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Document 61976CC0075

Schlussanträge des Generalanwalts Capotorti vom 16. Februar 1977.
Silvana Kaucic und Anna Maria Kaucic gegen Institut national d'assurances maladie invalidité.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Cour de cassation - Belgien.
Rechtssache 75-76.

Sammlung der Rechtsprechung 1977 -00495

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1977:28

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCESCO CAPOTORTI

VOM 16. FEBRUAR 1977 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. 

Die Ihnen in dieser Rechtssache unterbreitete Vorlagefrage läßt sich im wesentlichen wie folgt zusammenfassen: Gestatten oder verbieten es die Gemeinschaftsnormen über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer einem Mitgliedstaat, eine gegen die Kumulierung von Sozialversicherungsleistungen gerichtete Vorschrift seiner Rechtsordnung auf einen Arbeitnehmer anzuwenden, der eine Invaliditätsrente nach den gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen und eine weitere, gleichartige Rente zu Lasten eines Drittstaates beanspruchen kann?

Dem Rechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Der italienische Staatsangehörige Luigi Kaucic hatte in drei Staaten gearbeitet: in Belgien von 1929 bis 1940 (501 Wochen), in Österreich von 1941 bis 1945 (42 Monate) und in Italien von 1949 bis 1957 (323 Wochen). 1957 wurde er arbeitsunfähig und erhielt zwei Invaliditätsrenten: Die eine (ab 1. Oktober 1957) ging zu Lasten des zuständigen österreichischen Trägers und fiel unter ein zweiseitiges österreichisch-italienisches Abkommen, das die Zusammenrechnung der in den beiden Ländern zurückgelegten Beschäftigungszeiten ermöglichte; für die andere (ab 1. Januar 1958) kamen gemäß den Gemeinschaftsverordnungen Nr. 3 und 4 die italienischen und belgischen Sozialversicherungsträger auf. Der auf den italienischen Träger entfallende Anteil der zweiten Rente wurde jedoch durch den im Rahmen des österreichischitalienischen Abkommens geschuldeten höheren Betrag ersetzt, was einer von der EWG-Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer auf ihrer 51. Tagung (Januar 1964) gefaßten Grundsatzentscheidung entsprach.

Der belgische Anteil dieser zweiten Rente wurde Herrn Kaucic bis zum 31. Dezember 1963 ungekürzt gezahlt, obwohl er gleichzeitig die österreichische Rente bezog. Mit Wirkung vom 1. Januar 1964 berichtigte aber das belgische Institut national d'assurance maladie-invalidité (INAMI) den auf Belgien entfallenden Betrag des Rentenanteils, indem es den belgischen „Zunächst-Betrag“ der Rente berechnete (also die Rente, die Herrn Kaucic nach den belgischen Rechtsvorschriften zukäme, wenn er auch die in Italien zurückgelegten Beschäftigungszeiten in Belgien verbracht hätte), von diesem Betrag den österreichischen Rentenbetrag abzog und den Restbetrag proratisierte. Hierbei wandte es Artikel 70 § 2 des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963 über die Errichtung und Organisation eines Pflichtversicherungssystems gegen Krankheit und Invalidität an, der bestimmt: „Die in diesem Gesetz vorgesehenen Leistungen werden nur nach Maßgabe der vom König festgelegten Vorschriften gewährt, wenn der Schaden, aufgrund dessen sie in Anspruch genommen werden, nach den allgemeinen oder anderen Rechtsvorschriften gedeckt ist. In diesen Fällen treten die Leistungen der Versicherung nicht neben den sich aus den anderen Rechtsvorschriften ergebenden Schadensersatz; sie sind von der Versicherung aber insoweit zu tragen, als der durch diese Rechtsvorschriften gedeckte Schaden nicht tatsächlich ersetzt wird …“

Gegen diese Entscheidung des INAMI erhob Herr Kaucic Klage vor dem Tribunal du travail Brüssel. Die Klage wurde jedoch abgewiesen. Als Herr Kaucic im Dezember 1973 starb, legten seine Tōchter Berufung bei der Cour de travail Brüssel ein, welche die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts bestätigte. Daraufhin legten die Schwestern Kaucic gegen das Urteil der zweiten Instanz Kassationsbeschwerde ein. Die Cour de cassation hat dann mit Urteil vom 16. Juni 1976 beschlossen, dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag folgende Frage vorzulegen:

„Verbieten es die Artikel 27 Absatz 1 und 28 Absatz 1 der Verordnung des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. September 1958 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer dem Träger eines Mitgliedstaates, seine eigenen Rechtsvorschriften über das Zusammentreffen einer nach seinen Rechtsvorschriften geschuldeten Leistung mit einer nach den Rechtsvorschriften eines Drittstaates gewährten Leistung anzuwenden; verbieten sie insbesondere, Artikel 70 § 2 des belgischen Gesetzes vom 9. August 1963 auf das Zusammentreffen einer von einem belgischen Trāger geschuldeten Leistung mit einer Leistung anzuwenden, die der österreichische Staat schuldet, den kein zweiseitiges Sozialversicherungsabkommen mit Belgien verbindet, so daß also der belgische Träger vor allem den vorerwähnten Artikel 70 § 2 nicht anwenden könnte, um den ‚Zunächst-Betrag‘ zu bestimmen, auf den die betreffende Person Anspruch hätte, wenn sämtliche nach Artikel 27 der Verordnung Nr. 3 zusammengerechneten Versicherungszeiten und gleichgestellten Zeiten ausschließlich nach den belgischen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären?“

2. 

Zweckmäßigerweise ist zunächst der Inhalt der beiden Gemeinschaftsnormen darzulegen, auf die der einzelstaatliche Richter verweist. Artikel 27 Absatz 1 der Verordnung Nr. 3/58 des Rates vom 25. September 1958 bezieht sich auf den Fall eines Arbeitnehmers, für den nacheinander oder abwechselnd die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, und stellt „für den Erwerb, die Aufrechterhaltung oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs“ den Grundsatz der Zusammenrechnung der nach den Rechtsvorschriften jedes Mitgliedstaates zurückgelegten Versicherungszeiten (oder gleichgestellten Zeiten) auf. Artikel 28 Absatz 1 der Verordnung bestimmt das Verfahren, nach dem die Leistungen festgestellt werden, die ein in Artikel 27 bezeichneter Versicherter beanspruchen kann, und schreibt unter Buchstabe a im einzelnen vor, daß der Träger eines jeden Mitgliedstaats, nach dessen Rechtsvorschriften der Arbeitnehmer Versicherungszeiten zurückgelegt hat, nach seinen Rechtsvorschriften und unter Berücksichtigung der in Artikel 27 vorgesehenen Zusammenrechnung der Zeiten bestimmt, ob der Arbeitnehmer die Voraussetzungen für den Anspruch auf die vorgesehenen Leistungen erfüllt Für den Fall, daß ein Leistungsanspruch besteht, sieht dann Buchstabe b vor, daß der in Betracht kommende Träger zunächst die Leistung bestimmt, auf die der Betreffende Anspruch hätte, wenn sämtliche zusammengerechneten Versicherungszeiten ausschließlich nach seinen eigenen Rechtsvorschriften zurückgelegt worden wären (das ist der „Zunächst-Betrag“), und setzt sodann den von ihm geschuldeten Betrag fest, indem er das Verhältnis zwischen der Dauer der nach seinen Rechtsvorschriften zurückgelegten Zeiten und der Gesamtdauer der nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten vor Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegten Zeiten bestimmt.

Diese beiden Artikel lassen keinen Zweifel daran zu, daß sie nur die in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zurückgelegten Beschäftigungszeiten (und also die Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten galten, wie es in Art. 27 Abs. 1 heißt) erfassen, nicht aber die in Drittländern zurückgelegten Versicherungszeiten. Hätte Herr Kaucic also nur in Belgien und in Österreich oder nur in Italien und in Österreich gearbeitet, so fänden die Artikel 27 und 28 keine Anwendung. Die in einem Drittland zurückgelegte Beschäftigungszeit kann nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates berücksichtigt werden, nicht aber nach Gemeinschaftsrecht. Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 16. November 1972 (Rechtssache 16/72, Ortskrankenkasse Hamburg, Slg. 1972, 1141 ff.) eindeutig festgestellt: „Die Träger der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, in Drittländern zurückgelegte Versicherungszeiten für den Erwerb eines Anspruchs auf Leistungen der sozialen Sicherheit zu berücksichtigen.“ Daß sie nicht verpflichtet sind, bedeutet natürlich nicht, daß sie diese Versicherungszeiten gegebenenfalls berücksichtigen kōnnten. Vorliegend wurde dann auch die von Herrn Kaucic in Österreich zurückgelegte Beschäftigungszeit in Italien berücksichtigt, dies aber aufgrund des zweiseitigen österreichisch-italienischen Abkommens und außerhalb des Anwendungsbereichs des Gemeinschafts.

