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Document 61996CJ0185
Judgment of the Court (Fifth Chamber) of 29 October 1998. # Commission of the European Communities v Hellenic Republic. # Failure of a Member State to fulfil its obligations - Benefits for large families - Discrimination. # Case C-185/96.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 29. Oktober 1998.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Leistungen für kinderreiche Familien - Diskriminierung.
Rechtssache C-185/96.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 29. Oktober 1998.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Leistungen für kinderreiche Familien - Diskriminierung.
Rechtssache C-185/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1998 I-06601
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1998:516
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 29. Oktober 1998. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Leistungen für kinderreiche Familien - Diskriminierung. - Rechtssache C-185/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1998 Seite I-06601
Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor
1 Vertragsverletzungsverfahren - Prüfung der Begründetheit durch den Gerichtshof - Maßgebliche Sachlage - Sachlage bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist
(EG-Vertrag, Artikel 169)
2 Mitgliedstaaten - Verpflichtungen - Verstoß - Beibehaltung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren nationalen Regelung - Unzulässigkeit
3 Freizuegigkeit - Arbeitnehmer - Gleichbehandlung - Soziale Vergünstigungen und Familienbeihilfen für kinderreiche Familien - Nationale Regelung, die die Anerkennung als kinderreiche Familie und damit die Gewährung der besagten Vergünstigungen und Beihilfen von der Staatsangehörigkeit abhängig macht - Unzulässigkeit - Keine Rechtfertigung durch bevölkerungspolitische Erwägungen
(EG-Vertrag, Artikel 48 und 52; Verordnungen Nr. 1612/68, Artikel 7, und Nr. 1408/71, Artikel 3, des Rates; Verordnung Nr. 1251/70 der Kommission, Artikel 7; Richtlinie 75/34 des Rates, Artikel 7)
1 Bei einer Klage nach Artikel 169 des Vertrages ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; spätere Veränderungen kann der Gerichtshof nicht berücksichtigen.
2 Die Fortgeltung einer nationalen Regelung, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, lässt selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden. Die Weitergeltung von Rechtsvorschriften, deren Anwendung gegen das Gemeinschaftsrecht verstieße, wenn sie nicht ausser Anwendung geraten wären, kann ebenfalls zu einem solchen Zustand der Ungewißheit führen, der mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar ist.
3 Ein Mitgliedstaat verstösst insofern gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 48 und 52 des Vertrages, Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben, Artikel 7 der Richtlinie 75/34 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben, und Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, wenn er durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
Ein solches Staatsangehörigkeiterfordernis kann nicht mit der Verwirklichung bevölkerungspolitischer Ziele begründet werden, da sozialpolitische Maßnahmen nicht allein deshalb der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entzogen werden können, weil sie aus bevölkerungspolitischen Gründen gewährt werden.
1 Die Kommission hat mit Klageschrift, die am 31. Mai 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Griechische Republik insofern gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 und 52 EG-Vertrag sowie aus Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2), Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. L 142, S. 24), Artikel 7 der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben (ABl. 1975, L 14, S. 10) und Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung: ABl. 1992, C 325, S. 1), verstossen hat, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
Rechtlicher Rahmen
Die Gemeinschaftsregelung
2 Artikel 7 Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt:
"(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, falls er arbeitslos geworden ist, im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung oder Wiedereinstellung, nicht anders behandelt werden als die inländischen Arbeitnehmer.
(2) Er genießt dort die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer."
3 Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70 lautet:
"Das in der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates festgelegte Recht auf Gleichbehandlung gilt auch für die Begünstigten der vorliegenden Verordnung."
4 Artikel 7 der Richtlinie 75/34 bestimmt:
"Die Mitgliedstaaten erhalten für die Verbleibeberechtigten das in den Richtlinien des Rates zur Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufgrund von Abschnitt III des Allgemeinen Programms festgelegte Recht auf Gleichbehandlung aufrecht."
