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Document 61981CC0053

    Schlussanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn vom 20. Januar 1982.
    D.M. Levin gegen Staatssecretaris van Justitie.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
    Aufenthaltsrecht.
    Rechtssache 53/81.

    Sammlung der Rechtsprechung 1982 -01035

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1982:10

    SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    SIR GORDON SLYNN

    VOM 20. JANUAR 1982 ( 1 )

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    Die Streitsachenabteilung des Raad van State der Niederlande hat dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Der Gerichtshof wird unter anderem ersucht, über die Tragweite des Ausdrucks „begünstigter EWG-Bürger“ im Sinne von Artikel 91 Absatz 1 Buchstabe a des niederländischen Ausländererlasses (Vreemdelingenbesluit) zu entscheiden. Eine so formulierte Frage fällt eindeutig nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofes, sondern der nationalen Gerichtsbarkeit. Im wesentlichen werfen die Vorlagefragen jedoch Probleme des Gemeinschaftsrechts auf, die von sämtlichen Verfahrensbeteiligten für bedeutsam gehalten werden.

    Die Fragen lassen sich inhaltlich wie folgt wiedergeben:

    1. 

    Fällt unter die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die in Artikel 48 EWG-Vertrag, in der Verordnung Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968 sowie in den Richtlinien 64/221 vom 25. Februar 1964 und 68/360 vom 15. Oktober 1968 enthalten sind, ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in einem anderen Mitgliedstaat eine selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit oder Dienstleistungen so beschränkten Umfangs ausübt bzw. erbringt, daß er damit ein geringeres Einkommen als dasjenige erzielt, das im letztgenannten Mitgliedstaat als notwendiges Minimum zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen wird?

    2. 

    Ist die Antwort auf die erste Frage möglicherweise eine andere, wenn der Betroffene über weitere Einkünfte verfügt, die ihm zusammen mit seinem Arbeitslohn ein Einkommen verschaffen, das in dem Mitgliedstaat als notwendiges Minimum zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen wird, oder wenn er sich mit einem Lebensstandard begnügt, der unter demjenigen liegt, welcher in dem Staat als Existenzminimum angesehen wird?

    3. 

    Kann bei Bejahung der ersten Frage ein solcher Arbeitnehmer das Recht auf freie Einreise in einen Mitgliedstaat und Begründung eines Wohnsitzes in diesem Staat, in dem er eine Erwerbstätigkeit oder Dienstleistungen in beschränktem Umfang ausübt oder erbringt bzw. ausüben oder erbringen will, auch dann in Anspruch nehmen, wenn nachgewiesen oder anzunehmen ist, daß mit der Wohnsitznahme in diesem Mitgliedstaat in erster Linie andere Ziele verfolgt werden als die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder die Erbringung von Dienstleistungen in beschränktem Umfang?

    Die niederländische und die dänische Regierung meinen, die erste Frage sei zu verneinen. Dagegen sind Frau Levin, die französische und die italienische Regierung sowie die Kommission der Auffassung, die Frage müsse bejaht werden. Frau Levin trägt vor, wenn die erwähnten Rechte davon abhingen, daß Einkünfte in Höhe des Existenzminimums bezogen würden, dann seien sämtliche privaten Mittel zu berücksichtigen; dagegen kommt es nach Ansicht der anderen Beteiligten auf derartige Mittel nicht an. Mit jeweils unterschiedlichem Nachdruck gehen die Beteiligten offensichtlich davon aus, daß einer Person, die im übrigen die rechtlichen Anforderungen erfüllt, nicht allein deshalb ihre Rechte entzogen werden dürfen, weil sie aus anderweitigen, zusätzlichen Gründen in einen bestimmten Mitgliedstaat einreisen will.

    Die aufgeworfenen Probleme sind somit sowohl für den einzelnen, insbesondere in einer Zeit weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und steigender Kurzarbeit, als auch für den Mitgliedstaat von Bedeutung, der verhindern möchte, daß die den Arbeitnehmern zuerkannten Rechte von jemandem mißbraucht werden-, der tatsächlich gar kein Arbeitnehmer im wahren Sinn des Wortes ist.

