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Document 61978CC0009
Opinion of Mr Advocate General Mayras delivered on 15 June 1978. # Directeur régional de la Sécurité sociale de Nancy v Paulin Gillard and Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est, Nancy. # Reference for a preliminary ruling: Cour d'appel de Nancy - France. # Case 9/78.
Schlussanträge des Generalanwalts Mayras vom 15. Juni 1978.
Directeur régional de la Sécurité sociale de Nancy gegen Paulin Gillard und Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est, Nancy.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour d'appel de Nancy - Frankreich.
Rechtssache 9/78.
Schlussanträge des Generalanwalts Mayras vom 15. Juni 1978.
Directeur régional de la Sécurité sociale de Nancy gegen Paulin Gillard und Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est, Nancy.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour d'appel de Nancy - Frankreich.
Rechtssache 9/78.
Sammlung der Rechtsprechung 1978 -01661
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1978:132
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS
VOM 15. JUNI 1978 ( 1 )
Herr Präsident,
meine Herren Richter!
Wiederum werden Sie aufgefordert, die unmittelbare Geltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von inländischen Staatsangehörigen und Gemeinschaftsangehörigen in bezug auf die Feststellung der Altersrente für Arbeitnehmer zu bestätigen. Hier handelt es sich um eine vorgezogene Altersrente.
I — |
Nach dem französischen Gesetz Nr. 73-1051 vom 21. November 1973 wird die den Arbeitnehmern, die ehemalige Kriegsteilnehmer oder Kriegsgefangene sind, gewährte Altersrente zu dem in der Regel für 65 Jahre geltenden Satz (50 %) berechnet, wenn — bei denjenigen, bei denen die Dauer der Kriegsgefangenschaft 54 Monate oder mehr beträgt, ihre Rente auf ihren Antrag zwischen dem 60. und 61. Lebensjahr festgestellt wird. Artikel 1 Absatz 1 letzter Unterabsatz und Absatz 2 der Verordnung Nr. 74-1194 vom 31. Dezember 1974 zur Änderung der Durchführungsverordnung Nr. 74-54 vom 23. Januar 1974 zu dem erwähnten Gesetz bestimmt: „Um die Rechtsvorteile aus diesen Bestimmungen in Anspruch nehmen zu können, müssen die Antragsteller die Dauer ihrer Kriegsgefangenschaft und ihres Wehrdienstes im Krieg als Angehörige der französischen oder alliierten Streitkräfte durch Vorlage ihres Soldbuchs oder einer von der zuständigen Militärbehörde oder vom Ministerium bzw. Staatlichen Amt für ehemalige Kriegsteilnehmer ausgestellten Bescheinigung nachweisen.“ Herr Paulin Gillard, der Kläger des Ausgangsverfahrens, der am 6. September 1915 geboren ist, die belgische Staatsangehörigkeit besitzt und gegenwärtig in Belgien wohnt, übte in Frankreich eine unselbständige Erwerbstätigkeit aus. Er war als belgischer Soldat vom 28. Mai 1940 bis zum 21. Juni 1945, somit länger als 60 Monate, Kriegsgefangener in Deutschland. Als er das 60. Lebensjahr erreichte, wurde ihm von den zuständigen französischen Stellen mit Wirkung vom 1. Oktober 1975 aufgrund der in Frankreich zurückgelegten Beschäftigungszeiten nur eine Altersrente zum Satz von 25 % seines durchschnittlichen Jahresgehalts bewilligt. Zur Begründung dafür, daß sie dem Antragsteller die Gewährung einer Rente zum Satz von 50 % verweigerte, hatte die Caisse régionale d'assurance maladie du Nord-Est u. a. geltend gemacht, er habe zum Nachweis seiner Eigenschaft als ehemaliger Kriegsgefangener nur einen Ausweis des belgischen Verteidigungsministeriums vorgelegt. Die Cour d'Appel Nancy hat diesen bloß formalen, auf die Art und Weise, in der der Antragsteller seine Berechtigung zu beweisen suchte, gestützten Einwand bereits zurückgewiesen. Sie wünscht jedoch, über folgende drei Fragen aufgeklärt zu werden:
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II — |
Die Prüfung der ersten Frage und die Antwort, die ich Ihnen hierauf zu geben vorschlage, entbinden uns davon, die beiden anderen Fragen ausführlich zu untersuchen, obgleich sie Ihnen auch für den Fall der Verneinung der ersten Frage gestellt sind. Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt, daß die Verordnung nicht „auf Leistungssysteme für Opfer des Krieges und seiner Folgen“ anzuwenden ist. Das Hauptargument, das die zuständige französische Stelle dem Betroffenen entgegengehalten hat, geht dahin, daß die Bestimmungen des französischen Gesetzes vom 21. November 1973 in den Geltungsbereich dieses Artikels 4 Absatz 4 fielen, weil die Voraussetzungen, unter denen die in diesem Gesetz vorgesehenen Leistungen und Vergünstigungen gewährt würden, diesen einen Entschädigungscharakter verleihen würden, der über den eigentlichen Rahmen der sozialen Sicherheit hinausgehe: Diese Leistungen würden den Arbeitnehmern, die Opfer des Krieges seien, nicht nur insoweit erbracht, als dieser ihnen im Hinblick auf den Erwerb der Ansprüche auf Altersrente (oder anderer ähnlicher Vergünstigungen) geschadet habe. Die aufgrund des französischen Gesetzes vom 21. November 1973 geschaffenen Vergünstigungen (vorzeitige Zahlung, Erhöhung des Satzes) stellten derartige Entschädigungsleistungen dar. Es ist selbstverständlich nicht Ihre Aufgabe, die fragliche französische Bestimmung im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht zu beurteilen, und insbesondere auch nicht, zu untersuchen, ob das in Rede stehende Gesetz unbedingten Entschädigungscharakter hat und ob es auch bezweckt, die ehemaligen Kriegsteilnehmer und -gefangenen für „die von ihnen erduldeten Prüfungen und dem Lande geleisteten Dienste“ zu entschädigen. Gleichwohl scheint mir, daß sich Artikel 51 des Vertrages und die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 sehr wohl auf Leistungen von der Art der fraglichen Vergünstigungen beziehen. Es handelt sich nämlich um die Entstehung oder den Erwerb des Leistungsanspruchs sowie um die Berechnung der Leistungen — Ausdrücke, die in Artikel 51 des Vertrages von Rom und in den Artikeln 45 und 46 der Verordnung verwendet werden. Sobald ein Gesetz u. a. bezweckt, die Wirkung der infolge des Krieges in bezug auf den Erwerb oder die Aufrechterhaltung der Altersrentenansprüche eingetretenen Unterbrechung aufzuheben, befinden wir uns tatsächlich im Bereich der sozialen Sicherheit und nicht in dem spezieller Sondervergünstigungen. Die Tatsache, daß die Bestimmungen des französischen Gesetzes in Artikel L 332 Absatz 2 des Gesetzbuches der sozialen Sicherheit aufgenommen wurden, ist die logische Folge dieser Feststellung, aber nicht ihre Grundursache. Unter diesen Umständen halte ich es für nutzlos, der Frage nachzugehen, ob das in Rede stehende Gesetz auch etwas von einem Leistungssystem für Opfer des Krieges und seiner Folgen hat und ob es — wie die Beihilfe für alte Arbeitnehmer — Ausdruck der nationalen Solidarität ist. Die vom Geltungsbereich der Gemeinschaftsregelung ausgenommenen Systeme betreffen Leistungen, deren Zweck ausschließlich darin besteht, die von den Kriegsopfern erlittenen körperlichen oder sonstigen Schäden wiedergutzumachen, so wie es im französischen Recht bei den Leistungen des Gesetzbuches über die militärischen Invaliden- und Kriegsopferrenten der Fall ist. Im übrigen kann der im französischen Gesetz vom 21. November 1973, aus dem Artikel L 332 Absatz 2 des Gesetzbuches der Sozialen Sicherheit geworden ist, für die ehemaligen Kriegsgefangenen vorgesehene Rentenzuschlag in Frankreich zum Beispiel mit einer militärischen Invalidenrente