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Document 61982CC0203

Schlussanträge des Generalanwalts Rozès vom 22. Juni 1983.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Italienische Republik.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Teilweise Übernahme der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung durch den Staat.
Rechtssache 203/82.

Sammlung der Rechtsprechung 1983 -02525

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1983:171

SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS SIMONE ROZÈS

VOM 22. JUNI 1983 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Sie haben zu entscheiden in einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen die Italienische Republik, in dem es um die Entscheidung der Kommission vom 15. September 1980 über das italienische System der teilweisen Übernahme der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung durch den Staat geht.

I — Der Sachverhalt ist der folgende:

Artikel 22 des italienischen Gesetzesdekrets Nr. 663 vom 30. Dezember 1979 hat ohne zeitliche Begrenzung für bestimmte Sektoren der italienischen Wirtschaft eine Ermäßigung des Satzes der von den Arbeitgebern an die Krankenversicherung abzuführenden Beiträge um 4 Prozentpunkte für die männlichen und um 10 Prozentpunkte für die weiblichen Arbeitnehmer eingeführt und die vollständige Übernahme dieser Ermäßigung durch den Staat vorgesehen.

Diese Regelung wurde durch das Gesetz Nr. 33 vom 29. Februar 1980 bestätigt.

Sie bildete den ersten Abschnitt einer Umgestaltung des Systems der Sozialabgaben mit dem Ziel, alle Unternehmen von sämtlichen Beiträgen zur Krankenversicherung zu befreien.

Die Begünstigten dieser Fiskalisierung waren aber zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen die Industrieunternehmen und bestimmte Dienstleistungsunternehmen, die mehr als 40 % ihres Umsatzes durch Ausfubrgeschäfte erzielen.

Artikel 92 Absatz 1 des Vertrages bestimmt:

„Soweit in diesem Vertrag nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

Folglich wäre nur die Anwendung einer derartigen Regelung auf alle Wirtschaftsbereiche keine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe gewesen.

Die Kommission räumt jedoch ein, daß im Hinblick auf die beabsichtigte Ausdehnung der Fiskalisierung der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung auf die gesamte italienische Wirtschaft die durch Gesetz Nr. 33 vom 23. Februar 1980 getroffene Regelung lediglich einen ersten Schritt darstellte und von hinreichend allgemeiner Natur war, um mit Ausnahme der höheren Ermäßigung des Abgabesatzes für weibliche Arbeitnehmer nicht von Artikel 92 Absatz 1 erfaßt zu werden. Diese Ermäßigung begünstigte bestimmte, im Handel zwischen den Mitgliedstaaten besonders aktive Wirtschaftszweige mit einer im wesentlichen weiblichen Belegschaft und war daher eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe.

II —

Aufgrund von Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 1 des Vertrages ( 2 ) hat die Kommission die italienische Regierung mit der Entscheidung 80/932 vom 15. September 1980, bekanntgegeben am 17. September und veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften am 8. Oktober, verpflichtet, ihr innerhalb von sechs Monaten, d. h. vor dem 15. März 1981, die Maßnahmen zur Beseitigung dieser Differenzierung mitzuteilen.

Kurze Zeit vor dieser Entscheidung war am 30. August 1980 als Maßnahme zur Unterstützung der Wirtschaft das Gesetzesdekret Nr. 503 erlassen worden. Abgesehen von bestimmten zusätzlichen Maßnahmen zur Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und zur Förderung der Beschäftigung ließ dieses Dekret nicht nur die in der Entscheidung der Kommission vom 15. September 1980 beanstandete Rechtslage unverändert, sondern verlängerte die bis spätestens 15. März 1981 aufzuhebende Maßnahme bis zum 30. Juni 1981.

Zwischen dem Erlaß dieser Entscheidung und ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt teilte die italienische Regierung der Kommission am 6. Oktober 1980 das Außerkrafttreten des Gesetzesdekrets Nr. 503 mit, wies aber zugleich auf die Möglichkeit hin, daß einige seiner Vorschriften durch das italienische Parlament erneut erlassen werden könnten, ohne allerdings anzugeben, um welche Vorschriften es sich handelte oder welche Zielsetzungen und Modalitäten sie haben würden.

Durch das Gesetz Nr. 782 vom 28. November 1980 wurde die zusätzliche staatliche Übernahme von 2,54 Prozentpunkten zugunsten der gesamten italienischen Industrie im Mezzogiorno eingeführt.