    Die Vorlageentscheidung und die schriftlichen Erklärungen vermitteln kein deutliches Bild vom Sachverhalt. Weitere Auskünfte hat der Prozeßbevollmächtigte von Frau Levin in der Sitzung erteilt; diese wurden nicht bestritten, und ich meine, man sollte sich darauf bei der Beantwortung stützen. Selbstverständlich ist es letztlich Sache des nationalen Gerichts, den richtigen Sachverhalt zu ermitteln, wenn es sich mit den Auswirkungen der Antworten des Gerichtshofes befaßt. Der Sachverhalt stellt sich im gegenwärtigen Stadium jedenfalls wie folgt dar.

    Frau Levin ist britische Staatsbürgerin und — wenn ich es richtig verstanden habe — Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs; ihr Ehemann ist südafrikanischer Staatsangehöriger. Im Oktober 1977, kurz nach ihrer Heirat, gingen sie in die Niederlande, wo beide bereits zuvor von Zeit zu Zeit gelebt hatten. Am 13. Januar 1978 beantragte Frau Levin eine Aufenthaltserlaubnis. Diesen Antrag lehnte der Leiter der Polizeibehörde von Amsterdam am 20. März 1979 mit der Begründung ab, daß „die Antragstellerin seit Anfang 1978 keine Erwerbstätigkeit mehr ausübt und daher nicht mehr als begünstigte EWG-Bürgerin im Sinne des Ausländererlasses angesehen werden kann“. Es wurde auch angeführt, daß ihre Wohnung nicht den Normen entspreche, deren Erfüllung vernünftigerweise verlangt werden könne. Frau Levins Prozeßbevollmächtigter trägt vor, sie habe in Wirklichkeit seit ihrer Ankunft in den Niederlanden bis zum 6. April 1979 regelmäßig als Zimmermädchen in verschiedenen Amsterdamer Hotels gearbeitet.

    Am 9. April 1979 legte sie beim Staatssecretaris van Justitie Widerspruch gegen die ablehnende Verfügung ein und machte geltend, der Umstand, daß sie seit Anfang 1978 bis zum 6. April 1979 keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt habe, rechtfertige die Ablehnung nicht, da sie und ihr Ehemann über ausreichende Mittel verfügten, um auch ohne Erwerbstätigkeit für ihren Unterhalt zu sorgen. Sie fügte hinzu, daß sie ab 9. April 1979 sicherheitshalber doch eine Erwerbstätigkeit aufgenommen habe, und bestritt die Ausführungen bezüglich ihrer Wohnungsverhältnisse.

    Ihr Prozeßbevollmächtigter teilte dem Gerichtshof mit, sie habe am 9. April eine Halbtagsbeschäftigung als Zimmermädchen in einem Hotel aufgenommen. Sie arbeite halbtags bzw. etwa 20 Wochenstunden und erhalte einen Nettolohn von 130 HFL pro Woche.

    Nachdem ihr Widerspruch vom 9. April 1979 nicht beschieden wurde, erhob Frau Levin beim Raad van State Klage gegen die fiktive Zurückweisung. Sie trug vor, sie sei Angehörige eines anderen Mitgliedstaats und habe im Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt. Auch wenn ihr Arbeitseinkommen für ihren Lebensunterhalt nicht ausreiche, könne sie diesen doch aus privaten Mitteln bestreiten, über die sie verfüge. Der Beklagte hielt dem entgegen, sie beziehe aus ihrer Erwerbstätigkeit kein für ihren Lebensunterhalt ausreichendes Einkommen — worunter mindestens der in den Niederlanden geltende gesetzliche Mindestlohn zu verstehen sei —, so daß sie sich nicht darauf berufen könne, eine „begünstigte EWG-Bürgerin“ zu sein. Im übrigen sei sie nicht in die Niederlande gekommen, „um“ eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, sondern um es ihrem Ehemann zu ermöglichen, gemäß Artikel 91 Absatz 1 Buchstabe c des Ausländererlasses, der offensichtlich zur Durchführung von Artikel 10 der Ratsverordnung Nr. 1612/68 erlassen worden ist, in den Niederlanden als Ehegatte eines EWG-Staatsangehörigen zu leben.

