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Document 61990CC0362
Opinion of Mr Advocate General Lenz delivered on 26 February 1992. # Commission of the European Communities v Italian Republic. # Failure of a Member State to fulfil obligations - Public supply contracts - Admissibility. # Case C-362/90.
Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 26. Februar 1992.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Öffentliche Lieferaufträge - Zulässigkeit.
Rechtssache C-362/90.
Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 26. Februar 1992.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Öffentliche Lieferaufträge - Zulässigkeit.
Rechtssache C-362/90.
Sammlung der Rechtsprechung 1992 I-02353
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1992:95
Schlussanträge des Generalanwalts Lenz vom 26. Februar 1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - OEFFENTLICHE LIEFERAUFTRAEGE - ZULAESSIGKEIT. - RECHTSSACHE C-362/90.
Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-02353
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Herr Präsident,
meine Herren Richter!
A - Einführung
1. Mit dem vorliegenden Vertragsverletzungsverfahren beanstandet die Kommission einen Verstoß der Unità Sanitaria locale XI - Genua 2 (USL) gegen die Richtlinie 77/62/EWG über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (1). Die USL veröffentlichte am 10. Oktober 1988 eine Ausschreibung für die Lieferung mehrerer Erzeugnisse im Laufe des Jahres 1989, u. a. von Rindfleisch für einen Betrag von 5 800 000 000 LIT. In der Ausschreibung war eine Mindestvoraussetzung für die Zulassung zur Teilnahme am Vergabeverfahren aufgelegt, die die Kommission für gemeinschaftsrechtswidrig erachtet, und zwar mussten die potentiellen Bieter die Lieferung gleicher Erzeugnisse während der letzten drei Jahre (1985 bis 1987) für einen Betrag von mindestens dem Sechsfachen des Wertes jeder angeforderten Lieferung nachweisen, wobei 50 % dieses Betrages Lieferungen an öffentliche Auftraggeber betreffen mussten.
2. Die italienische Regierung verteidigt sich gegenüber der Klage auf mehreren Ebenen. Zunächst hat sie in der Klagebeantwortung die Klagerücknahme angeregt, weil die umstrittene Klausel nach Ablauf der Gültigkeit der Ausschreibung am 31. Dezember 1989 keine Wirkungen mehr zeitigte und in die späteren Ausschreibungen auch nicht wieder aufgenommen worden sei. Im weiteren Verlauf des schriftlichen Verfahrens hat die beklagte Regierung eine förmliche Unzulässigkeitsrüge erhoben, gestützt auf den Umstand, daß zum Zeitpunkt des Erlasses der begründeten Stellungnahme im März 1990 und damit zwangsläufig vor Ablauf der dort gesetzten Frist kein Verstoß mehr vorgelegen habe.
3. Die italienische Regierung vertritt ausserdem die Ansicht, einem Mitgliedstaat könne die Verletzung einer Richtlinie durch eine öffentliche Stelle nicht vorgeworfen werden, wenn die Richtlinie ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt worden wäre. Der Mitgliedstaat habe damit seinen aus Artikel 189 EWG-Vertrag fließenden Pflichten genügt. Im übrigen gehe die nationale Durchführungsvorschrift der Richtlinie vor mit der Konsequenz, daß gegen etwaige Rechtsverstösse nur Rechtsschutz im Rahmen des innerstaatlichen Rechts gewährt werden könne.
4. Zum materiellen Inhalt des Klagebegehrens macht die italienische Regierung geltend, die beanstandete Klausel sei kein unzulässiges Ausschlußkriterium, sondern lediglich ein Element der Beweiswürdigung der in Übereinstimmung mit der Richtlinie geforderten Nachweise für die technische Leistungsfähigkeit der potentiellen Bieter.
