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Document 61978CC0122

Schlussanträge des Generalanwalts Capotorti vom 30. Januar 1979.
SA Buitoni gegen Fonds d'orientation et de régularisation des marchés agricoles.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal administratif de Paris - Frankreich.
Freigabe einer Kaution.
Rechtssache 122/78.

Sammlung der Rechtsprechung 1979 -00677

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1979:18

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCESCO CAPOTORTI

VOM 30. JANUAR 1979 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. 

Bekanntermaßen erfolgt im Rahmen der gemeinsamen Agrarmarktordnungen die Ein- und Ausfuhr von Erzeugnissen, die einem System gemeinsamer Preise unterliegen, auf der Grundlage von Lizenzen mit bestimmter Gültigkeitsdauer, die gegen Stellung einer Kaution erteilt werden. Wesentliche Aufgabe dieser Kaution ist es, wie in der sechsten Begründungserwägung zur Verordnung (EWG) Nr. 193/75 der Kommission vom 17. Januar 1975 ausgeführt wird, die Erfüllung der Verpflichtung zu sichern, die Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenzen durchzuführen. Nach Artikel 17 Absatz 2 der genannten Verordnung wird die Kaution zurückerstattet, wenn der Nachweis der Erfüllung der Einfuhr- oder Ausfuhrzollförmlichkeiten erbracht wird. Artikel 3 der Verordnung (EWG) Nr. 499/76 der Kommission vom 5. März 1976 hat an Artikel 18 der Verordnung Nr. 193/75 einen neuen Absatz angefügt, wonach die Kaution verfällt, wenn die Nachweise gemäß Artikel 17 — außer im Fall höherer Gewalt — nicht binnen sechs Monaten nach dem letzten Gültigkeitstag der Lizenz erbracht werden. In der dritten Begründungserwägung zur Verordnung kann man lesen, daß diese Bestimmung „zur Verwaltungsvereinfachung“ eingeführt wurde.

Im November 1976 wurden der französischen Firma Buitoni vorbehaltlich der Stellung der Kaution Einfuhrlizenzen für Tomatenmark aus dritten Ländern erteilt. Sie führte die Ware innerhalb der Gültigkeitsdauer der Lizenzen ein. Durch ein Versehen ihrer Verwaltung wurde der Nachweis der Einfuhr der zuständigen französischen Interventionsstelle jedoch erst ungefähr fünf Wochen nach Ablauf der obengenannten Frist vorgelegt. Die französische Interventionsstelle bestritt die Ordnungsmäßigkeit der Einfuhraktionen der Firma Buitoni nicht, stellte jedoch fest, die verspätete Vorlage des Nachweises gestatte es ihr nicht, dem Antrag auf Freigabe der von der Firma gestellten Kaution stattzugeben. Folglich erklärte sie die Kaution für verfallen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Firma Buitoni unter Berufung auf die Ungültigkeit des Artikels 3 der Verordnung Nr. 499/76 der Kommission Klage zum Tribunal administratif Paris. Dieses Gericht hat sich mit Urteil vom 22. März 1978 an den Gerichtshof mit dem Ersuchen gewandt, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag „über die Gültigkeit und über die Auslegung“ des genannten Artikels zu erkennen.

Um die Tragweite der Vorabentscheidungsfrage voll zu erfassen, muß man sich auf die von der betroffenen Firma in der Klage zum Tribunal administratif entwickelten Erwägungen beziehen, da dessen Urteil ausdrücklich damit begründet wird, „daß die Antwort auf das Klagevorbringen nicht eindeutig ist“.

Die Firma Buitoni vertritt also die Auffassung, in der Verordnung Nr. 499/76 sei eine Sanktion vorgesehen, zu deren Einführung weder Kommission noch Rat befugt gewesen seien. Wenn der Verfall der Kaution als folgerichtige und angemessene Folge einer Nichterfüllung der Verpflichtung angesehen werden könne, deren Erfüllung die Kaution sicherstellen solle, so stelle er doch in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die verspätete Vorlage bestimmter Unterlagen geahndet werde, nicht aber die Nichterfüllung der Verpflichtung, die Ware binnen festgesetzter Frist einzuführen, eine andere Art von Sanktion dar.