    Die beim Gerichtshof eingereichten Unterlagen erstrecken sich in mancherlei Hinsicht auch noch auf andere Punkte als die Vorlagefragen; zum Beispiel beziehen sie sich eher auf jemanden, der einen Arbeitsplatz suchen will, als auf eine Person, die einen Arbeitsplatz erlangt hat oder tatsächlich arbeitet. Darüber hinaus wird in der ersten Vorlagefrage selbst ein Problem angesprochen, das sich offensichtlich nicht aus dem Sachverhalt ergibt, nämlich die Situation einer Person, die arbeitet, ohne eine bezahlte Stelle innezuhaben. Ich möchte jedoch meine Schlußanträge auf den Fall eines Angehörigen eines Mitgliedstaats beschränken, der eine Erwerbstätigkeit ausübt, für die er bezahlt wird oder werden muß, und andere Situationen außer Betracht lassen, mit denen man sich möglicherweise später einmal befassen muß. Aus diesem Grund und auch deshalb, weil ich nicht davon überzeugt bin, daß unbedingt darauf eingegangen werden müßte, halte ich es nicht für erforderlich, im Rahmen dieser Rechtssache die in den Ratsprotokollen enthaltene Erklärung zur Auslegung zu berücksichtigen, auf die der Gerichtshof hingewiesen worden ist (und in der anerkannt wurde, daß eine Person drei Monate im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verbleiben darf, um eine Beschäftigung zu suchen, unter der Voraussetzung, daß sie nicht der öffentlichen Fürsorge zur Last fällt). Die vorliegende Rechtssache beschränkt sich auf die Frage, ob es zulässig ist, ein Mindesteinkommen und eine Mindestarbeitszeit vorzuschreiben.

    Obwohl die in der ersten Frage angeführten gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen dem Gerichtshof überaus vertraut sind, halte ich es für zweckmäßig, die für die Vorlagefragen bedeutsamen zusammenfassen.

    Kapitel 1 des Titels III („Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr“) des EWG-Vertrags handelt von den „Arbeitskräften“ im Gegensatz zu den Selbständigen, die Unternehmen gründen und leiten, oder zu den Dienstleistenden, die unter Kapitel II und III fallen. Nach Artikel 48 muß „die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt“ werden, wobei dies die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen umfaßt.

    Artikel 48 Absatz 3 räumt das Recht ein, a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben; b) sich „zu diesem Zweck“ (das heißt meines Erachtens zur Bewerbung um tatsächlich angebotene Stellen — und zu deren Übernahme) im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen; c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Vorschriften eine Beschäftigung auszuüben; d) nach Beendigung einer Beschäftigung in einem Mitgliedstaat dort unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission festlegt. Dieses Recht darf offensichtlich nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt werden.

    Diese Bestimmungen müssen im Zusammenhang mit Artikel 2 und 3 des Vertrages gelesen werden. Nach Artikel 3 umfaßt die Tätigkeit der Gemeinschaft unter anderem „die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten“. -Zu den in Artikel 2 genannten Zwecken, die mit dieser Tätigkeit verfolgt werden, gehören die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens und eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung.

    In den Begründungserwägungen der Ratsverordnung Nr. 1612/68 wird hervorgehoben, daß die Freizügigkeit ein Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Familien ist und die Mobilität der Arbeitskräfte für den Arbeitnehmer eines der Mittel sein soll, die ihm die Möglichkeit einer Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen garantieren; Darin wird weiterhin „allen Arbeitnehmern“ der Mitgliedstaaten das Recht zuerkannt, „eine von ihnen gewählte Tätigkeit auszuüben“; „dieses Recht steht gleichermaßen Dauerarbeitnehmern, Saisonarbeitnehmern, Grenzarbeitnehmern ... zu“. Nach Artikel 1 ist jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats berechtigt, „eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis“ im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften „aufzunehmen und auszuüben“; jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats hat insbesondere „im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ... Anspruch auf Zugang zu den verfügbaren Stellen“. Gemäß Artikel 3 finden Rechts- und Verwaltungsvorschriften oder Verwaltungspraktiken eines Mitgliedstaats keine Anwendung, „die das Stellenangebot und das Arbeitsgesuch, den Zugang zur Beschäftigung und deren Ausübung durch Ausländer einschränken oder von Bedingungen abhängig machen, die für Inländer nicht gelten“.