Die italienische Regierung war der Ansicht, diese Mitteilung sei eine Unterrichtung im Sinne von Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages. Mit Schreiben vom 16. Dezember 1980 teilte ihr die Kommission daher mit, sie betrachte den Wortlaut des Gesetzesdekrets Nr. 503 trotz des Außerkrafttretens der beanstandeten Maßnahme als ein Vorhaben, die Systeme der bestehenden Hilfen zu erweitern oder neu zu finanzieren und neue Hilfen einzuführen; nach einer ersten Prüfung der ins Auge gefaßten Maßnahmen bestehe eine starke Vermutung dafür, daß bestimmte Maßnahmen als mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar angesehen werden könnten. Unter ausdrücklichem Hinweis auf ihre Entscheidung vom 15. September 1980 erbat die Kommission von der italienischen Regierung eingehendere Angaben zu den Maßnahmen zur Verstärkung der Fiskalisierung der Sozialabgaben zugunsten der Industrie und teilte ihr mit, sie habe beschlossen, das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 zu eröffnen.

Ich weise darauf hin, daß dieses Verfahren insbesondere den Zweck verfolgt, die Durchführung der geplanten Maßnahmen bis zu einer endgültigen Entscheidung aufzuschieben.

Die italienische Regierung gab zwei Äußerungen ab:

Am 31. Dezember 1980 teilte sie der Kommission mit, sie sei der Ansicht, daß für die bereits in Kraft getretenen und der Kommission mit Schreiben vom 3. Dezember 1980 (dieses Schreiben ist in den Akten nicht enthalten) mitgeteilten Maßnahmen nicht Artikel 93 Absatz 2, sondern Absatz 1 Grundlage des von der Kommission eröffneten Verfahrens sei.

Am 18. Februar 1981 übermittelte sie der Kommission bestimmte nähere Angaben zu den in dem Gesetzesdekret Nr. 503 enthaltenen ergänzenden Maßnahmen. Sie erklärte, die Entscheidung vom 15. September 1980 zur Fiskalisierung der Sozialabgaben zur Kenntnis genommen zu haben und „die Absicht zu haben, ihr im Rahmen der Umgestaltung der Bestimmungen über die Beiträge zur Krankenversicherung nachzukommen“.

Mit Schreiben vom 12. Mai 1981, das vom Kommissar Tugendhat unterzeichnet war, wiederholte die Kommission gegenüber der italienischen Regierung ihre Vorbehalte gegen die im Gesetzesdekret Nr. 503 vom 30. August 1980 getroffenen Maßnahmen.

Aufgrund der Zusage der italienischen Regierung vom 18. Februar 1981, der Entscheidung vom 15. September 1980 nachzukommen, gewährte die Kommission ausnahmsweise die Verlängerung der Frist zur Änderung des Rechtszustandes, auf den sich die ursprüngliche Entscheidung bezog, bis zum 30. Juni 1981 (dieser Zeitpunkt wurde im Gesetzesdekret Nr. 503 bestimmt) „unter der Voraussetzung, daß von diesem Zeitpunkt an jegliche Differenzierung zwischen Männern und Frauen bei der Höhe der Beitragsermäßigung endgültig beseitigt ist; andernfalls wird sich die Kommission gezwungen sehen, den Gerichtshof anzurufen“.

Dennoch verlängerte das Gesetzesdekret Nr. 395 vom 28. Juli 1981, umgewandelt in ein Gesetz durch das Gesetz Nr. 534 vom 25. September 1981, die von der Kommission mit Schreiben des Kommissars Tugendhat vom 12. Mai 1981 ausnahmsweise gewährte Frist bis zum 31. Oktober 1981.

Das Gesetzesdekret Nr. 646 vom 16. November 1981, umgewandelt in ein Gesetz durch das Gesetz Nr. 3 vom 15. Januar 1982, verlängerte die vorgenannte Frist ein weiteres Mal bis zum 31. Dezember 1981.

III —

Die Kommission wartete bis zum 23. November 1981, um durch den Generaldirektor für Wettbewerb die italienische Regierung an ihre „endgültige“ Entscheidung vom 15. September 1980 zu erinnern und um ihr mitzuteilen, daß „sie sich gezwungen sähe, den Gerichtshof anzurufen, wenn sie nicht unverzüglich die Rechtsvorschriften über die geforderten Änderungen erhält“.

Das Dekret Nr. 91 vom 24. März 1982 führte aber die beanstandete Differenzierung für den Zeitraum vom 1. Februar bis zum 31. März 1982 wieder ein.

Am 10. Mai 1982 teilte die Kommission durch den genannten Generaldirektor der italienischen Regierung mit, daß sie „entschieden“ habe, den Gerichtshof anzurufen, wenn die italienische Regierung nicht innerhalb von ungefähr zwei Monaten, d. h. vor dem 10. Juli 1982, ihrer Entscheidung vom 15. September 1980 nachkomme.

Trotzdem verlängerte das Gesetz Nr. 267 vom 21. Mai 1982, das das Dekret vom 24. März 1982 in ein Gesetz umwandelte, den oben genannten Zeitraum bis zum 30. Juni 1982. Am 2. August 1982 schob das Gesetzesdekret Nr. 492 diesen Fristablauf noch bis zum 31. Dezember 1982 auf.