Ferner widerspreche es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die Nichterfüllung einer Verpflichtung und das bloße verspätete Erbringen des Nachweises ihrer Erfüllung gleichermaßen zu ahnden. In der Verordnung Nr. 193/75 selbst sei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit insoweit berücksichtigt worden, als (in Art. 18 Abs. 2 und 3) die teilweise Freigabe der Kaution entsprechend den tatsächlich ein- oder ausgeführten Mengen zugunsten desjenigen vorgesehen sei, der seine Verpflichtung nur teilweise erfülle. Es sei nicht zulässig, ein Unternehmen, das die Einfuhrverpflichtung in vollem Umfange erfüllt habe — wenn es auch den Nachweis verspätet erbringe —, einer höheren Sanktion zu unterwerfen, als sie bei teilweiser Nichterfüllung der Verpflichtung vorgesehen sei. Auf diese Weise werde auch gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen.

Schließlich trug die Klägerin vor, Artikel 3 der Verordnung Nr. 499/76 widerspreche Ziel und Zweck der gemeinschaftlichen Kautionsregelung. Zwar sei es Ziel dieser Regelung, die Unternehmen zur Erfüllung ihrer Ein- und Ausfuhrverpflichtung anzuhalten, jedoch sei es völlig ungerechtfertigt, die Kaution auch in Fällen für verfallen zu erklären, in denen die Verpflichtung erfüllt worden sei.

2. 

Auf der Grundlage dieser Erwägungen also hat das nationale Gericht den Gerichtshof ersucht, über die Gültigkeit des Artikels 3 der Verordnung Nr. 499/76 zu erkennen. Das Tribunal administratif Paris hat jedoch in seiner Frage auch die Auslegung dieses Artikels erwähnt; diesen Punkt möchte ich vorab klären, um die Untersuchung von einem falschen Problem zu befreien.

Nach Auffassung der Klägerin bleibt, falls die angegriffene Norm für gültig erachtet werden sollte, die Möglichkeit einer „großzügigen“ oder „billigen“ Auslegung offen, die es ihr ermöglichen würde, die gestellte Kaution zurückzuerlangen. Tatsächlich konnte die Klägerin selbst nicht angeben, wie man Artikel 3 aus Gründen der Billigkeit gegebenenfalls auslegen könnte; sie zieht eine sehr weitherzige Anwendung des Artikels auf ihren Fall vor, so daß die Desorganisation ihrer Verwaltung während der Ferienzeit als Fall höherer Gewalt angesehen werden könnte! Man kann einfach antworten, daß es dem nationalen Gericht, nicht dem Gerichtshof zukommt, die einschlägige Gemeinschaftsvorschrift auf den Einzelfall anzuwenden; so geht man die Auslegungsfrage allgemein an. Ist man jedoch der Auffassung, daß das nationale Gericht nach der Auslegung des Ausdrucks „außer im Fall höherer Gewalt“ im genannten Artikel 3 fragen wollte, so ist gleichermaßen einfach zu antworten, daß der Begriff der höheren Gewalt sich auf außergewöhnliche Umstände bezieht, die dem einzelnen, der sich auf höhere Gewalt beruft, um einer Verpflichtung ledig zu werden oder seine Haftung auszuschließen, nicht vorgeworfen werden können (EuGH 11. Juli 1968 — Schwarzwaldmilch, 4/68 — Slg. 1968, 561; 17. Dezember 1970 — Internationale Handelsgesellschaft, 11/70 — Slg. 1970, 1125; 30. Januar 1974 — Kampffmeyer 158/73 — Slg. 1974, 101; 15. Mai 1974 — Norddeutsches Vieh- und Fleischkontor, 186/73 — Slg. 1974, 533; 28. Mai 1974 — Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, 3/74 — Slg. 1974, 589; 20. Februar 1975 — Reich, 64/74 — Slg. 1975, 261). Folglich kann meines Erachtens eine mangelhafte Arbeit der Verwaltung einer Handelsgesellschaft während der Sommerferien nicht als Fall höherer Gewalt angesehen werden. Sollte sich schließlich der Zweifel des nationalen Gerichts auf die Bestimmung der Margen beziehen, die Artikel 3 der billigen Beurteilung der nationalen Verwaltungen oder Gerichte lassen könnte, so könnte die Antwort nur negativ sein; Margen dieser Art sieht der Artikel nicht vor.