5. Die Kommission beantragt,
- festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge verstossen hat, indem die Unità Sanitaria locale XI - Genua 2 verlangt hat, daß 50 % des Mindestrechnungswertes der Lieferungen für die letzten drei Jahre, als Zulassungsvoraussetzung zu einer öffentlichen Lieferausschreibung, Lieferungen an öffentliche Auftraggeber betreffen,
- der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
6. Die italienische Regierung beantragt
- die Klage abzuweisen,
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
In der Gegenerwiderung beantragt sie:
- die Klage für unzulässig zu erklären.
7. Hinsichtlich des Sachverhalts des rechtlichen Rahmens des Falles sowie dem Parteivorbringen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen.
B - Stellungnahme
1. Zulässigkeit
8. Die italienische Regierung hat erst in der Duplik einen förmlichen Antrag auf Zurückweisung der Klage wegen Unzulässigkeit gestellt, so daß die Frage aufzuwerfen ist, ob das rechtzeitig war, um als ordnungsgemässer Antrag des Beklagten berücksichtigt werden zu können.
9. Zum einen hat die beklagte Regierung alle Argumente, die nach der von ihr vertretenen Ansicht zur Unzulässigkeit der Klage führen, bereits in der Klagebeantwortung vorgebracht. Zum anderen hat sie in der Antwort auf die Klageschrift beantragt, die Klage abzuweisen. In diesem Antrag ist auch der Antrag enthalten, die Klage wegen Unzulässigkeit abzuweisen. Die Klägerin hatte Gelegenheit, in der Replik auf die Argumente der Beklagten einzugehen. Schließlich ist die Prüfung der Zulässigkeit einer Klage eine Voraussetzung, die der Gerichtshof von Amts wegen vornimmt. Aus den vorstehenden Gründen besteht kein Anlaß, etwaige Zulässigkeitseinwände wegen Verspätung des Vorbringens unberücksichtigt zu lassen.
10. Die Unzulässigkeit der Klage könnte sich im vorliegenden Fall daraus ergeben, daß - wie von der Kommission im schriftlichen Verfahren vorgetragen - die begründete Stellungnahme des Vorverfahrens erst im März 1990 erging, der behauptete Verstoß durch die Ausschreibung für das Jahr 1989 folglich bei Ablauf der Frist in der begründeten Stellungnahme zur Behebung des Vertragsverstosses nicht mehr vorgelegen haben kann. Überdies war die umstrittene Klausel nicht mehr in die Ausschreibungen für die Jahre 1990 und 1991 aufgenommen worden.
11. Gemäß Artikel 169 Absatz 2 EWG-Vertrag ist das Vorliegen einer Vertragsverletzung nach Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist eine Klagevoraussetzung. Nach der in diesem Sinn zu verstehenden Rechtsprechung (2) besteht kein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung des Vertragsverstosses durch den Gerichtshof, wenn der Verstoß vor diesem Zeitpunkt beendet wurde. Diese Rechtsprechung ist konsequent im Sinne der Ratio des Vorverfahrens, das auf die Behebung einer Vertragsverletzung im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens abzielt. Demnach ist grundsätzlich das Feststellungsinteresse einer Vertragsverletzungsklage zu verneinen, wenn der Vertragsverstoß bei Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist abgestellt ist.
12. Die Rechtsprechung zur positiven Feststellung des Rechtsschutzinteresses im Vertragsverletzungsverfahren (3) - etwa wegen möglicherweise bestehender Ersatzpflichten des beklagten Mitgliedstaats gegenüber anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft oder betroffenen einzelnen - greift erst dort ein, wo die behauptete Vertragsverletzung nach Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist ausgeräumt wird. Bei vor diesem Zeitpunkt beendeten Verstössen ist daher grundsätzlich kein Raum, das Rechtsschutzinteresse zu bejahen.