Nun hat sich zwar die EWG-Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer; wie bereits erwähnt, mit der Anwendung des Artikels 28 der Verordnung Nr. 3 auf Arbeitnehmer befaßt, die Versicherungszeiten in mehreren Mitgliedstaaten sowie in einem dritten Staat zurückgelegt haben, der mit einem dieser Mitgliedstaaten ein Abkommen abgeschlossen hat. Damit sollte aber gerade die eindeutige Trennung zwischen den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht und den Verpflichtungen irgendeines Mitgliedstaats aufgrund eines mit einem Drittstaat geschlossenen Abkommens bestätigt werden. Der erwähnte Beschluß vom Januar 1964 verlangt nämlich von den zuständigen Trägern des Mitgliedstaats, der durch kein zweiseitiges Abkommen mit dem Drittstaat gebunden ist, bei der Zusammenrechnung und der Teilrentenberechnung nur die in den Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen, und von den Trägern des Mitgliedstaats, der mit dem Drittstaat ein zweiseitiges Abkommen geschlossen hat, entweder die Gemeinschaftsverordnung oder die Bestimmungen des Abkommens anzuwenden, wobei sich der Versicherte für den höheren der nach der einen oder der anderen Berechnungsart festgestellten Beträge entscheiden darf. Nach meinem Dafürhalten kommt jedoch dieser letzteren Regelung hier besondere Bedeutung insoweit zu, als ihr der Gedanke zugrunde zu liegen scheint, die beiden Renten seien (offenbar aufgrund eines staatlichen Kumulierungsverbots) auf eine einzige zurückzuführen, und als sie dem Versicherten die ihm günstigste Behandlung zu gewährleisten sucht.

3. 

Mithin beschränken sich die Artikel 27 und 28 der Verordnung Nr. 3 darauf, die Zusammenrechnung der in den Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten anzuordnen und das Verfahren festzulegen, nach dem die Leistungen festgestellt werden, die der unter Artikel 27 fallende Versicherte beanspruchen kann. Welche Auswirkungen können nun diese Bestimmungen auf die Anwendbarkeit von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats haben, die den Fall regeln, daß Leistungen, die dieser Staat nach Gemeinschaftsrecht schuldet, mit einer Leistung zu Lasten eines Drittstaates zusammentreffen?

Die Antwort lautet nach meinem Dafürhalten, daß zwei Aspekte der Artikel 27 und 28 die Lösung dieses Problems in entgegengesetzter Weise beeinflussen können. Einerseits läßt sich aus der Regelung, daß die Berechnung der „Zunächst‘-Leistungen nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu erfolgen hat, folgern, daß bei der Bewertung der Rechtsstellung des einzelnen anhand dieser Rechtsvorschriften sämtliche Vorschriften des Mitgliedstaats zu berücksichtigen sind, wozu auch etwaige Kumulierungsverbote zählen. Andererseits könnten die ins einzelne gehenden Bestimmungen, die das Verfahren regeln, nach dem die Leistungen festzustellen sind, wenn der Anspruch eines Arbeitnehmers dem Grunde nach feststeht, dahin ausgelegt werden, daß mit dieser Regelung das Ergebnis der darin vorgesehenen Berechnungen in jedem Falle gewährleistet werden und verboten werden soll, im Wege von Antikumulierungsvorschriften fremde Gesichtspunkte in das Verfahren der Zusammenrechnung und Proratisierung einzuführen.