5 Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 lautet:
"(1) Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit besondere Bestimmungen dieser Verordnung nichts anderes vorsehen."
Die griechische Regelung
6 Das Gesetz Nr. 1910/1944 zur Kodifizierung der Rechtsvorschriften zum Schutz kinderreicher Familien legt in den Artikeln 1 und 2 die Voraussetzungen für die Anerkennung als kinderreiche Familie fest und führt in den Artikeln 3 bis 12 verschiedene Vergünstigungen auf, die diese Anerkennung eröffnet. Diese Vergünstigungen werden in Form einer Steuerermässigung oder -befreiung, der Gewährung einer Beihilfe oder einer Vorzugsbehandlung etwa in den Bereichen des Bildungswesens, der Gesundheit, des Wohnungswesens, der Rechtspflege, des Zugangs zur Beschäftigung im öffentlichen Dienst und des Verkehrswesens gewährt.
7 Die Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 zum Schutz kinderreicher Familien sieht die Gewährung von Geldleistungen an kinderreiche Familien vor, die ständig in Griechenland leben. Die Gewährung dieser Leistungen ist u. a. an die griechische Staats- bzw. Volkszugehörigkeit der Familienangehörigen gebunden.
8 Artikel 63 des Gesetzes Nr. 1892/1990 vom 31. Juli 1990 über Maßnahmen zur Überwindung bevölkerungspolitischer Probleme sieht für Mütter, die ein drittes Kind zur Welt gebracht haben, in den Absätzen 1 und 2 eine monatliche Geldleistung während drei Jahren vor. Der als Elternteil einer kinderreichen Familie im Sinne des Gesetzes Nr. 1910/1944 anerkannten Mutter wird nach Absatz 3 der Vorschrift eine monatliche Geldleistung für jedes Kind bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt. Absatz 4 sieht eine lebenslängliche Rente für die Mutter vor, die keinen Anspruch auf die im vorstehenden Absatz vorgesehene Leistung mehr hat. Nach der Durchführungsverordnung vom 7./21. Februar 1991 ist die Gewährung dieser Leistungen an die griechische Staats- bzw. Volkszugehörigkeit der Familienangehörigen gebunden.
Vorverfahren
9 Durch Beschwerden von in Griechenland tätigen Gemeinschaftsangehörigen, denen zufolge die Anerkennung als kinderreiche Familie und die Gewährung der damit verbundenen Vergünstigungen griechischen Staatsangehörigen vorbehalten war, ersuchte die Kommission die griechischen Behörden mit Schreiben vom 2. März und vom 11. Juni 1992 um Auskünfte. Mit Schreiben vom 23. Juni 1992 antworteten diese im wesentlichen, die streitige Regelung bestehe aus einer Reihe von Vorschriften unterschiedlichen, insbesondere sozialen Inhalts, deren gemeinsamer Zweck es sei, den in Griechenland wohnenden kinderreichen Familien zu helfen, unabhängig von der Arbeitnehmereigenschaft der Betreffenden. Was insbesondere das Gesetz Nr. 1892/1990 angehe, unterlägen die hiernach vorgesehenen Leistungen aufgrund des mit diesem Gesetz verfolgten bevölkerungspolitischen Zieles nicht dem vom Vertrag aufgestellten Diskriminierungsverbot.
10 Da die fraglichen Vorschriften und die Verwaltungspraxis auf diesem Gebiet ihrer Auffassung nach eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstossende Ungleichbehandlung darstellten, beschloß die Kommission die Einleitung eines Verfahrens zur Feststellung einer Vertragsverletzung nach Artikel 169 des Vertrages gegen die Griechische Republik und richtete dementsprechend am 20. Juli 1993 ein Aufforderungsschreiben an die griechische Regierung, in dem sie diese aufforderte, hierzu innerhalb von zwei Monaten Stellung zu nehmen.