13. Ausnahmen von dieser Regel können nur in Fällen von Saisonverstössen (4) geboten sein, wenn die Vertragsverletzung wegen ihrer Zielsetzung und rechtlichen Natur nur befristet eingeführt wird (wie z. B. bei saisonabhängigen Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen zum Schutz der einheimischen Wirtschaftsteilnehmer) und die Durchführung des Vorverfahrens zur Vertragsverletzungsklage dadurch rein zeitlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird.
14. Im vorliegenden Fall ist meines Erachtens kein Anlaß gegeben, die Möglichkeiten des Eingreifens einer solchen Ausnahme zu prüfen, wenngleich die beanstandete Klausel in der Ausschreibung nur während eines bestimmten von vornherein festgelegten Zeitraumes Gültigkeit hatte, weil dieser Zeitraum so bemessen war, daß die ordnungsgemässe Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens ohne Zeitnot möglich war: Die Veröffentlichung der Ausschreibung erfolgte am 10. Oktober 1988 und verlor ihre Wirkung mit Ablauf des Jahres 1989. Es stand somit ein Zeitraum von knapp 15 Monaten zur Verfügung, um die Unregelmässigkeiten aussergerichtlich zu verfolgen.
15. Gemessen daran, daß die Kommission dem beklagten Mitgliedstaat jeweils nur 14 Tage zur Beantwortung ihrer vorgerichtlichen Schreiben eingeräumt hat (Aufforderungsschreiben vom 10. September 1989 und begründete Stellungnahme vom 27. März 1990), kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Bearbeitung des Falles aussergewöhnlich lange Fristen - etwa wegen tatsächlich noch anzustellender Nachforschungen bzw. der Komplexität des Problems - beansprucht hätte.
16. Wenn es somit objektiv unschwer möglich war, das Vorverfahren zur Vertragsverletzungsklage während der fast 15monatigen Gültigkeit der Ausschreibung durchzuführen, ist kein Grund erkennbar, von der Regel des Vorliegens der Vertragsverletzung bei Ablauf der Frist in der begründeten Stellungnahme abzuweichen. Die Klage ist folglich als unzulässig zu betrachten.
17. Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung am 16. Januar 1992 vorgetragen, die begründete Stellungnahme vom 27. März 1990 sei eigentlich eine zweite Stellungnahme. Die erste begründete Stellungnahme sei am 17. August 1989 ergangen. Da die beklagte Regierung am 30. Juni 1989, bei der Kommission eingegangen am 6. Juli 1989, mit erheblicher Verspätung auf das Aufforderungsschreiben reagiert habe, der Inhalt dieses Schreibens aber bei der Redaktion der begründeten Stellungnahme vom 17. August 1989 nicht habe berücksichtigt werden können, sei es opportun gewesen, eine zweite begründete Stellungnahme zu verfassen, um allen Einwendungen der italienischen Regierung Rechnung zu tragen. Die Verzögerung des Vorverfahrens gehe deshalb zu Lasten der beklagten Regierung.
18. Die erste Frage, die sich bei der Begutachtung dieses Vorbringens stellt, ist, ob die erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen tatsächlichen Elemente überhaupt berücksichtigt werden dürfen.
19. Artikel 42 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes lautet:
"§ 1: Die Parteien können in der Erwiderung oder in der Gegenerwiderung noch Beweismittel benennen. Sie haben die Verspätung zu begründen.
§ 2: Im übrigen können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.
...
Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Vorbringens bleibt dem Endurteil vorbehalten."