    Nach der Richtlinie 68/360 des Rates müssen die Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen, auf die die Verordnung Nr. 1612/68 Anwendung findet, beseitigt werden. Diese Personen werden in der Überschrift der Richtlinie „Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen“ genannt. Gemäß Artikel 4 sind einem Arbeitnehmer das Aufenthaltsrecht und eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren, und zwar auf bloße Vorlage a) des Ausweises, mit dem der Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eingereist ist, sowie b) einer Einstellungserklärung des Arbeitgebers oder einer Arbeitsbescheinigung. Diese Aufenthaltserlaubnis muß eine Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren haben; befindet sich jedoch der Arbeitnehmer „in einem Beschäftigungsverhältnis“ mit einer Dauer von mindestens drei Monaten und weniger als einem Jahr, so kann ihm eine zeitweilige, auf die voraussichtliche Dauer des Beschäftigungsverhältnisses beschränkte Aufenthaltserlaubnis ausgestellt werden (Artikel 6). Arbeitnehmern, die bis zur Dauer von voraussichtlich höchstens drei Monaten „eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben“, muß das Aufenthaltsrecht ohne Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis gewährt werden.

    Der Begriff „Arbeitnehmer“ ist in keiner der einschlägigen Bestimmungen ausdrücklich definiert. Die niederländische und die dänische Regierung vertreten die Auffassung, nach Artikel 48 und den Durchführungsbestimmungen gebe es Freizügigkeit nur für die Arbeitnehmer, die im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten eine Rolle spielten oder durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit zur Entwicklung der Gemeinschaft beitrügen, nicht aber für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten im allgemeinen oder für solche, die keine oder nur eine unbedeutende wirtschaftliche Tätigkeit ausübten.

    Artikel 2 und 3 des Vertrages stützen zweifellos das Argument, daß ein „Arbeitnehmer“ eine Tätigkeit wirtschaftlicher Art ausüben muß. Diese Auffassung hat der Gerichtshof in der Rechtssache 118/75 (Watson/Betmann, Slg. 1976, 1185) und in der Rechtssache 13/76 (Donà/Mantero, Slg. 1976, 1333) vertreten. In der letztgenannten Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden (auf Seite 1340), daß angesichts der Ziele der Gemeinschaft „sportliche Betätigungen insoweit dem Gemeinschaftsrecht [unterfallen], als sie einen Teil des Wirtschaftslebens im Sinne von Artikel 2 des Vertrages ausmachen“.

    Gleichwohl lassen sich mit dem Standpunkt der beiden Regierungen die Probleme der vorliegenden Rechtssache nicht lösen.

    Kern des jeweiligen Vorbringens der niederländischen und der dänischen Regierung ist, daß sich eine Person nur dann auf Artikel 48 berufen könne, wenn ihr Arbeitseinkommen den Mitteln zur Bestreitung des Lebensunterhalts entspreche, die von dem Mitgliedstaat, in welchem sie arbeite, als notwendig angesehen würden, oder wenn sie eine Zahl von Arbeitsstunden leiste, die in der betreffenden Branche als normale Vollzeitbeschäftigung angesehen würden oder vorgeschrieben seien. Solange es keine gemeinschaftsrechtliche Definition des „Arbeitnehmers“ gebe, dürften nationale Kriterien zur Festsetzung sowohl des Mindestlohns als auch der Mindestarbeitszeit erlassen werden. Nur auf diese Weise sei es möglich, die Kategorie der Arbeitnehmer in Grenzen zu halten und Personengruppen wie Vollzeitstudenten und Rentner von dieser Kategorie auszuschließen, selbst wenn sie einige bezahlte Arbeitsstunden in der Woche leisteten.

    Bei der Auslegung des Artikels 48 und der Sekundärbestimmungen scheinen mir zwei Grundsätze klar zu sein. Der Begriff „Arbeitnehmer“ hat erstens gemeinschaftsrechtliche Bedeutung und sollte so definiert werden, daß soweit wie möglich Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten vermieden werden, es sei denn, zwingende Gründe sprächen dagegen. Dieser Grundsatz ergibt sich aus der folgenden Passage des Urteils in der Rechtssache 75/63 (Unger/Bedrifsvereniging voor Detailhandel en Ambachten, Slg. 1964, 379, 396):

