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Document 61980CC0054

Schlussanträge des Generalanwalts Capotorti vom 16. Oktober 1980.
Samuel Wilner.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de grande instance de Paris - Frankreich.
Zollwert.
Rechtssache 54/80.

Sammlung der Rechtsprechung 1980 -03673

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1980:242

SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCESCO CAPOTORTI

VOM 16. OKTOBER 1980 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. 

Nur wenige Monate nach Erlaß des Urteils in der Rechtssache Châtain (das am 24. April dieses Jahres in der Vorabentscheidungssache 65/79 verkündet wurde) haben wir es erneut mit einer Frage zur Auslegung der Verordnung Nr. 803/68 des Rates vom 27. Juni 1968 zu tun, die die Ermittlung des Zollwerts der Waren regelt. Auch in diesem Fall ist ein Importeur angeklagt, einen höheren als den tatsächlichen Wert in Rechnung gestellt zu haben, um verbotenerweise Devisen ins Ausland zu transferieren; wir haben es also mit einem bei dem einzelstaatlichen Gericht anhängigen Strafverfahren zu tun. Die Frage dieses Gerichts zielt aber im wesentlichen nicht darauf ab, ob die Zollverwaltung den vom Importeur angemeldeten Wert herabsetzen darf, sondern vielmehr darauf, ob als Zollwert ein geringerer Wert als der Normalpreis der Ware festgesetzt werden kann. Diese Frage läßt sich daher im Lichte der eindeutigen Bestimmungen der genannten Verordnung ohne weiteres verneinen, ohne daß auf die Entscheidung in der Rechtssache Châtain zurückgegriffen werden müßte.

Fassen wir den Sachverhalt zusammen. Die Firma Victory France, eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Paris, importierte zwischen 1972 und 1974 Webwaren aus den Vereinigten Staaten, die sie mit einem dem Rechnungspreis entsprechenden Wert von etwa eineinhalb Millionen Dollar anmeldete. Die französische Zollverwaltung erkannte die Rechnungen nicht an, da sie von dem Einfuhrunternehmen selbst in Frankreich ausgestellt worden seien, und sah statt dessen die auf einen geringeren Betrag lautende Ausfuhrerklärung des amerikanischen Spediteurs als maßgeblich an. Gestützt auf diese Erklärung setzte sie als Wert der Waren einen Betrag an, der 4 Millionen Franken niedriger als der angemeldete Wert ist, und beschuldigte den Geschäftsführer der Firma, Herrn Wilner, unrichtige Zollerklärungen abgegeben und einen verbotenen Kapitaltransfer vorgenommen zu haben. Das beim Tribunal de grande instance Paris eingeleitete Strafverfahren bildet den Rahmen der vorliegenden Vorabentscheidungssache.

Bei der Abfassung der dem Gerichtshof vorzulegenden Frage hatte das einzelstaatliche Gericht keine glückliche Hand. Der Sache nach fragt es aber, ob als Zollwert einer importierten Ware der vom Spediteur im Ursprungsland angemeldete Wert festgesetzt werden kann, selbst wenn er geringer als der gezahlte Preis ist, sich nicht aus einem Buchungsbeleg ergibt und niedriger als der Normalpreis der Ware ist, der unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zwischen einem Käufer und einem Verkäufer vereinbart würde.

2. 

Artikel 1 der genannten Verordnung Nr. 803/68 bestimmt: „Für die Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs ist der Zollwert der eingeführten Waren der normale Preis, d. h. der Preis, der für diese Waren... bei einem Kaufgeschäft unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zwischen einem Käufer und einem Verkäufer, die voneinander unabhängig sind, erzielt werden kann (Normalpreis).“ Artikel 9 der Verordnung bekräftigt, daß der gezahlte oder zu zahlende Preis u. a. dann als Zollwert anerkannt werden kann, wenn er „im Zeitpunkt seiner Vereinbarung Preisen entspricht, die bei einem Kaufgeschäft unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zwischen einem Käufer und einem Verkäufer, die voneinander unabhängig sind, zustande gekommen sind.“

Wie ich schon in meinen Schlußanträgen in der Rechtssache Châtain ausgeführt habe, „kommt... dem normalen, ‚theoretischen‘ Wert der Ware, und nicht schon dem tatsächlich vereinbarten und gezahlten Preis [unzweifelhaft] ausschlaggebende Bedeutung für die Bestimmung des Zollwerts der eingeführten Waren zu“. Demzufolge kann die nationale Verwaltung bei der Festsetzung des Zollwerts vom Rechnungspreis abweichen, wenn es sich um einen Preis handelt, der bei einem nicht unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs abgeschlossenen Kaufpreis vereinbart und gezahlt worden ist; hierbei muß sie sich aber von dem Ziel leiten lassen, den Normalpreis der Ware zu ermitteln. Eine Bestätigung dieser Auffassung ergibt sich aus dem Urteil des Gerichtshofes vom 13. März 1980 in der Rechtssache 111/79 (Carterpillar, noch nicht veröffentlicht).