3. 

Wenden wir uns nun mit der Wiedergabe des Vorbringens der Kommission der Gültigkeit der fraglichen Norm zu. In ihren schriftlichen Erklärungen hat sie die Rechtmäßigkeit von Artikel 3 der Verordnung Nr. 499/76 im wesentlichen unter Berufung darauf verteidigt, diese Bestimmung sei zur Erreichung zweier Ziele erforderlich: um die Verwaltungspraktiken der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Bedingungen und der Fristen für die Freigabe der Kautionen zu vereinheitlichen und um eine Frist für den endgültigen Abschluß jeden Vorgangs festzusetzen.

In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission dann einen dritten, in ihren schriftlichen Erklärungen kaum angesprochenen Punkt entwickelt, indem sie die Informationsfunktion der Regelung der Ein- und Ausfuhrlizenzen hervorhob. Diese Regelung solle es der Kommission unter anderem ermöglichen, der Marktentwicklung möglichst dicht zu folgen; die Festsetzung eines einheitlichen Termins in der gesamten Gemeinschaft, bis zu dem die Akten über die von einer Kaution gesicherten Vorgänge abgeschlossen sein müßten, diene der Sicherung der korrekten Erfüllung dieser Funktion. Die Kommission hat vorgetragen, nur die Vorlage der Nachweise seitens der Importeure und Exporteure versetze die nationalen und die Gemeinschaftsstellen in die Lage, die genaue Zahl der auf der Grundlage der Lizenzen durchgeführten Vorgänge zu ermitteln. Die Schwere der Sanktion für das Überschreiten der Frist für die Vorlage der Nachweise ist nach Ansicht der Kommission durch die Bedeutung gerechtfertigt, die dem gemeinschaftlichen Interesse an der Informationsfunktion zukomme. Würden die Nachweise nicht erbracht, so werde die Kommission zu der Ansicht verleitet, daß der Vorgang, auf den sich bestimmte Lizenzen bezögen, nicht stattgefunden habe; das verfälsche ihre Kenntnis der wirtschaftlichen Tatsachen.

Zum ersten Gesichtspunkt — der Vereinheitlichung der nationalen Verwaltungspraktiken hinsichtlich der Freigabe der Kautionen — hat sich die Kommission auf das Vorbringen beschränkt, bestimmte nationale Verwaltungen hätten sich strenger gezeigt als andere; sie hat jedoch aus der Zeit vor dem Erlaß der fraglichen Norm keinen Fall genannt, in dem ein Mitgliedstaat die Kaution nur wegen verspäteter Vorlage der Nachweise für verfallen erklärt hätte. Das Erfordernis, die nationalen Verfahren zu vereinheitlichen, führte nicht notwendigerweise zu der rigorosen Lösung des Artikels 3 der Verordnung Nr. 499/76.

Wie sich aus der mündlichen Verhandlung ergeben hat, hatte der zweite Punkt des Verteidigungsvorbringens der Kommission in Wirklichkeit viel größeres Gewicht als der erste. Ich beziehe mich auf die Verwaltungsnotwendigkeit, schwebende Vorgänge binnen bestimmter Frist abzuschließen, und darf daran erinnern, daß Artikel 3 in der dritten Begründungserwägung zur Verordnung mit einer „Verwaltungsvereinfachung“ begründet wird.