    „Wenn die Artikel 48 bis 51 des Vertrages Vorschriften über die Freizügigkeit der ‚Arbeitnehmer‘ aufstellen, so verleihen sie damit diesem Begriff gemeinschaftsrechtliche Bedeutung. Wäre die Bestimmung dieses Begriffes dem innerstaatlichen Recht überlassen worden, so wäre jeder Staat in der Lage, den Inhalt des Begriffes ‚Wanderarbeitnehmer‘ Veränderungen zu unterwerfen und bestimmten Personengruppen nach Belieben den Schutz des Vertrages zu entziehen. Im übrigen bieten Artikel 48 bis 51 des Vertrages keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, diese Vorschriften hätten die nähere Bestimmung des Begriffes ‚Arbeitnehmer‘ den innerstaatlichen Rechtsordnungen überlassen.“

    In jener Rechtssache ging es um Rechte in bezug auf die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer nach der damals geltenden Verordnung Nr. 3; was dazu ausgeführt wurde, gilt meines Erachtens auch für den vorliegenden Fall. Könnte als „Arbeitnehmer“ nur qualifiziert werden, wer eine Zahl von Arbeitsstunden leistet oder einen Lohn erhält, die im Recht des Staates, in dem er beschäftigt ist, als Minimum festgesetzt sind, so könnten seine Stellung und seine Rechte von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich ausgestaltet sein.

    Zweitens sollte der Gerichtshof in einem Bereich, in dem einschränkende Formulierungen fehlen, diese nur sehr behutsam einführen, um den normalen und natürlichen Sinn des Begriffs „Arbeitnehmer“ einzugrenzen. Der Gerichtshof hat mehrfach hervorgehoben, daß Artikel 48 eine der wesentlichen Grundlagen der Gemeinschaft enthält, so daß jede Ausnahme von dem Grundsatz eng ausgelegt werden muß (ich verweise zum Beispiel auf die Rechtssache 152/73, Sotgiu/Bundespost, Slg. 1974, 153, 162, und auf die Rechtssache 36/75, Rutili/Minister des Innern, Slg. 1975, 1219, 1229, 1231). Wenn das für den Fall ausdrücklicher Einschränkungen gilt, sollten erst recht keine Einschränkungen eingeführt werden, für die es keine ausdrückliche Vorschrift gibt, es sei denn, sie gehörten wirklich zur Definition des Arbeitnehmers. Diese Auffassung steht meines Erachtens damit im Einklang, daß ein Mitgliedstaat gemäß Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 68/360 des Rates jedermann eine Aufenthaltserlaubnis erteilen muß, der eine Arbeitsbescheinigung oder einen Einreiseausweis vorlegen kann. Der einzige in dieser Richtlinie aufgeführte Faktor, der die Aufenthaltserlaubnis berühren kann, ist die Dauer des Beschäftigungsverhältnisses. Es gibt keine Vorschrift über die Art der Arbeit, die Anzahl der Arbeitsstunden oder den Lohn, die nachgewiesen werden müßten, bevor eine Aufenthaltserlaubnis verlangt werden könnte. Die Auffassung ist ebenfalls mit der Richtlinie 64/221 des Rates, wie ich sie verstehe, vereinbar, deren Gegenstand die Beschränkungen der Einreise- und Aufenthaltsfreiheit sind, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit auferlegt werden dürfen. Diese Gründe werden umschrieben, und in Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie ist ausdrücklich vorgesehen, daß sie nicht für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden dürfen. Außerdem wird in der Ratsverordnung Nr. 1612/68 das Recht aller Arbeitnehmer, eine von ihnen gewählte Tätigkeit auszuüben, unter besonderer Erwähnung der Dauerarbeitnehmer, Saisonarbeitnehmer und Grenzarbeitnehmer hervorgehoben.

    Läßt sich nach alledem sagen, „Arbeitnehmer“ im Sinne der Rechtsvorschriften könne nur sein, wer mindestens einen bestimmten Lohn beziehe oder eine Mindestarbeitszeit leiste?