20. Die an den beklagten Mitgliedstaat gerichtete begründete Stellungnahme vom 17. August 1989 ist sicher keine Tatsache, die erst im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zutage getreten wäre. Die ordnungsgemässe Durchführung des Vorverfahrens ist vielmehr eine Zulässigkeitsvoraussetzung für die Vertragsverletzungsklage nach Artikel 169 EWG-Vertrag, für die der Kommission die Darlegungs- und Beweislast obliegt. Die Kommission hat sich von Anfang an nur auf die begründete Stellungnahme vom 27. März 1990 gestützt. Erst auf eine Frage des Gerichtshofes nach dem Gegenstand ihrer Klage vor dem Hintergrund der am 27. März 1990 abgegebenen begründeten Stellungnahme und der Klageerhebung am 11. Dezember 1990 fand sich die Kommission veranlasst, die frühere begründete Stellungnahme zu erwähnen. Die Frage des Gerichthofes kann schwerlich als "rechtlicher Grund" im Sinne des Artikels 42 § 2 der Verfahrensordnung gewertet werden, der die Erheblichkeit des Verteidigungsvorbringens verursacht hätte.
21. Ich bin deshalb der Meinung, der gesamte Vortrag zu der angeblich ersten begründeten Stellungnahme sollte als verspätet und damit als unzulässig zurückgewiesen werden, so daß es bei der bereits festgestellten Unzulässigkeit der Klage bleibt.
22. Unterstellt man dennoch zum Zwecke einer hypothetischen Betrachtung den Vortrag der Kommission als einschlägige Verteidigung, dann ist nur schwer nachvollziehbar, warum die Einwände der italienischen Regierung aus ihrem Schreiben vom 30. Juni 1989, bei der Kommission eingegangen am 6. Juli 1989, bei einer Stellungnahme vom 17. August 1989, während eines Bearbeitungszeitraumes von sechs Wochen, keine Berücksichtigung finden konnten, während der italienischen Regierung jeweils nur 14 Tage zur Beantwortung des Aufforderungsschreibens und der begründeten Stellungnahme eingeräumt wurden. Warum unter diesen Umständen die Entsendung einer zweiten Stellungnahme im März 1990 von der italienischen Regierung zu verantworten sein soll, vermag ich nicht zu erkennen. Meines Erachtens ist die verzögerte Bearbeitung des Falles im allgemeinen und die begründete Stellungnahme vom 27. März 1990 im besonderen, allein von der Kommission zu vertreten, so daß wegen Beendigung des behaupteten Verstosses vor Ablauf der Frist in der begründeten Stellungnahme kein Rechtsschutzinteresse für die Klage bestand.
23. Da die Klage somit als unzulässig zurückzuweisen ist, werden die folgenden Überlegungen zur Begründetheit der Klage nur hilfsweise angestellt.
2. Begründetheit
a) Zum Umfang der Pflichten eines Mitgliedstaats bei der Umsetzung und Anwendung von Richtlinien
24. Die italienische Regierung macht als Argument gegen den ihr zur Last gelegten Verstoß geltend, nach ordnungsgemässer Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht gingen die innerstaatlichen Normen vor, und zwar sowohl hinsichtlich der materiellen Vorschriften als auch im Hinblick auf den Rechtsschutz.
25. Im Rahmen des Vorverfahrens hat sich die beklagte Regierung im Antwortschreiben vom 30. Juni 1989 damit verteidigt, die beanstandete Klausel stehe im Einklang mit der Durchführungsnorm zu der Richtlinie 77/62. Im Verlauf des weiteren Verfahrens ist stets von der korrekten Umsetzung der Richtlinie ausgegangen worden.
26. Die Einwände der italienischen Regierung erfordern eine Auseinandersetzung mit dem Umfang der Pflichten eines Mitgliedstaats bei der Umsetzung und Anwendung von Richtlinien. Die beklagte Regierung geht ganz sicher fehl, wenn sie die Ansicht vertritt, der Mitgliedstaat habe mit der korrekten Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht all seinen Pflichten aus Artikel 189 zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts genügt. Die förmliche Umsetzung ist nur eine der gemeinschaftsrechtlichen Pflichten des Mitgliedstaats. Daneben besteht die Verpflichtung, die Ziele der Richtlinie nicht nur abstrakt durch gesetzgeberische Maßnahmen, sondern auch tatsächlich in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zu verwirklichen. Diese Pflicht, die "praktische Wirksamkeit" (5) einer Richtlinie zu gewährleisten, trifft alle staatlichen Stellen originär. Sie folgt zum einen aus Artikel 189 EWG-Vertrag unmittelbar sowie aus Artikel 5 EWG-Vertrag, der den Mitgliedstaaten auferlegt, alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfuellung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus dem Vertrag oder aus den Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben.
