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Document 61988CC0322

    Schlussanträge des Generalanwalts Mischo vom 10. Oktober 1989.
    Salvatore Grimaldi gegen Fonds des maladies professionnelles.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal du travail de Bruxelles - Belgien.
    Berufskrankheiten - Wirkungen einer Empfehlung.
    Rechtssache C-322/88.

    Sammlung der Rechtsprechung 1989 -04407

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1989:366

    61988C0322

    Schlussanträge des Generalanwalts Mischo vom 10. Oktober 1989. - SALVATORE GRIMALDI GEGEN FONDS DES MALADIES PROFESSIONNELLES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DU TRAVAIL DE BRUXELLES - BELGIEN. - SOZIALPOLITIK - BERUFSKRANKHEITEN - WIRKUNGEN EINER EMPFEHLUNG. - RECHTSSACHE 322/88.

    Sammlung der Rechtsprechung 1989 Seite 04407
    Schwedische Sonderausgabe Seite 00287
    Finnische Sonderausgabe Seite 00303


    Schlußanträge des Generalanwalts


    ++++

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    1 . Lässt man die Vorgeschichte und die Begleitumstände des Ausgangsverfahrens, wie sie im Sitzungsbericht wiedergegeben sind, beiseite, so geht es bei der Vorabentscheidungsfrage, auf die sich diese Schlussanträge beziehen, um eine klare und deutliche Grundsatzfrage : Kann eine Empfehlung gemäß Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag "unmittelbare Wirkung" haben?

    2 . Diese Frage erfordert eine ebenso klare und deutliche Verneinung . Es trifft zu, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes "zwar nach Artikel 189 Verordnungen unmittelbar gelten und infolgedessen schon wegen ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen erzeugen können, daß hieraus indessen nicht folgt, daß andere in diesem Artikel genannte Kategorien von Rechtsakten niemals ähnliche Wirkungen erzeugen könnten" ( 1 ). In seiner Rechtsprechung hat der Gerichtshof derartige Wirkungen wiederholt insbesondere Richtlinienbestimmungen zuerkannt mit der Erwägung, daß "in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, die einzelnen berechtigt sind, sich gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß in nationales Recht umsetzt oder eine unzutreffende Umsetzung der Richtlinie vornimmt" ( 2 ).

    3 . Der Gerichtshof hat jedoch darauf hingewiesen, daß diese Rechtsprechung auf dem verbindlichen Charakter beruht, den Artikel 189 der Richtlinie zuerkennt, mit dem es unvereinbar wäre, grundsätzlich auszuschließen, daß sich betroffene Personen auf die in der Richtlinie enthaltene Verpflichtung berufen können . Es wäre in der Tat unerträglich, wenn ein Mitgliedstaat den einzelnen entgegenhalten könnte, daß er selbst die aus einer Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfuellt hat .

    4 . Gemäß Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag sind jedoch "die Empfehlungen ... nicht verbindlich ". Grundsätzlich kann also eine Empfehlung gemäß Artikel 189 keine unmittelbare Wirkung entfalten, da die gegenteilige Lösung zu einer völligen Verwischung des Unterschieds zwischen den dort genannten Handlungen führen würde .

    5 . Freilich ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht auf die Bezeichnung einer Handlung abzustellen, sondern auf deren Inhalt und Bedeutung . Zwingt diese Erwägung zur Prüfung der wahren Natur der Bestimmungen einer Empfehlung, insbesondere der vom vorlegenden Gericht genannten?

    6 . Meines Erachtens nicht . Gewiß ist zu prüfen, ob die Handlung, sieht man von ihrer Bezeichnung ab, ihren Adressaten tatsächlich nur ein bestimmtes Verhalten empfiehlt . Diese Prüfung braucht nach meinem Dafürhalten aber nicht weiter vertieft zu werden . So klar, unbedingt, genau und eindeutig die materiellen Bestimmungen einer Empfehlung auch sein mögen ( um die Worte des vorlegenden Gerichts aufzugreifen ), aus einer Empfehlung ergibt sich definitionsgemäß keine Verpflichtung zur Herbeiführung eines Ergebnisses . Die Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, können also nicht nur die Form und die Mittel der Umsetzung ins nationale Recht wählen - was sie auch im Falle einer Richtlinie tun können -, sondern es steht ihnen sogar völlig frei, der Empfehlung Folge zu leisten oder nicht . Daher braucht nicht geprüft zu werden, ob die Bestimmungen einer Empfehlung den Mitgliedstaaten einen bestimmten Ermessensspielraum bei der Umsetzung in nationales Recht lassen oder ihnen gestatten, die Anwendung dieser Bestimmungen zu bedingen oder einzuschränken .