Es stellt zweifelsfrei ein vernünftiges praktisches Erfordernis für jede Verwaltung dar, ihre Akten nicht unbeschränkt offenzuhalten. Die Firma Buitoni selbst hat die Rechtmäßigkeit eines solchen Erfordernisses und daher der Festsetzung einer Ordnungsfrist für die Vorlage der Nachweise für jede Ein- oder Ausfuhr nicht bestritten. Nicht die Dauer der in der Verordnung Nr. 499/76 festgesetzten Frist steht hier in Streit; die Kommission hat zu Recht vorgetragen, daß eine sechsmonatige Frist vernünftig sei. Ebenso vernünftig ist es, daß es sich um eine „Ordnungs“-Frist, nicht um eine Ausschlußfrist handelt, wie die Kommission hervorgehoben hat: Praktische Folge hiervon ist es, daß die Nachweise für die erfolgten Vorgänge noch nach Ablauf der Frist vorgelegt werden können. Das alles beeinflußt jedoch die gesonderte Beurteilung der Sanktion für das Überschreiten der Frist nicht. Die entscheidende Frage im vorliegenden Fall ist, ob die Sanktion, nicht, ob die Ordnungsfrist vernünftig ist.

Zur Informationsfunktion schließlich, die die Kommission der Lizenzregelung beimißt, ist auszuschließen, daß die Kenntnis der Marktlage von der verspäteten Vorlage der Nachweise über die erfolgten Ein- und Ausfuhren der einer Lizenzpflicht unterliegenden Waren abhängt. Die Klarstellungen, die die Kommission in Beantwortung von Fragen vorgenommen hat, die ihr während der mündlichen Verhandlung gestellt wurden, bestätigen, daß die Zollbehörden der Mitgliedstaaten die Kommission über alle Ein- und Ausfuhren der verschiedenen Warengruppen und -arten unterrichten. Diese Informationen sind hinsichtlich der Mengen der Waren erschöpfend und erlauben es der Kommission, das Marktgeschehen und die Warenströme zu erfassen; sie erlauben es ihr jedoch nicht, die einzelnen Unternehmen zu erkennen, die Ein- oder Ausfuhrverpflichtungen gemäß der Lizenzregelung übernommen haben. Die Informationsfunktion beschränkt sich somit anscheinend darauf, die erforderlichen Unterlagen zu liefern, die es der Kommission erlauben, im Rahmen der Gesamtwarenbewegungen, über die sie bereits von den nationalen Zollämtern unterrichtet ist, die Vorgänge, die auf der Grundlage von Ein- oder Ausfuhrlizenzen durchgeführt wurden, und insbesondere die Unternehmen zu erkennen, die die mit den Lizenzen verbundenen Verpflichtungen übernommen haben. Meines Erachtens kann eine so zweitrangige und beschränkte Informationsfunktion nicht von solcher Bedeutung sein, daß sie die schwerwiegende Sanktion des Verlusts der Kaution in Fällen rechtfertigte, in denen die Lizenzen verspätet vorgelegt werden. Ferner halte ich es für angebracht zu bemerken, daß die Kommission den engen Zusammenhang zwischen der Informationsfunktion, der Verpflichtung, die durchgeführten Vorgänge binnen bestimmter Frist zu belegen, und den einschlägigen Sanktionen, hätte sie ihn von Anfang an gesehen, bereits in der Begründung zur angefochtenen Verordnung hätte zum Ausdruck bringen müssen; diese schweigt jedoch in dieser Hinsicht.

4. 