Die entgegengesetzten Auffassungen der Parteien des Ausgangsverfahrens knüpfen natürlich an diese beiden aus dem Gemeinschaftsrecht herleitbaren Argumente an. Nach Ansicht des im Ausgangsverfahren vor dem belgischen Gericht beklagten INAMI ist, da es sich hier um eine Rente handele, deren Betrag sich nach belgischem Recht bestimme, das in dieser Rechtsordnung geltende Kumulierungsverbot anzuwenden. Wäre nämlich im vorliegenden Fall der Rentenanspruch ausschließlich nach belgischem Recht erworben worden, dann stünde die Anwendbarkeit dieses Verbots außer Streit; mithin dürfe die Rechtsstellung des Herrn Kaucic, auch wenn er die belgische Rente aufgrund der vom Gemeinschaftsrecht eingeführten Zusammenrechnung beziehe, nicht günstiger sein als die eines Arbeitnehmers, der seinen Anspruch auf zwei Renten ausschließlich aufgrund der in Belgien und Österreich zurückgelegten Versicherungszeiten erworben hat.

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens halten dagegen die ‚aufgrund der Anwendung der europäischen Verordnungen geschuldeten‘ Renten nicht nur dem Grunde, sondern auch dem Betrage nach für endgültig. Folglich dürften die staatlichen Versicherungsträger die in ihren Rentenvorschriften bestehenden Kumulierungsverbote nicht auf diese Leistungen anwenden.

Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens halten es für ‚widersinnig‘, bei der Berechnung der belgischen Rente in Betracht zu ziehen, daß der Betroffene auch eine österreichische Rente erhielt, denn die für die Feststellung der letztgenannten Rente maßgeblichen Versicherungszeiten würden bei der Ermittlung des belgischen Leistungsanspruchs nicht berücksichtigt Schließlich müßten sämtliche sozialversicherungsrechtlichen Folgen der in Österreich erbrachten Arbeit bei der Regelung der Rechtsstellung des Versicherten in Belgien unberücksichtigt bleiben, da es zwischen Österreich und Belgien kein Abkommen gebe und das zwischen Österreich und Italien geltende Abkommen in Belgien keine Wirkungen zeitigen könne.

4. 

Bevor ich mich zu den beiden Auslegungsmöglichkeiten äußere, die sich aus den Artikeln 27 und 28 der Verordnung Nr. 3 entwickeln lassen, muß ich auf zwei weitere gemeinschaftsrechtliche Vorschriften hinweisen, die nach Ansicht der Parteien des Ausgangsverfahrens Auswirkungen auf das hier zu entscheidende Problem haben können, nämlich auf Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3 und Artikel 9 der Verordnung Nr. 4 des Rates. Artikel 11 Absatz 2 bestimmt:

‚Sehen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Leistungen der sozialen Sicherheit oder von solchen Leistungen mit anderen Einkünften oder wegen Ausübung einer Beschäftigung Kürzungsoder Ruhensbestimmungen vor, so finden diese auf einen Berechtigten auch dann Anwendung, wenn es sich um Leistungen handelt, die nach einem System eines anderen Mitgliedstaats erworben worden sind, oder um im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats bezogene Einkünfte oder um eine dort ausgeübte Beschäftigung. Dies gilt nicht, wenn Leistungen gleicher Art zusammentreffen, die nach den Artikeln 26 und 28 erworben worden sind.‘

Bei Artikel 9 der Verordnung Nr. 4 handelt es sich um eine Durchführungsbestimmung zu dem zitierten Artikel 11 der Verordnung Nr. 3. Er regelt die Grenzen und das Verfahren für die Kürzung oder das Ruhen nach Artikel 11 Absatz 2.