    7 . Es kann nun im vorliegenden Fall kein Zweifel daran bestehen, daß es sich um echte Empfehlungen handelt . Sowohl die Empfehlung der Kommission vom 23 . Juli 1962 an die Mitgliedstaaten zur Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten ( ABl . 1962, S . 2188 ) als auch die vom 20 . Juli 1966 zu den Voraussetzungen für die Entschädigung im Falle von Berufskrankheiten ( ABl . 1966, S . 2696 ) sind auf Artikel 155 EWG-Vertrag gestützt, der der Kommission die allgemeine Zuständigkeit dafür einräumt, "Empfehlungen oder Stellungnahmen auf den in diesem Vertrag bezeichneten Gebieten abzugeben, soweit der Vertrag dies ausdrücklich vorsieht oder soweit sie es für notwendig erachtet ".

    8 . Beide gehören übrigens in den Bereich der Sozialpolitik und nehmen ausdrücklich auf Artikel 117 und/oder Artikel 118 EWG-Vertrag Bezug . Der Gerichtshof hat aber schon festgestellt, daß die in Artikel 117 genannten sozialen Ziele im wesentlichen Programmcharakter haben und daß Artikel 118, der der Kommission die Aufgabe überträgt, eine enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten in sozialen Fragen anerkennt, soweit diese Fragen nicht zu Bereichen gehören, die durch andere Vorschriften des Vertrages geregelt werden ( 3 ). In seinem Urteil zur Wanderungspolitik vom 9 . Juli 1987 ( 4 ) hat der Gerichtshof insbesondere festgestellt, daß die Kommission zwar zur Einrichtung von Konsultationsverfahren für soziale Fragen im Sinne von Artikel 118 befugt ist und die Mitgliedstaaten zur Teilnahme daran verpflichten kann, die Bereiche aber, auf die sich diese Verfahren beziehen, weiterhin zur Zuständigkeit der Mitgliedstaaten gehören, die sich das Ergebnis, das mit diesen Verfahren erreicht werden soll, nicht vorschreiben lassen müssen ( vgl . die Randnrn . 29, 30 und 34 ).

    9 . Die Verhütung von Berufskrankheiten gehört zu den Sachgebieten, die in Artikel 118 ausdrücklich angeführt sind . In dem Bestreben, die nationalen Listen der Berufskrankheiten zu vereinheitlichen und sie schließlich durch eine Europäische Liste zu ersetzen, wurde die Kommission somit auf einem Gebiet tätig, das in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt . Daher konnte die Kommission im vorliegenden Fall keine verbindlichen Vorschriften erlassen . Der Erlaß einer Empfehlung im wahren Sinne des Wortes stellte für sie die einzige Handlungsmöglichkeit dar .

    10 . Zudem ist die Tatsache, daß die fraglichen Empfehlungen annähernd 25 Jahre alt bzw . noch älter sind, nicht geeignet, deren Wirkungen bei fehlender Durchführung durch die Mitgliedstaaten zu beeinflussen . Gewiß mag es bedauerlich erscheinen, daß nach Ablauf eines Vierteljahrhunderts noch nicht alle Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen erlassen haben, um die Ziele zu verwirklichen, deren Förderung die Kommission auf diesem Gebiet für erforderlich gehalten hat . Da aber Empfehlungen für die Mitgliedstaaten nicht verbindlich sind, können sie diesen auch keine zwingenden Fristen setzen . Im übrigen zeigt die Empfehlung von 1966, in deren verfügendem Teil, dritter Gedankenstrich, die Kommission "die Regierungen der Mitgliedstaaten bittet, sie alle zwei Jahre, und zwar zum erstenmal anläßlich der nächsten Mitteilung über die Folgerungen aus der Empfehlung vom 23 . Juli 1962 betreffend die Europäische Liste der Berufskrankheiten, über die zur Durchführung dieser Empfehlung getroffenen Maßnahmen zu unterrichten", daß die Kommission nur im Wege der Anregung vorgehen wollte und konnte .