27. Vor dem Hintergrund dieser Pflichtenlage ist dem Einwand der italienischen Regierung zu begegnen, die Kommission habe erst in der Klageerwiderung darauf abgestellt, die italienische Regierung hätte nicht nur die Richtlinie 77/62 in italienisches Recht umsetzen, sondern auch deren praktische Wirksamkeit gewährleisten müssen. Es handele sich dabei um eine andere Rüge als in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klageschrift, wodurch die Zurückweisung des Vortrags wegen Verspätung angeregt wird.
28. Seitens der Kommission war von Anfang an der konkrete Verstoß durch die Ausschreibung der USL - Genua 2 Gegenstand des Verfahrens. Erst auf das Verteidigungsvorbringen der italienischen Regierung im gerichtlichen Verfahren, sie treffe nach erfolgter Umsetzung der Richtlinie unmittelbar keine weiteren Pflichten, verwies die Kommission auf die nach ihrer Ansicht bestehende weitergehende mitgliedstaatliche Einstandspflicht.
29. Bei diesem Vortrag handelt es sich lediglich um die Darstellung des rechtlichen Vorverständnisses seitens der Kommission, welches sie überhaupt erst zur Verfolgung des mutmaßlichen Verstosses veranlasste. Von einer Erweiterung des Streitgegenstandes bzw. einer neuen Rüge kann deshalb nicht ausgegangen werden.
30. Richtlinien teilen grundsätzlich den Vorrangcharakter (6) des Gemeinschaftsrechts. Nach korrekter Umsetzung ist bei Auslegungszweifeln des innerstaatlichen Rechtsakts daher stets die Richtlinie ausschlaggebend. Bei verspäteter bzw. fehlerhafter Umsetzung hat der Gerichtshof sogar, innerhalb der von ihm gezogenen Grenzen (7), die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinienbestimmungen anerkannt (8).
31. Sollte demnach - wie im Vorverfahren angeklungen - eine Diskrepanz zwischen Umsetzungsrechtsakt und Richtlinie Auslöser für eine etwaige Vertragsverletzung sein, dann wäre allein die Richtlinie der Maßstab des Verhaltens. In einem solchen Fall bestuende die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit - unabhängig davon, ob mit dem konkreten Vertragsverletzungsverfahren erfolgt - sowohl in der fehlerhaften Umsetzung als auch in der richtlinienwidrigen Rechtsanwendung.
32. Wäre hingegen die Umsetzung korrekt erfolgt, so wäre für die Entscheidung über das Vorliegen einer Vertragsverletzung ebenfalls die Richtlinie als Auslegungsmaßstab heranzuziehen. In jedem Fall kommt es deshalb darauf an, ob die Vorschriften der Richtlinie 77/62 bei der streitigen Ausschreibung der USL zutreffend angewendet wurden.
33. Eine ganz andere Frage - die hier nicht zur Beurteilung ansteht - ist die der Rechtsfolge eines einfachen Rechtsverstosses gegen die innerstaatlichen Durchführungsvorschriften durch unabhängige Rechtssubjekte. Soweit das Handeln einer staatlichen Stelle in Frage steht, ist sowohl die formale Zurechenbarkeit der Maßnahme im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens in den Verantwortungsbereich des Mitgliedstaats zu bejahen (9) als auch von der materiellen Verpflichtung mitgliedstaatlicher Behörden und Einrichtungen zur Verwirklichung des Gemeinschaftsrechts (10) auszugehen.