Der Schlüssel zur Lösung des vorliegenden Problems liegt darin, die Sanktion in Artikel 3 der Verordnung Nr. 499/76 am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen, wonach jede den Adressaten der Gemeinschaftsnormen auferlegte Last sich im Rahmen des zur Verwirklichung der Ziele Erforderlichen halten muß und nur das geringstmögliche Opfer seitens der einzelnen fordern darf. Es ist kaum erforderlich daran zu erinnern, daß dies nunmehr ein feststehender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist (aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann man die Urteile vom 13. Juli 1962 in der Rechtssache 19/61, Mannesmann, Slg. 1962, 717; vom 17. Dezember 1970 in der Rechtssache 25/70, Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide, Slg. 1970, 1162; vom 24. Oktober 1973 in der Rechtssache 5/73, Balkan-Import-Export, Slg. 1973, 1092; vom 13. November 1973 in den verbundenen Rechtssachen 63 bis 69/72, Wehrhahn, Slg. 1973, 1230; vom 11. Mai 1977 in den verbundenen Rechtssachen 99 und 100/76, De Beste Boter und Hoche, Slg. 1977, 861, und vom 5. Juli 1977 in der Rechtssache 114/76, Bela-Mühle, Slg. 1977, 1211, erwähnen). Ich darf insbesondere auf das Urteil vom 11. Mai 1977 in den Rechtssachen 99 und 100/76 hinweisen, weil sich in ihm das Problem einer Kaution in Agrarangelegenheiten unter dem Gesichtspunkt der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stellte; dort wurde entschieden, daß die Grenzen dessen, was angemessen und erforderlich ist, um den verfolgten Zweck zu erreichen, nicht überschritten waren, da dem Kautionsverfall nicht die Bedeutung einer „Sanktion wegen Verletzung einer selbständigen Verbindlichkeit“ beigemessen werden konnte (Randnr. 11 der Entscheidungsgründe).

Da es sich um das Verhältnis zwischen Mittel (Kautionsregelung) und Zweck handelt, muß offenkundig zunächst der von dieser Regelung verfolgte Zweck festgestellt werden. Ich habe bereits die sechste Begründungserwägung zur Verordnung Nr. 193/75 der Kommission vom 17. Januar 1975 zitiert, wonach die Kaution „die Erfüllung der Verpflichtung sichern soll, die Einfuhr oder Ausfuhr während der Gültigkeitsdauer der Lizenzen durchzuführen“; dies ist von um so größerer Bedeutung, als es Ziel der Verordnung Nr. 193/75 war, die seit der Verordnung (EWG) Nr. 1373/70 der Kommission vom 10. Juli 1970 bestehende Regelung der Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen „neu zu fassen“ (vgl. zweite Begründungserwägung zur Verordnung Nr. 193/75). Der Gerichtshof hat zur Verordnung Nr. 1373/70 bereits entschieden, daß es Zweck der Kautionsregelung ist, die Durchführung der Ein- und Ausfuhren zu gewährleisten. Hinsichtlich des Ziels der Kautionsregelung in Verbindune mit der Regelung der Einfuhr- und Ausfuhrlizenzen bestehen daher keine Zweifel; seine logische und rechtliche Folge ist es, daß der Kautionsverfall in Fällen rechtmäßig ist, in denen die Ein- und Ausfuhren nicht durchgeführt werden.

Offenkundig besteht jedoch ein Unterschied zwischen der Mißachtung der freiwillig übernommenen Verpflichtung zur Ein- oder Ausfuhr binnen bestimmter Frist und dem Versäumnis, binnen der in der Verordnung Nr. 499/76 festgesetzten Frist die Unterlagen vorzulegen, die den Nachweis der Ein- und Ausfuhr erbringen. Dehnt man die für die erstgenannte Nichterfüllung festgesetzte Sanktion, den Verfall der Kaution, auf die zweitgenannte aus, so bedient man sich des von der Kautionsregelung gebotenen Mittels für einen vom ursprünglichen abweichenden Zweck; das bedeutet (um es mit den Worten des Urteils vom 11. Mai 1977 zu sagen), den Kautionsverfall zu einer Sanktion wegen Verletzung einer selbständigen Verbindlichkeit zu machen. Hierzu sind zwei Erwägungen von Belang.