11 Da die Griechische Republik dieses Schreiben nicht beantwortete, richtete die Kommission mit Schreiben vom 18. Mai 1995 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an sie und forderte sie auf, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nach Zustellung nachzukommen.
12 In Beantwortung dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme übermittelte die griechische Regierung, nachdem sie mit Schreiben vom 3. August 1995 eine Änderung der gerügten Vorschriften angekündigt hatte, mit Schreiben vom 19. Dezember 1995 einen Gesetzentwurf.
13 In einem Schreiben an die griechische Regierung vom 24. April 1996 wies die Kommission darauf hin, daß der Entwurf sich erst in einem Anfangsstadium des Gesetzgebungsverfahrens befinde, daß keine Angaben über den Zeitpunkt gemacht worden seien, zu dem die Verabschiedung erfolgen könnte, und daß er im übrigen anscheinend nicht sämtliche in der mit Gründen versehenen Stellungnahme erhobenen Rügen entkräfte. Sie hat daher die vorliegende Klage erhoben.
14 Nach der Klageerhebung hat die Griechische Republik den Gerichtshof von der Verabschiedung des Gesetzes Nr. 2459/1997, veröffentlicht im Amtsblatt der Griechischen Republik vom 18. Februar 1997, unterrichtet, dessen Artikel 39 die in dem Gesetz Nr. 1910/1944 und in Artikel 63 Absätze 1 bis 3 des Gesetzes Nr. 1892/1990 vorgesehenen Leistungen auch Gemeinschaftsangehörigen zugänglich macht.
Begründetheit
15 Nach Auffassung der Kommission stellen alle durch die streitige griechische Regelung vorgesehenen Vergünstigungen, mit Ausnahme der Befreiung vom Militärdienst nach Artikel 5 des Gesetzes Nr. 1910/1944, die nur die griechischen Staatsangehörigen betreffe, soziale Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 dar. Die Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge nach dem Gesetz Nr. 1910/1944 sowie die Geldleistungen nach der Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 und nach Artikel 63 Absätze 1 bis 3 des Gesetzes Nr. 1892/1990 stellten zugleich Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dar.
16 Daraus ergebe sich, daß die streitige Regelung insoweit, als sie eine unmittelbar auf der Staatsangehörigkeit beruhende Diskriminierung enthalte oder diskriminierend angewandt werde, gegen den in den Artikeln 48 und 52 des Vertrages aufgestellten Grundsatz der Freizuegigkeit sowie speziell gegen den durch Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 zur Anwendung gebrachten Grundsatz der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer verstosse.
17 Die Griechische Republik wirft der Kommission vor, dem - von ihr im Vorverfahren klar zum Ausdruck gebrachten - Vorhaben einer Überprüfung der streitigen Regelung, das nach der Klageerhebung durch die Verabschiedung des Gesetzes Nr. 2459/1997 verwirklicht worden sei, nicht Rechnung getragen zu haben.
18 Nach ständiger Rechtsprechung ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung anhand der Situation zu beurteilen, in der sich der Mitgliedstaat bei Ablauf der Frist befand, die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt wurde; spätere Veränderungen kann der Gerichtshof nicht berücksichtigen (vgl. u. a. Urteil vom 18. Dezember 1997 in der Rechtssache C-361/95, Kommission/Spanien, Slg. 1997, I-7351, Randnr. 13).
19 Da es in der vorliegenden Rechtssache um die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes sowohl auf dem Gebiet der sozialen Vergünstigungen als auch auf dem Gebiet der Leistungen der sozialen Sicherheit geht (zur gleichzeitigen Anwendbarkeit der Verordnungen Nr. 1612/68 und Nr. 1408/71 siehe Urteil vom 12. Mai 1998 in der Rechtssache C-85/96, Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Randnr. 27), ist auf den Inhalt beider Begriffe einzugehen.
