober 2002 in der Rechtssache C‑427/98, Kommission/Deutschland, Slg. 2002, I‑8315, Randnr. 29), verhält es sich bei der IRAP nicht so.
33. Zum einen nämlich kann ein Steuerpflichtiger den Betrag der IRAP, der bereits in den Preis der Gegenstände und Dienstleistungen eingeflossen ist, nicht genau erkennen. Zum anderen würde die Bemessungsgrundlage der IRAP, wenn ein Steuerpflichtiger die im Zusammenhang mit seinen eigenen Tätigkeiten geschuldete Steuer in seinen Verkaufspreis einfließen lassen könnte, um diese Belastung auf die nachfolgende Stufe des Vertriebs- oder Verbrauchsprozesses abzuwälzen, in der Folge nicht nur den Mehrwert umfassen, sondern auch die Steuer selbst, so dass die IRAP damit auf einen Betrag berechnet würde, der sich nach einem Verkaufspreis bemessen würde, in den die zu zahlende Steuer im Vorgriff bereits eingerechnet worden wäre.
34. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass ein IRAP-Pflichtiger, der an den Endverbraucher verkauft, bei seiner Preisbildung den Betrag der in seine Gemeinkosten eingeflossenen Steuer berücksichtigt, so haben jedenfalls doch nicht alle Steuerpflichtigen die Möglichkeit, die Steuerbelastung in dieser Weise oder in vollem Umfang abzuwälzen (vgl. in diesem Sinne Urteil Pelzl u. a., Randnr. 24).
35. Aus der Gesamtheit der vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass, wie die IRAP‑Regelung zeigt, diese Steuer nicht so konzipiert ist, dass sie auf den Endverbraucher in einer Weise abgewälzt werden soll, wie sie für die Mehrwertsteuer kennzeichnend ist.
36. Zwar hat der Gerichtshof eine Abgabe für mit dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem unvereinbar erklärt, die in Form eines Prozentsatzes des Gesamtbetrags der innerhalb eines bestimmten Zeitraums von einem Unternehmen getätigten Verkäufe und erbrachten Dienstleistungen abzüglich des Betrages der von dem Unternehmen in diesem Zeitraum getätigten Käufe und empfangenen Dienstleistungen erhoben wurde. Er hat ausgeführt, dass die fragliche Abgabe in ihren wesentlichen Teilen der Mehrwertsteuer glich und trotz bestehender Unterschiede ihren Umsatzsteuercharakter behielt (vgl. in diesem Sinne Urteil Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Randnr. 14).
37. Von der Abgabe, um die es in dem genannten Urteil ging, unterscheidet sich die IRAP jedoch in diesem Punkt insoweit, als jene Abgabe, wie aus Randnummer 3 des genannten Urteils hervorgeht, auf den Endverbraucher abgewälzt werden sollte. Die Abgabe wurde auf derselben Bemessungsgrundlage erhoben, nach der sich die Mehrwertsteuer bestimmte, und sie wurde neben der Mehrwertsteuer erhoben.
38. Nach alledem unterscheidet sich eine Steuer, die die Merkmale der IRAP aufweist, in einer Weise von der Mehrwertsteuer, dass sie nicht als Steuer mit dem Charakter einer Umsatzsteuer im Sinne des Artikels 33 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie eingestuft werden kann.
39. Deshalb ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Artikel 33 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er nicht der Beibehaltung einer Abgabe entgegensteht, die Merkmale wie diejenigen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuer aufweist.
Kosten
40. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:
Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 91/680/EWG des Rates vom 16. September 1991 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er nicht der Beibehaltung einer Abgabe entgegensteht, die Merkmale wie diejenigen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuer aufweist.