    Eine Auslegung dahin, mit „Arbeitnehmer“ sei nur ein Vollzeitbeschäftigter gemeint, halte ich für zu eng. Dem Argument, ein Teilzeitbeschäftigter sei als solcher kein Arbeitnehmer im Sinne von Artikel 48, kann meines Erachtens unmöglich gefolgt werden. Damit würde in den gegenwärtigen Verhältnissen eine sehr große und wahrscheinlich wachsende Personenzahl im Ergebnis von den Rechten ausgeschlossen, welche Artikel 48 sowie die Verordnung und die Richtlinien, die erwähnt wurden, gewähren. Zu dieser Personengruppe gehören nicht nur Frauen, ältere Leute und in ihrer Arbeitsfähigkeit Beeinträchtigte, die aus persönlichen Gründen möglicherweise nur einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen möchten, sondern auch Frauen und Männer, die an sich eine Vollzeittätigkeit ausüben möchten, jedoch gezwungen sind, Kurzarbeit zu akzeptieren. Da es keine eindeutigen Formulierungen im Sinne eines Ausschlusses der Teilzeitbeschäftigten von diesen Rechten gibt, glaube ich auch nicht, daß ein solcher Ausschluß beabsichtigt war.

    Wenn die Mitgliedstaaten ihre eigenen Staatsangehörigen im Hinblick auf Teilzeitarbeit durch den Ausschluß von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten begünstigen dürften, wenn es insbesondere dem nationalen Recht vorbehalten wäre zu regeln, was in dem jeweiligen Staat unter einer Vollzeitbeschäftigung zu verstehen ist, dann könnte die Mobilität der Arbeitskräfte zwangsläufig wesentlichen Einschränkungen unterworfen werden, die der Vertrag gerade abschaffen will.

    Als Alternativauslegung wird vorgeschlagen, daß eine Mindestarbeitszeit geleistet oder ein Mindesteinkommen erzielt werden müsse, damit jemand ein „Arbeitnehmer“ sei, wobei diese Mindestregelungen voraussichtlich vom Gerichtshof als innerhalb der Gemeinschaft geltendes Recht festgelegt oder definiert würden. Es wurden jedoch keine allgemeinen Kriterien hinsichtlich der Stundenzahl oder der Einkommenshöhe genannt, mit deren Hilfe man zwischen einem wirklichen Teilzeitbeschäftigten und einer Person differenzieren könnte, die eine Beschäftigung während einiger Wochenstunden nur als Vorwand übernommen hat, um in den Genuß der den Arbeitnehmern zuerkannten Rechte zu gelangen, und ich bin auch nicht der Ansicht, daß derartige Mindestkriterien aus den einschlägigen Rechtsvorschriften herausgelesen werden können.

    Wer ein Beschäftigungsangebot erhält und annimmt, ist meines Erachtens ein Arbeitnehmer im Sinne der Rechtsvorschriften, auch wenn er einen geringeren Arbeitslohn als denjenigen erhält, der in dem fraglichen Staat als notwendiges Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen wird. Was die erste Frage anbelangt, so halte ich die von Seiten der französischen Regierung und der Kommission vorgebrachte Argumentation für zwingend und überzeugend und würde wie diese die erste Frage bejahen. Ich stimme folglich auch ihrer Ansicht zu, daß es unerheblich ist, ob private Mittel die Arbeitnehmer in die Lage versetzen, ihr Arbeitsverdienst bis zur Höhe des Existenzminimums aufzustocken.

    Die niederländische Regierung meint, bei Bejahung der ersten Frage müsse der Arbeitnehmer, um sich auf die in Rede stehenden Bestimmungen berufen zu können, beweisen, daß sein Hauptziel oder seine wesentliche Absicht dahin gehe, zu arbeiten. In Artikel 48 Absatz 3 Buchstabe b heißt es ausdrücklich, daß das Recht, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats frei zu bewegen, zu dem Zweck ausgeübt werden muß, sich um eine tatsächlich angebotene Stelle zu bewerben (oder diese zu übernehmen). Der Arbeitnehmer erhält das Aufenthaltsrecht nur, um eine Beschäftigung auszuüben. Artikel 1 der Richtlinie 64/221 gilt nur für einen Staatsangehörigen, der sich in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft aufhält oder sich dorthin begibt, „um eine ... unselbständige Erwerbstätigkeit auszuüben“. Die erste Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1612/68 spricht vom Recht der Arbeitnehmer, sich innerhalb der Gemeinschaft „zur Ausübung einer Beschäftigung im Lohnoder Gehaltsverhältnis“ frei zu bewegen. Nach Artikel 2 der Richtlinie 68/360 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, Arbeitnehmern die Ausreise aus ihrem Hoheitsgebiet zu gestatten, „damit sie ... eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis aufnehmen ... können“.