34. Wenn schon im Vertragsverletzungsverfahren allgemein das Verhalten staatlicher Stellen Gegenstand der Verhaltenskontrolle ist, weil der Mitgliedstaat gegenüber der Gemeinschaft auch für diejenigen Einrichtungen einstehen muß, die organisatorisch verselbständigt sind, so gilt das erst recht im Anwendungsbereich der Richtlinie über die Ausschreibung öffentlicher Lieferaufträge und öffentlicher Bauaufträge (11).
35. Die Richtlinie 77/62 schreibt ausdrücklich in Artikel 1 Buchstabe b vor, als "öffentliche Auftraggeber" gelten "der Staat, die Gebietskörperschaften und die in Anhang I aufgeführten juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder - in den Mitgliedstaaten, die diesen Begriff nicht kennen - die dort aufgeführten gleichwertigen Einrichtungen".
36. Die USL - Genua 2 als ausschreibende Stelle ist eine kommunale Stelle, deren Charakter als öffentlicher Auftraggeber i.S.d. Richtlinie unstreitig ist.
37. In dem Urteil in der Rechtssache 31/87 (12), auf das sich beide Parteien des hiesigen Rechtsstreits gestützt haben, geht es gerade um die Frage, ob die dort handelnde Stelle als eine staatliche zu betrachten sei, um in den subjektiven Anwendungsbereich der Richtlinie 71/305 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge zu fallen. Der italienischen Regierung ist beizupflichten, daß es sich in der Rechtssache 31/87 um ein Vorabentscheidungsurteil handelte, so daß über die Verantwortlichkeit des Mitgliedstaats im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens bei einem mutmaßlichen Verstoß gegen die gemeinschaftsrechtlichen Ausschreibungsvorschriften nicht entschieden wurde. Dennoch ist angesichts der bereits beschriebenen Einstandspflicht des Mitgliedstaats gegenüber der Gemeinschaft bei der Durchführung von Richtlinien grundsätzlich davon auszugehen, daß das Handeln einer staatlichen Stelle im Sinne der Richtlinie in den gemeinschaftsrechtlichen Verantwortungsbereich des Mitgliedstaats fällt. Diese Verknüpfung folgt aus der Definition des subjektiven Anwendungsbereichs der Richtlinie zur Vergabe öffentlicher Aufträge.
38. Die Einwände der beklagten Regierung zur Anwendbarkeit der Richtlinie als Prüfungsmaßstab für eventuelle Vertragsverletzung sind folglich zurückzuweisen.
b) Zum Verhältnis der Rechtswege in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten
39. Schließlich ist auf das Argument der italienischen Regierung einzugehen, der Rechtsschutz wegen eines möglichen Verstosses gegen die gemeinschaftsrechtlichen Ausschreibungsvorschriften sei vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu suchen, das gemeinschaftsrechtliche Klagesystem sei in einem solchen Falle subsidiär.
40. Dazu ist zu bemerken, daß es keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf gibt, der dem Vertragsverletzungsverfahren vorgehen könnte. Bei der Vertragsverletzungsklage geht es immer um das Pflichtenverhältnis Mitgliedstaat und Gemeinschaft. Auch eine allgemeine Regel, daß der gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutz grundsätzlich zurücktrete, lässt sich nicht aufstellen. Allenfalls bei Schadensersatzklagen sind Konstellationen denkbar, in denen eine Subsidiarität angenommen werden kann. Ein Vertragsverletzungsurteil kann auch durchaus über die abstrakte Feststellung einer Vertragsverletzung hinaus Wirkungen in einem Schadensersatzprozeß eines Geschädigten entfalten (13).