IV — Unter Berufung auf Artikel 93 Absatz 2 Unterabsatz 2, der bestimmt:

„kommt der betreffende Staat dieser Entscheidung innerhalb der festgesetzten Frist nicht nach, so kann die Kommission oder jeder betroffene Staat in Abweichung von den Artikeln 169 und 170 den Gerichtshof unmittelbar anrufen“,

hat die Kommission am 5. August 1982 den Gerichtshof angerufen mit dem Antrag, festzustellen, daß die Italienische Republik gegen eine ihr nach dem Vertrag obliegende Verpflichtung verstoßen hat, indem sie nicht innerhalb der gesetzten Frist (15. März 1981) der Entscheidung vom 15. September 1980 nachgekommen ist.

Danach verlegte ein neues.Gesetzesdekret Nr. 694 vom 1. Oktober 1982 den Ablauf der in dem — zwischenzeitlich außer Kraft getretenen — Gesetzesdrekret Nr. 492 vom 2. August verlängerten Frist auf den 30. November 1982.

Die italienische Regierung hat am 14. Oktober 1982 eine Klagebeantwortung eingereicht, jedoch auf die Erwiderung der Kommission mitgeteilt, sie verzichte auf eine Gegenerwiderung.

V —

Wegen des Präzedenzfalles, den das Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache der Regierung der Italienischen Republik gegen die Kommission vom 2. Juli 1974 ( 3 ) darstellt, ist zwischen den Parteien nicht streitig, daß die fragliche italienische Maßnahme eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe darstellt. Zwischen den italienischen Behörden und den Dienststellen der Kommission besteht nun kein Mißverständnis mehr über die Bekanntgabe der in der Entscheidung vom 15. September 1980 beanstandeten Beihilferegelung sowie darüber, daß es sich dabei um eine neue Regelung handelt.

Diese Entscheidung wurde zwar erst am 8. Oktober 1980 im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften veröffentlicht, doch war ihr Wortlaut mit der ausführlichen Begründung dieser Maßnahme der italienischen Regierung durch die Kommission mit Schreiben vom 17. September 1980, das vom Kommissar Haferkamp unterzeichnet war, übermittelt worden.

Die italienische Regierung hat niemals die Auffassung vertreten, daß die Entscheidung selbst überhaupt nicht oder nur unzureichend begründet sei, und hat aus diesem Grund auch nicht ihre Aufhebung beantragt.

Zwar besteht die Vorschrift, die nach der „endgültigen“ Entscheidung der Kommission von der italienischen Regierung aufzuheben war, in formeller Hinsicht nicht mehr, da das Gesetzesdekret Nr. 503 vom 30. Oktober 1980 außer Kraft getreten ist; sein Inhalt ist aber lückenlos von den nachfolgenden Gesetzesdekreten, zuletzt vom Gesetzesdekret Nr. 694 vom 1. Oktober 1982 übernommen worden. Sie ist daher zumindest bis zum 30. November 1982 in Kraft geblieben.

Die Kommission hätte den Gerichtshof früher anrufen können; sie hätte ihn sogar unmittelbar anrufen können, ohne die italienische Regierung noch einmal in Verzug zu setzen, wie sie es am 10. Mai 1982 getan hat, oder ihr eine neue Frist von zwei Monaten einzuräumen.

Im übrigen hat die italienische Regierung in ihrer Klagebeantwortung, das ist hieraus e contrario zu schließen, eingeräumt, daß selbst in formeller Hinsicht davon auszugehen ist, daß sie am 30. Juni 1981 der Entscheidung vom 15. September 1980 noch nicht nachgekommen gewesen sei, und zwar auch nicht teilweise. Sie hat sich darauf beschränkt, den Wunsch auszusprechen, daß zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die italienische Gesetzgebung als dieser Entscheidung „sowohl ihrem Inhalt als auch ihrem Geist und ihrer Form nach vollständig angepaßt angesehen werden kann“.

Ohne daß geprüft zu werden braucht, ob sich diese Hoffnung verwirklicht hat, aber unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Kommission selbst die zunächst in ihrer Entscheidung vom 15. September 1980 gesetzte Frist geändert hat, schlage ich Ihnen vor, festzustellen,

daß die Italienische Republik gegen eine ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag verstoßen hat, indem sie nach dem 10. Juli 1982 bei der Übernahme der Arbeitgeberbeiträge zur Krankenversicherung in bestimmten Wirtschaftssektoren eine Differenzierung zwischen männlichen und weiblichen Arbeitnehmern aufrechterhalten hat.

Ich schlage ferner vor, die Kosten des Verfahrens der Italienischen Republik aufzuerlegen.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.

( 2 ) „Stellt die Kommission fest, nachdem sie den Beteiligten eine Frist zur Äußerung gesetzt hat, daß eine von einem Staat oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt nach Artikel 92 unvereinbar ist..., so entscheidet sie, daß der betreffende Staat sie binnen einer von ihr bestimmten Frist aufzuheben oder umzugestalten hat.“

( 3 ) Rechtssache 173/73, Slg. 1974, 709 ff.

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