20 Was zunächst den Begriff der sozialen Vergünstigung angeht, deckt dieser nach ständiger Rechtsprechung alle Vergünstigungen, die - ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht - den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnorts im Inland gewährt werden und deren Ausdehnung auf die Arbeitnehmer, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, deshalb als geeignet erscheint, deren Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern (Urteil Martínez Sala, Randnr. 25).
21 Aus dieser Definition ergibt sich, daß - wie die Kommission vorgetragen hat - alle nach der streitigen griechischen Regelung vorgesehenen Vergünstigungen für kinderreiche Familien soziale Vergünstigungen im Sinne von Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 darstellen. Nach dieser Vorschrift müssen sie Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten daher unter denselben Bedingungen zugute kommen wie inländischen Arbeitnehmern. Diese Gleichbehandlung muß auch für die Familienangehörigen gelten, denen sie Unterhalt gewähren (Urteil vom 26. Februar 1992 in der Rechtssache C-3/90, Bernini, Slg. 1992, I-1071, Randnr. 28).
22 Die Kommission trägt vor, zwar verlange keine Vorschrift des Gesetzes Nr. 1910/1944 die griechische Staatsangehörigkeit, doch sei die Anerkennung als kinderreiche Familie und dementsprechend die Gewährung der damit verbundenen Vergünstigungen nach ständiger Verwaltungspraxis den griechischen Staatsangehörigen vorbehalten. Die Griechische Republik hat dieser Behauptung - die im übrigen dadurch bestätigt wird, daß Artikel 39 des Gesetzes Nr. 2459/1997 den Anwendungsbereich des Gesetzes Nr. 1910/1944 auf Gemeinschaftsangehörige ausgedehnt hat - nicht widersprochen.
23 Im übrigen binden sowohl die Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 als auch das Gesetz Nr. 1892/1990 in Verbindung mit der Durchführungsverordnung vom 7./21. Februar 1991 die Gewährung der durch sie vorgesehenen Leistungen ausdrücklich an die griechische Staats- bzw. Volkszugehörigkeit der Familienangehörigen.
24 Durch die Aufstellung eines diskriminierenden Staatsangehörigkeitserfordernisses stellt diese Verwaltungspraxis ebenso wie die genannten Rechtsvorschriften einen Verstoß gegen Artikel 48 Absatz 2 des Vertrages, Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1612/68 und Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70 dar. Aus demselben Grund verstossen sie auch gegen Artikel 52 des Vertrages und Artikel 7 der Richtlinie 75/34 (Urteil vom 10. März 1993 in der Rechtssache C-111/91, Kommission/Luxemburg, Slg. 1993, I-817, Randnr. 17).
25 Was zweitens den Begriff der Leistung der sozialen Sicherheit angeht, hat der Gerichtshof in zahlreichen Fällen festgestellt, daß eine Leistung als Leistung der sozialen Sicherheit angesehen werden kann, wenn sie den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird und sich auf eines der in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (Urteil Kommission/Luxemburg, Randnr. 29, mit weiteren Nachweisen).
26 Aus dieser Definition ergibt sich, daß die zu den Leistungen nach dem Gesetz Nr. 1910/1944 gehörenden Leistungen auf dem Gebiet der Gesundheitsvorsorge Leistungen der sozialen Sicherheit darstellen, da sie unter die in Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 aufgeführte Kategorie der Leistungen bei Krankheit fallen.
27 Das gleiche gilt für die Geldleistungen nach der Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 und für diejenigen nach Artikel 63 Absätze 1 bis 4 des Gesetzes Nr. 1892/1990, die als Familienleistungen im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 Buchstabe h der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sind.
28 Daraus folgt, daß die Verwaltungspraxis und die Rechtsvorschriften, die die Gewährung dieser Leistungen von diskriminierenden Staatsangehörigkeitserfordernissen abhängig machen, auch gegen den in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgestellten Grundsatz der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer verstossen, der auch von ihren Familienangehörigen geltend gemacht werden kann (Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93, Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097).