kumuliert werden, die wegen einer in der Gefangenschaft eingetretenen Verletzung oder Erkrankung gezahlt wird. Außerdem ist zu bemerken, daß es nicht erforderlich ist, auf Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe d der Verordnung Nr. 1408/71 zurückzugreifen, damit die im belgischen Wehrdienst zurückgelegten Zeiten nutzbringend berücksichtigt werden können. Darüber hinaus denke ich, daß diese Bestimmung nur für die Leistungen gilt, die ihre Ursache in der Ableistung des Wehrdienstes haben, und nicht für diejenigen, für die dieser Tatbestand lediglich der Anlaß ist und die nur eine lose Beziehung zum Wehrdienst aufweisen. |
III — |
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich ein System, wie das des Artikels L 332 Absatz 2 des Gesetzbuches der Sozialen Sicherheit, auch auf die Arbeitnehmer erstreckt, die zwar nicht die französische Staatsangehörigkeit besitzen, die aber Angehörige eines Mitgliedstaats (Belgien) sind, der zu den verbündeten Ländern gehörte, und die als Soldaten dieses Staates gedient haben. Aus Ihrer Rechtsprechung, insbesondere Ihrem Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache Hirardin (Slg. 1976, 553), ergibt sich, daß der in den Artikeln 7 und 48 des Vertrages von Rom aufgestellte und in den Artikeln 8 der Verordnung Nr. 3 und 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 wiederholte Grundsatz der Gleichbehandlung immer dann unmittelbar Anwendung finden muß, wenn sich der Arbeitnehmer, der einem der Mitgliedstaaten angehört, und der inländische Arbeitnehmer im Hinblick auf das System der sozialen Sicherheit in der gleichen Lage befinden. Die Bestimmungen über die Voraussetzungen für die Gewährung der Renten der sozialen Sicherheit sind Bestimmungen mit allgemeiner Geltung, die das Kriterium der Staatsangehörigkeit im Rahmen der EWG außer acht lassen müssen, und aus dem Fehlen der Gegenseitigkeitsklausel in diesem Bereich kann nichts hergeleitet werden. Da die Arbeitnehmer auf den Ausgang des Krieges und die Wahl des Lagers, in dem sie stehen, keinen Einfluß haben, könnte man der Ansicht sein, daß die Arbeitnehmer jedes Mitgliedstaats, denen der letzte Krieg in bezug auf den Erwerb der Altersrentenansprüche geschadet hat, berechtigt sein müßten, die Anwendung der Bestimmungen jedes Mitgliedstaats, in dem sie einen Leistungsanspruch haben, zu verlangen, gleichgültig, als Soldat welches Landes sie gedient haben, vorausgesetzt natürlich, daß gleiche Vergünstigungen aufgrund eines ähnlichen Systems, das in dem Land gilt, dessen Uniform sie getragen haben und aus dem sie stammen, nicht kumuliert werden. Zahlreiche Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Berechnung der Rentenansprüche die Kriegsgefangenschaftsjahre der Arbeitnehmer; in Belgien hat eine königliche Verordnung vom 23. Juni 1970 diese Vergünstigung den Trägern des „chevron de captivité“ (Gefangenschaftsabzeichen) eingeräumt. Nur die Europäischen Gemeinschaften haben zu diesem Zweck noch keine Maßnahmen für ihr Personal getroffen. |
Ich beantrage, wie folgt für Recht zu erkennen:
Eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, die den Angehörigen dieses Staates und den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einen Anspruch auf Anrechnung einer Zeit der Kriegsgefangenschaft während des Krieges 1939-1945 verleiht, in dem sie in den französischen oder alliierten Streitkräften gedient haben, gilt im Hinblick auf den Erwerb und die Feststellung einer Altersrente der Verordnung Nr. 1408/71 für die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auch dann, wenn diese in den alliierten Streitkräften außerhalb der französischen gedient haben.
( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.