41. Einer materiellen Prüfung, ob die beanstandete Klausel gemeinschaftsrechtswidrig ist, stehen somit keine Hindernisse entgegen. Die Frage reduziert sich darauf, ob die Voraussetzung, daß 50 % der des Nachweises bedürftigen Lieferungen an öffentliche Auftraggeber erbracht sein müssen, eine unzulässige Teilnahmebedingung darstellt.
c) Zur Verletzung der Richtlinie 77/62
42. Artikel 14 der Richtlinie 77/62 sieht vor:
"Bei den nicht offenen Verfahren enthält die Bekanntmachung mindestens folgende Angaben:
...
d) ... die zur Beurteilung der wirtschaftlichen und technischen Mindestbedingungen, welche der öffentliche Auftraggeber von den Unternehmern bei deren Wahl verlangt, erforderlichen Auskünfte und Formalitäten; dabei darf es sich um keine anderen als die in den Artikeln 20, 22 und 23 genannten Auskünfte und Formalitäten handeln."
43. Nach Artikel 23 der Richtlinie, der den Nachweis der technischen Leistungsfähigkeit des Unternehmers zum Gegenstand hat, kann dieser folgendermassen erbracht werden:
"...
a) durch eine Liste der wesentlichen in den letzten drei Jahren erbrachten Lieferungen mit Angabe des Rechnungswerts, des Lieferungszeitpunkts sowie der öffentlichen oder privaten Auftraggeber:
- bei Lieferungen an öffentliche Auftraggeber durch eine von der zuständigen Behörde ausgestellte oder beglaubigte Bescheinigung;
- bei Lieferungen an private Auftraggeber durch eine vom Käufer ausgestellte Bescheinigung; ist eine derartige Bescheinigung nicht erhältlich, so ist eine einfache Erklärung des Unternehmers zulässig".
44. Die Vorschrift ist eine Aufzählung der Beweismittel, mit denen das Auftragsvolumen eines Unternehmens während eines bestimmten Zeitraums nachgewiesen werden kann, um daraus die notwendigen Schlüsse auf die technische Leistungsfähigkeit zu ziehen. Die Formulierung des Artikels 14 der Richtlinie in Verbindung mit Artikel 23 lässt darauf schließen, daß die Aufzählung der Beweismittel für die technische Leistungsfähigkeit abschließend ist. Anders verhält es sich bei dem Nachweis der finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Unternehmens, was der Formulierung des Artikels 22 zu entnehmen ist, im vorliegenden Rechtsstreit jedoch keine Rolle spielt.
45. In Artikel 23 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie kommt es in erster Linie auf den Lieferumfang an. Die Trennung zwischen öffentlichen und privaten Auftraggebern scheint deshalb vorgenommen zu sein, weil für deren Belieferung jeweils andere Beweismittel vorgesehen sind.
46. Jede im voraus festgelegte Mindestliefermenge an öffentliche oder private Auftraggeber ist ein zusätzliches Kriterium und damit eine Erweiterung der von der Richtlinie vorgesehenen Nachweisforderungen. Diese Feststellung gilt sowohl für ein Mindestliefervolumen an eine Kategorie von Auftraggebern als auch für den Nachweis einer absoluten Mindestliefermenge zum Beweis der technischen Leistungsfähigkeit, wenngleich letztere im Rahmen der Nachweise über die finanzielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gemäß Artikel 22 Absatz 1 Buchstabe a unter Umständen zulässig ist, was hier aber letztlich dahinstehen kann.
47. Bei der Festlegung eines bestimmten Prozentsatzes des Auftragsvolumens von Lieferungen an öffentliche Auftraggeber handelt es sich nicht - wie von der italienischen Regierung behauptet - um eine Frage der Beweiswürdigung. Denn ausgeschlossen werden im vorhinein all jene Bieter, die die verlangte Mindestliefermenge an öffentliche Auftraggeber nicht erfuellen. Die Beweiswürdigung findet erst eine Stufe später statt, d. h., wenn die zugelassenen Bieter die Liefernachweise erbracht haben und dann in den Auswahlvorgang eine Bewertung mit einfließt, an welche Auftraggeber geliefert wurde.