29 Die Griechische Republik hat hierzu vorgetragen, die meisten der durch das Gesetz Nr. 1910/1944 vorgesehenen Vergünstigungen seien gegenstandslos geworden.
30 Die - wenn auch lediglich formale - Weitergeltung von Rechtsvorschriften, deren Anwendung gegen das Gemeinschaftsrecht verstieße, wenn sie nicht ausser Anwendung geraten wären, kann zu Unsicherheiten führen, die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit unvereinbar sind, da eine solche Situation die Schwierigkeiten der potentiellen Empfänger, den Umfang ihrer Rechte zu erkennen, verstärkt.
31 Die griechische Regierung hat ferner vorgetragen, ungeachtet der ausdrücklichen Vorschriften der Gesetzesverordnung Nr. 1153/1972 seien die darin vorgesehenen Leistungen nicht allein griechischen Staatsangehörigen vorbehalten, sondern würden entsprechend den unmittelbar anwendbaren Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 auch Gemeinschaftsangehörigen gewährt.
32 Hierzu genügt die Feststellung, daß die unveränderte Fortgeltung einer nationalen Regelung, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes selbst dann, wenn der fragliche Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art bestehen lässt, weil die betroffenen Normadressaten bezueglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewißheit gelassen werden (Urteil vom 11. Juni 1991 in der Rechtssache 307/89, Kommission/Frankreich, Slg. 1991, I-2903, Randnr. 13, mit weiteren Nachweisen).
33 Die griechische Regierung hat schließlich vorgetragen, das Erfordernis der griechischen Staatsangehörigkeit, dem die Gewährung der in Artikel 63 Absätze 1 bis 4 des Gesetzes Nr. 1892/1990 vorgesehenen Leistungen unterworfen sei, sei dadurch gerechtfertigt, daß diese Leistungen der Verwirklichung bevölkerungspolitischer Ziele dienten. In bezug auf die in Artikel 63 Absatz 4 vorgesehene lebenslängliche Rente für die Mutter einer kinderreichen Familie hat die griechische Regierung insbesondere vorgetragen, dieses Erfordernis sei dadurch gerechtfertigt, daß es sich hierbei um eine Auszeichnung handele, mit der ein Beitrag zum Allgemeinwohl entgolten werden solle, der in Anbetracht des in Griechenland festzustellenden Geburtenrückgangs einem für das Land erbrachten Dienst gleichzustellen sei.
34 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes können sozialpolitische Maßnahmen nicht allein deshalb der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entzogen werden, weil sie aus bevölkerungspolitischen Gründen gewährt werden (Urteil vom 14. Januar 1982 in der Rechtssache 65/81, Reina, Slg. 1982, 33, Randnr. 15).
35 Demgemäß ist festzustellen, daß die Griechische Republik insofern gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 48 und 52 des Vertrages sowie aus Artikel 7 der Verordnung Nr. 1612/68, Artikel 7 der Verordnung Nr. 1251/70, Artikel 7 der Richtlinie 75/34 und Artikel 3 der Verordnung Nr. 1408/71 verstossen hat, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
Kosten
36 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Griechische Republik unterlegen ist und die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat, sind der Griechischen Republik die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
(Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
37 Die Griechische Republik hat insofern gegen ihre Verpflichtungen aus
- Artikel 48 und 52 EG-Vertrag,
- Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft,
- Artikel 7 der Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 der Kommission vom 29. Juni 1970 über das Recht der Arbeitnehmer, nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verbleiben,
- Artikel 7 der Richtlinie 75/34/EWG des Rates vom 17. Dezember 1974 über das Recht der Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, nach Beendigung der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verbleiben,
- und Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern,
verstossen, als sie durch Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraxis gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit von der Anerkennung als kinderreich im Hinblick auf die Gewährung der Leistungen, die für kinderreiche Familien vorgesehen sind, und von der Gewährung von Familienbeihilfen ausschließt.
38 Die Griechische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.