    Das alles zeigt meines Erachtens: Der Arbeitnehmer muß beweisen, daß er zum Zwecke der Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit einreisen und sich aufhalten will. Dabei muß es sich um eine echte und ernsthafte Absicht handeln. Dem steht nicht bereits die Tatsache entgegen, daß die Stundenzahl unter der einer Vollzeitbeschäftigung in einem bestimmten Mitgliedstaat liegt und daß die Löhne geringer sind als das angebliche Existenzminimum. Persönliche Verpflichtungen, Invalidität oder Alter können hier viel eher ein Hindernis darstellen. Selbst eine angebotene Teilzeitbeschäftigung kann durchaus den Lebensstandard des Arbeitsuchenden und seiner Familie heben; möglicherweise besteht Hoffnung auf eine spätere Stunden- und Lohnerhöhung. Auf der anderen Seite kann bei einer Person, deren einziges tatsächliches Einreiseziel darauf gerichtet ist, zu studieren, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen oder nichts zu tun, was wirklich als Erwerbstätigkeit bezeichnet werden könnte, unmöglich davon ausgegangen werden, daß sie einreist, um einer Beschäftigung nachzugehen, selbst wenn sie als Vorwand eine Arbeit von einigen Stunden wöchentlich oder von Zeit zu Zeit übernimmt. Der Umstand, daß nur einige Stunden gearbeitet wird, kann für die Entscheidung relevant sein, ob mit dem Aufenthaltsantrag die echte und ernsthafte Absicht verfolgt wird, zu arbeiten. Je geringer die Zahl der Arbeitsstunden ist, desto schwieriger kann es sein zu beweisen, daß die Arbeit wirklich und ernsthaft beabsichtigt wird. Ebenso kann ein niedriges Einkommen, obwohl es meines Erachtens für sich allein keinen Grund der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit darstellt, der eine Beschränkung gemäß Artikel 48 Absatz 3 des Vertrages rechtfertigen würde, gleichwohl ein Faktor sein, der zusammen mit anderen, eine Beschränkung rechtfertigenden Faktoren, etwa Eintragungen im Strafregister, berücksichtigt werden muß.

    Obwohl die Arbeitsabsicht echt und ernsthaft sein muß, braucht nach meinem Dafürhalten doch nicht bewiesen zu werden, daß es sich dabei um das beherrschende oder Hauptziel handelt. Die einschlägigen Vorschriften selbst verlangen das nicht, und es wäre in der Praxis schwer durchzuführen. Es ist denkbar, daß jemand in einem bestimmten Land vor allem deshalb arbeiten will, weil die Familie seiner Frau dort lebt oder weil er seine Kinder nach einem bestimmten System erziehen lassen will oder auch aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen. Der Umstand, daß hierin die ursprünglichen und hauptsächlichen Motive liegen, schließt nicht aus, daß die Arbeitsabsicht echt und ernsthaft ist.

    Ich würde also die Vorlagefragen wie folgt beantworten :

    1.

    Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufgrund eines Arbeitsvertrags eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausübt, ist ein „Arbeitnehmer“ im Sinne des Artikels 48 EWG-Vertrag sowie der dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen und hat folglich Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß Artikel 4 der Richtlinie 68/360 des Rates, selbst wenn seine Erwerbstätigkeit einen so beschränkten Umfang hat, daß er damit ein geringeres Einkommen erzielt als dasjenige, das in diesem Staat als notwendiges Mindesteinkommen zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen wird.

    2.

    ...

    3.

    Das Recht eines derartigen Staatsangehörigen auf Einreise in den Mitgliedstaat und Aufenthalt in diesem Staat gemäß Artikel 48 und den dazu ergangenen Durchführungsbestimmungen hängt von dem Beweis ab, daß dieser Staatsangehörige die echte und ernsthafte Absicht — wenn auch nicht notwendigerweise das Hauptziel — hat, in dem Mitgliedstaat zu arbeiten.


    ( 1 ) Aus dem Englichen übersetzt.

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