Erstens: Werden die Nachweise nicht vorgelegt, weil die Ein- oder Ausfuhr nicht durchgeführt wurde, so ist dieser Umstand für den Kautionsverfall maßgebend; eine Norm wie Artikel 3 der Verordnung Nr. 499/76 hat daher nur dann einen Zweck, wenn man die Nichtvorlage der Nachweise als solche unabhängig davon ahnden will, ob die Einfuhr (oder Ausfuhr) erfolgt ist. Zweitens: Vor Erlaß der Verordnung Nr. 499/76 war die Kautionsregelung bereits lange Zeit in Kraft; die Mißachtung der Einfuhr oder Ausfuhrverpflichtung wurde naturgemäß mit dem Kautionsverlust geahndet, während die Unmöglichkeit, die Kaution zurückzuerhalten, bevor der Nachweis für die Durchführung der Aktion erbracht war, die Unternehmen veranlaßte, die Vorlage dieses Nachweises nicht übermäßig zu verzögern. Die eigentliche durch die genannte Verordnung eingeführte Neuerung besteht darin, daß auch der die Kaution verliert, der die übernommene Verpflichtung eingehalten hat, der aber die „Ordnungs“-Frist für die Vorlage der Nachweise ungenutzt hat verstreichen lassen.

Eine derart strenge Sanktion für einen rein formellen Verstoß, der erheblich leichter wiegt als die Nichterfüllung der Verpflichtung, die die Kaution sichern soll, scheint mir übermäßig zu sein; ich glaube nicht, daß zu ihrer Rechtfertigung die Schwierigkeiten ausreichen, die es für die Verwaltung bedeuten kann, die Akten in einer Sache offenzuhalten, anstatt sie binnen sechs Monaten nach Ablauf der Gültigkeitsdauer der Lizenz endgültig schließen zu können.

Die Kommission sagt, sie fürchte die Schwierigkeiten für das Funktionieren ihrer Dienststellen, die die Freiheit der Unternehmer mit sich brächte, die für die Freigabe der Kaution erforderlichen Nachweise zu jeder beliebigen Zeit erbringen zu können. Diesem Vortrag ist jedoch vor allem entgegenzuhalten, daß jedes Unternehmen auch dann daran in teressiert ist, die Kaution möglichst bald freigestellt zu erhalten, wenn diese vermittels einfacher Bankbürgschaft gestellt wurde, da im allgemeinen nicht anzunehmen ist, daß die Banken ihren Kunden Leistungen ohne Gegenleistung gewähren. Weiter kann man anmerken, daß es zwischen der Freiheit, die Nachweise für die durchgeführte Aktion ohne zeitliche Begrenzung zu erbringen, und der drakonischen Bestimmung des Artikels 3 der Verordnung Nr. 499/76 einen Mittelweg gibt: eine Ordnungsfrist für die Vorlage der Nachweise festzusetzen, wie es geschehen ist, und ihr Überschreiten mit einer der Verspätung angemessenen Verzugsstrafe zu ahnden (die daher nach der Dauer der Verzögerung, jedoch von einer angemessen niedrigen Basis aus stiege). Auf diese Weise hätten die Unternehmen einen weiteren Grund für die Einhaltung der Frist; die Verwaltung hätte einen Ausgleich für die Unzuträglichkeiten, die aus Verspätungen entstehen können.

Der Umstand, daß das erstrebte Ziel offenkundig durch Maßnahmen erreicht werden kann, die für die einzelnen fühlbar weniger belastend sind, scheint mir entscheidend dafür zu sein, die fragliche Maßnahme als im Widerspruch zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und daher als ungültig zu erachten.

5. 

Aus diesen Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die ihm vom Tribunal administratif Paris mit Urteil vom 22. Februar 1978 vorgelegte Frage festzustellen, daß Artikel 3 der Verordnung Nr. 499/76 der Kommission vom 5. März 1976 ungültig ist.


( 1 ) Aus dem Italienischen übersetzt.

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