    11 . Aus alledem ergibt sich folglich, daß eine Empfehlung keine "unmittelbare Wirkung" haben kann .

    12 . Vollständigkeitshalber möchte ich noch hinzufügen, daß sich der Gerichtshof meines Erachtens nicht mit der Frage aufzuhalten braucht, ob er wegen der fehlenden Verbindlichkeit einer Empfehlung überhaupt zuständig ist, diese im Wege einer Vorabentscheidung auszulegen . Einerseits wirft die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage zumindest implizit das allgemeine Problem auf, ob eine Empfehlung im Sinne von Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag unmittelbare Wirkung entfalten kann; insoweit stellt sie also eine Frage nach der Auslegung des Vertrages selbst dar . Soweit sie sich andererseits gerade auf die Wirkung zweier bestimmter Empfehlungen bezieht, wird man die Zuständigkeit des Gerichtshofes nicht ohne weiteres mit der Begründung verneinen können, diese Empfehlungen hätten keine bindenden Rechtswirkungen ( 5 ). Schließlich hat der Gerichtshof bereits EWG-Empfehlungen ausgelegt, ohne seine dahin gehende Zuständigkeit in Zweifel zu ziehen . Ich verweise zum Beispiel auf das Urteil vom 15 . Juni 1976 in der Rechtssache 113/75 ( Frecassetti/Staatliche Finanzverwaltung, Slg . 1976, 983 ) sowie auf das Urteil vom 9 . Juni 1977 in der Rechtssache 90/76 ( Van Ameyde/UCI, Slg . 1977, 1091 ). Sofern der Gerichtshof dieses Mal seine Zuständigkeit ausdrücklich bekräftigen möchte, erlaube ich mir einfach auf die Argumente zu verweisen, die Generalanwalt Warner in seinen Schlussanträgen vom 26 . Mai 1976 in der Rechtssache 113/75 vorgetragen hat ( Slg . 1976, 994, 996 f .):

    "Im Unterschied zu Artikel 173 des Vertrages, dem zufolge 'der Gerichtshof ... die Rechtmässigkeit des Handelns des Rates und der Kommission (( überwacht )), soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt' , bestimmt Artikel 177 ohne jeden Vorbehalt, daß 'der Gerichtshof ... im Wege der Vorabentscheidung ... über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaft (( entscheidet ))' . Nach meiner Auffassung steht deshalb ausser Zweifel, daß der Begriff 'Handlungen' in Artikel 177 auch Empfehlungen umfasst . Darüber hinaus halte ich die Ansicht nicht für zutreffend, daß die Auslegung einer Empfehlung niemals für eine vor einem staatlichen Gericht zur Entscheidung stehende Frage Bedeutung haben kann . Ist zum Beispiel ein innerstaatliches Gesetz ausdrücklich zur Durchführung einer Empfehlung erlassen worden, so kann die richtige Auslegung dieses Gesetzes sehr wohl von der Auslegung der Empfehlung abhängen . Ob sich dies so verhält oder nicht, hat das betreffende nationale Gericht zu klären . Die Rechtslage ist insoweit ähnlich wie die, die in bezug auf Richtlinien besteht; wegen dieser verweise ich auf die Rechtssache 32/74 ( Haaga, Slg . 1974, 1201 ). Daß die Richtlinien im Gegensatz zu den Empfehlungen für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, kann meines Erachtens keinen wesentlichen Unterschied machen ." ( 6 )

    13 . Ich verweise weiter darauf, daß der Gerichtshof schon in seinem Urteil vom 20 . Mai 1976 in der Rechtssache 111/75 ( Mazzalai/Ferrovia del Renon, Slg . 1976, 657 ) im Hinblick auf eine Richtlinie ausdrücklich festgestellt hatte :

    "Eine Auslegung der Richtlinie (( kann )) unabhängig von ihren Wirkungen ... für das nationale Gericht zweckmässig sein, damit sichergestellt wird, daß das zur Durchführung der Richtlinie erlassene Gesetz gemeinschaftskonform ausgelegt und angewendet wird" ( Randnrn . 7 bis 11 ).