48. Im Ergebnis ist die beanstandete Klausel folglich als ein Ausschlußkriterium zu bewerten, das in der Richtlinie nicht vorgesehen ist.
C - Schlussantrag
49. Ich schlage folgende Entscheidung vor:
1) Die Klage wird zurückgewiesen.
2) Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
(*) Originalsprache: Deutsch.
(1) Richtlinie 77/62/EWG des Rates vom 21. Dezember 1976 (ABl. L 13, S. 1).
(2) Urteil vm 15. Januar 1986 in der Rechtssache 52/84 (Kommission/Belgien, Slg. 1986, 89); Urteil vom 5. Juni 1986 in der Rechtssache 103/84 (Kommission/Italien, Slg. 1986, 1759, Randnrn. 6 ff.); vgl. auch meine Schlussanträge in dieser Rechtssache, Punkt B. 1. a.; Urteil vom 10. März 1987 in der Rechtssache 199/85 (Kommission/Italien, Slg. 1987, 1039, Randnrn. 7 ff.); Urteil vom 24. März 1988 in der Rechtssache 240/86 (Kommission/Griechenland, Slg. 1988, 1835, Randnrn. 15 und 16); vgl. auch meine Schlussanträge in dieser Rechtssache, Randnrn. 7 ff.
(3) Erstmals Urteil vom 9. Juli 1970 in der Rechtssache 26/69 (Kommission/Frankreich, Slg. 1970, 565); vgl. auch Urteil vom 30. Mai 1991 in der Rechtssache C-361/88 (Kommission/Bundesrepublik Deutschland); Urteil vom 30. Mai 1991 in der Rechtssache C-59/89 (Kommisson/Bundesrepublik Deutschland); Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-353/89 (Kommission/Niederlande) und in der Rechtssache 103/84, a. a. O.
(4) Rechtssache 240/86, a. a. O.; Urteil vom 30. Mai 1991 in der Rechtssache C-110/89 (Kommission/Griechenland, Slg. 1991, I-2659).
(5) Urteil vom 10. April 1984 in der Rechtssache 14/83 (Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Randnr. 15).
(6) Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C-106/89, Randnr. 9.
(7) Bei unbedingten und hinreichend genauen Bestimmungen vergleiche Urteil vom 5. April 1979 in der Rechtssache 148/78 (Ratti, Slg. 1979, 1629) und Urteil vom 19. Januar 1982 in der Rechtssache 8/81 (Becker, Slg. 1982, 53).
(8) Vgl. zu den Rechtswirkungen einer Richtlinie im innerstaatlichen Recht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Januar 1992 zum Nachtarbeitsverbot für Frauen
- 1 BvR 1025/82 - 1 BvL 16/83 - 1 BvL 10/91.
(9) Vgl. Randnrn. 10 ff. der Schlussanträge in der Rechtssache C-247/89 (Kommission/Portugiesische Republik, Urteil vom 10. Juli 1991, Slg. 1991, I-1995), und Randnrn. 9 ff. der Schlussanträge in der Rechtssache C-24/91 (Kommission/Königreich Spanien, Urteil vom 19. März 1992, Slg. 1992, I-1989, I-1995).
(10) Siehe Urteil vom 22. Juni 1989 in der Rechtssache 103/88 (Fratelli Costanzo, Slg. 1989, 1839).
(11) Richtlinie 71/305/EWG des Rates vom 26. Juli 1971 (ABl. L 185, S. 5).
(12) Urteil vom 20. September 1988 in der Rechtssache 31/87 (Beentjes, Slg. 1988, 4635).
(13) Vgl. zum Schadensersatzanspruch eines einzelnen gegenüber einem Mitgliedstaat wegen Nichtumsetzung einer Richtlinie, Urteil vom 19. November 1991 in den verbundenen Rechtssachen C-6/90 und C-9/90 (Francovich und Bonifaci/Italien, Slg. 1991, I-5357).