Was die Bewertungsmethoden angeht, die zur Ermittlung des Normalpreises anzuwenden sind, so habe ich bereits früher (in den Schlußanträgen in der Rechtssache Châtain) darauf hingewiesen, daß „die gemeinschaftliche Regelung... nichts über die Bewertungsmethoden [sagt], die anwendbar sind, wenn man sich nicht auf den Faktor Preis stützen kann“. Daher entspricht es dem System des — im Rahmen der Gemeinschaft verbindlichen — Brüsseler Abkommens vom 15. Dezember 1950, daß die staatlichen Zollbehörden, deren Aufgabe es ist, die gemeinschaftsrechtliche Regelung auch im Lichte dieses Abkommens anzuwenden, die Waren auf einer anderen Grundlage als der des in Rechnung gestellten Preises bewerten können. Das System des Brüsseler Abkommens ist eindeutig darauf ausgerichtet, die Zollabgaben nach dem objektiven Warenwert zu bemessen, dessen Festsetzung den Zollbehörden obliegt, ohne daß diese an den sich aus den Handelsdokumenten ergebenden Preis gebunden sind.

Nun können aber die nationalen Behörden bekanntlich die vom Weiterverkaufspreis ausgehende deduktive Methode (vgl. hierzu die Randnummern 21 bis 25 des erwähnten Urteils in der Rechtssache Caterpillar) oder auch die vergleichende Methode anwenden, die auf einem Vergleich mit dem Preis gleicher Waren beruht. Keine der beiden Methoden gestattet es jedoch, als einzige Bezugsgröße den Wert heranzuziehen, den der Spediteur bei den Zollbehörden des Ausfuhrlandes angemeldet hat. Dies folgt schon aus der Überlegung, daß der Spediteur eine vom Verkäufer und vom Käufer verschiedene Person ist und seiner Anmeldungserklärung Interessen und Erfordernisse zugrunde liegen können, die mit der Ermittlung des objektiven Warenwerts nichts zu tun haben.

Im Ergebnis ist somit festzuhalten, daß der bei einem bestimmten Verkaufsgeschäft gezahlte Preis für die Zollbehörden zwar nicht verbindlich und nicht ohne weiteres als Zollwert der Ware anzusehen ist, daß es aber zur Ermittlung des Zollwerts der Klärung der Frage bedarf, welches der Normalpreis der fraglichen Ware unter Bedingungen des freien Wettbewerbs ist, und daß die Ermittlung des Zollwerts nicht auf eine Zollerklärung des Spediteurs gestützt werden kann.

3. 

Die bisherigen Ausführungen ermöglichen es meines Erachtens bereits, die Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten, die — dies sei noch einmal gesagt — im wesentlichen darauf abzielt zu klären, ob auf der Grundlage einer Zollerklärung des Spediteurs ein Zollwert festgesetzt werden kann, der niedriger als der Normalpreis der Ware ist. Jedoch hat die Kommission im Laufe des Verfahrens die Vorlagefrage so verstanden, als ob mit ihr in erster Linie geklärt werden sollte, ob die Zollbehörden einen Wert festsetzen können, der niedriger als der in Rechnung gestellte und gezahlte Preis ist. Die Richtigkeit dieser Auslegung unterstellt ergibt sich die Antwort ohne weiteres aus dem bereits angeführten Urteil in der Rechtssache Châtain, wonach es sich bei den in den Gemeinschaftsverordnungen vorgesehenen Änderungen des vom Importeur angemeldeten Zollwerts nur um „Änderungen nach oben“ handelt und die Behörden der Mitgliedstaaten auch dann nicht berechtigt sind, den Zollwert niedriger als den angemeldeten (und durch Rechnungen belegten) Preis festzusetzen, wenn dieser Preis höher als der Normalpreis der Ware sein sollte.

Gestatten Sie mir die Feststellung, daß ich die in meinen Schlußanträgen in der Rechtssache Châtain vertretene Auffassung noch immer für richtig halte, wonach der Grundsatz, daß der Normalpreis dem in Rechnung gestellten Preis vorgeht, sowohl dann anzuwenden ist, wenn ersterer höher, als auch dann, wenn er niedriger als letzterer ist. Ich halte es aber nicht für erforderlich, Ihnen meine Argumente erneut vorzutragen, weil der vorliegende Fall unabhängig von der Lösung des Problems, das sich in der Rechtssache Châtain stellte, entschieden werden kann. Denn die Frage, die der Untersuchungsrichter beim Tribunal de grande instance Paris dem Gerichtshof vorgelegt hat, betrifft nicht das Verhältnis des in Rechnung gestellten Preises zum Normalpreis, sondern die Frage, ob der Normalpreis unterschritten werden darf, indem der Zollwert dem Preis gleichgesetzt wird, der sich aus der Zollerklärung eines Dritten ergibt.

4. 

Abschließend schlage ich dem Gerichtshof vor, die Auslegungsfrage, die ihm das Tribunal de grande instance Paris mit Beschluß vom 11. Februar 1980 vorgelegt hat, wie folgt zu beantworten:

„Es ist nicht mit der Verordnung Nr. 803/68 des Rates vom 27. Juni 1968 vereinbar, wenn die Behörden der Mitgliedstaaten den Zollwert einer eingeführten Ware gestützt auf eine Zollerklärung, die der Spediteur gegenüber den Zollbehörden des Ausfuhrlandes abgegeben hat, niedriger festsetzen als den Normalpreis der Ware, der zwischen einem Käufer und einem Verkäufer unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs vereinbart worden wäre.“


( 1 ) Aus dem Ittlienischen übersetzt.

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