    14 . Nach alledem schlage ich Ihnen vor, die Vorlagefrage des Tribunal du travail Brüssel wie folgt zu beantworten :

    "Eine Empfehlung im Sinne von Artikel 189 Absatz 5 EWG-Vertrag ( wie die Empfehlung der Kommission vom 23 . Juli 1962 an die Mitgliedstaaten zur Annahme einer Europäischen Liste der Berufskrankheiten oder die Empfehlung der Kommission vom 20 . Juli 1966 an die Mitgliedstaaten zu den Voraussetzungen für die Entschädigung im Falle von Berufskrankheiten ) ist nicht geeignet, unmittelbare Wirkungen zu entfalten ."

    (*) Originalsprache : Französisch .

    ( 1 ) Siehe insbesondere das Urteil vom 19 . Januar 1982 in der Rechtssache 8/81, Becker/Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg . 1982, 53, Randnr . 21 .

    ( 2 ) Siehe die Urteile vom 26 . Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall/Southampton und South-West Hampshire Area Health Authority, Slg . 1986, 723, Randnr . 46, und vom 8 . Oktober 1987 in der Rechtssache 80/86, Strafverfahren gegen Kolpinghuis Nijmegen, Slg . 1987, 3969, Randnr . 7 .

    ( 3 ) Siehe insbesondere das Urteil vom 29 . September 1987 in der Rechtssache 126/86, Giménez Zära/Institut national de la sécurité sociale et Trésorerie générale de la sécurité sociale, Slg . 1987, 3697, Randnrn . 13 und 16 .

    ( 4 ) Urteil vom 9 . Juli 1987 in den verbundenen Rechtssachen 281, 283, 284, 285 und 287/85, Deutschland, Frankreich, Niederlande, Dänemark und Vereinigtes Königreich/Kommission, Slg . 1987, 3203 .

    ( 5 ) In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß der Gerichtshof bei Auslegung von "Entschließungen" des Rates, obwohl sie im wesentlichen nur die politische Willensbekundung des Rates und der Regierungsvertreter der Mitgliedstaaten darstellen, festgestellt hat, daß sie weder Rechtswirkungen, auf die sich die Gemeinschaftsangehörigen vor Gericht berufen könnten ( Urteil vom 24 . Oktober 1973 in der Rechtssache 9/73, Schlüter/HZA Lörrach, Slg . 1973, 1135, Randnr . 40, noch solche zu Lasten von Einzelpersonen zu erzeugen vermögen ( Urteil vom 3 . Februar 1976 in der Rechtssache 59/75, Staatsanwaltschaft/Manghera, Slg . 1976, 91, Randnr . 21 .

    ( 6 ) In seiner Abhandlung mit dem Titel "Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften", Baden-Baden 1986, S . 25, verweist Everling in diesem Zusammenhang auf das Urteil vom 15 . Januar 1986 in der Rechtssache 44/84, Hurd, Slg . 1986, 29, in dem der Gerichtshof seine Zuständigkeit für die Auslegung von Handlungen wie den in Artikel 3 der Beitrittsakte von 1972 genannten ( insbesondere die Europäischen Gemeinschaften betreffende Erklärungen, Entschließungen oder sonstige Stellungnahmen ) bekräftigt hat, obwohl sie nicht unter eine der in Artikel 177 EWG-Vertrag genannten Gruppen von Handlungen fallen, aber dies nur insoweit, als es erforderlich ist, ihre Rechtsnatur zu bestimmen und sie zu untersuchen, um den Anwendungsbereich von Artikel 3 zu bestimmen ( vgl . die Randnrn . 20 bis 22 ).

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