Mir scheint es nicht erforderlich, daß wir uns lange mit diesen Bestimmungen befassen. Sie haben mit Urteil vom 10. Dezember 1969 in der Rechtssache 34/69 (Caisse d'assurance vieillesse, Paris/Duffy, Slg. 1969, 597 ff.) zu Recht entschieden, daß Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die für den Fall des Zusammentreffens mehrerer Leistungen der sozialen Sicherheit Kürzungs- oder Ruhensbestimmungen vorsehen, nach Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3 nur dann auf den Versicherten anwendbar sind, wenn er aufgrund dieser Verordnung einen Leistungsanspruch erworben hat Danach hatten Sie in Ihrem Urteil 184/73 (Bedrijfsvereniging/Kauffmann, Slg. 1974, 517) Gelegenheit klarzustellen, daß ‚Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3 … als Ausgleich für die Vorteile anzusehen [ist], welche die Verordnungen Nr. 3 und 4 den Arbeitnehmern … gewähren‘ (Randnummer 9), und daß ‚daher … die in Artikel 11 Absatz 2 genannten Beschränkungen den Versicherten nur hinsichtlich der Leistungen entgegengehalten werden [können], die sie der Anwendung dieser Verordnungen verdanken‘ [Randnummer 10]. Nach dieser Auslegung ist das Tatbestandsmerkmal ‚Zusammentreffen mehrerer Leistungen‘ in Artikel 11 Absatz 2 dahin zu verstehen, daß es das Zusammentreffen von Leistungen erfaßt, die sämtlich nach Gemeinschaftsrecht gewährt werden. Das Zusammentreffen, um das es vorliegend geht, bezieht sich dagegen auf den Fall, daß gleichzeitig eine belgische Rente nach Gemeinschaftsrecht und eine Rente von einem Drittstaat bezogen wird. Der Fall liegt also außerhalb des Anwendungsbereichs von Artikel 11 Absatz 2.

Dies wird noch deutlicher, wenn sich die Prüfung auf Artikel 11 Absatz 2 letzter Satz beschränkt, wonach die Vorschrift nicht gilt — d. h., Kürzungs- oder Ruhensbestimmungen auf den Versicherten keine Anwendung finden —, wenn Leistungen gleicher Art zusammentreffen, die nach den Artikeln 26 und 28 der Verordnung Nr. 3 erworben worden sind Im vorliegenden Fall sind zwar die Leistungen gleicher Art (Invaliditätsrenten), aber nur eine von ihnen ist nach den Artikeln 26 und 28 der Verordnung Nr. 3 erworben worden. Würde dem ersten Teil von Absatz 2 des Artikels 11 eine größere Bedeutung beigemessen, indem die Wendung ‚mehrere Leistungen‘ dahin ausgelegt wird, daß sie auch die in den Rechtsvorschriften von Drittländern vorgesehenen Leistungen erfaßt, so bliebe es allein bei dem Grundsatz, nach dem die staatlichen Kumulierungsverbote auf die Versicherten Anwendung finden. Eine Auslegung in dem Sinne, daß der erste Teil des Artikels 11 Absatz 2 von allgemeiner Tragweite ist, läßt sich erkennbar aus der Wendung herleiten, daß die Kürzungs- und Ruhensbestimmungen auch dann Anwendung [finden], wenn es sich um Leistungen handelt, die nach einem System eines anderen Mitgliedstaats erworben worden sind". Das Wort „auch“ an dieser Stelle berechtigt zu der Schlußfolgerung, daß die Kürzungsbestimmungen a fortiori anwendbar sind, wenn es um nach dem System dieses Mitgliedstaats oder nach dem eines Drittstaates erworbene Leistungen geht. Ich halte es für richtiger, mich an die vorerwähnte Rechtsprechung des Gerichtshofes zu halten und, wie bereits dargelegt, die Tragweite von Artikel 11 Absatz 2 insgesamt auf die Fälle zu begrenzen, in denen zwei oder mehrere Leistungen zusammentreffen, die sämtlich auf Gemeinschaftsrecht beruhen. Die von den Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erörterte „analoge“ Anwendung (wobei sie einräumen, daß die Vorschrift nur nach den europäischen Verordnungen festgestellte Leistungen betrifft) scheint mir völlig unvereinbar mit dem besonderen Zweck und dem genau abgegrenzten Geltungsbereich der Verordnung Nr. 3.

Ich habe noch kurz zu Artikel 9 der Verordnung Nr. 4 Stellung zu nehmen, den die Kommission wenigstens dann anwenden möchte, wenn eine etwaige Kürzung der belgischen Rente aufgrund des Kumulierungsverbots zum Zuge kommt. Steht aber das Ergebnis fest, daß Artikel 11 Absatz 2 nicht die Fallgestaltungen erfaßt, mit denen wir uns hier beschäftigen, so muß nach meinem Dafürhalten dasselbe ohne weiteres für Artikel 9 der Verordnung Nr. 4 gelten, bei dem es sich um eine einfache Durchführungsbestimmung zu Artikel 11 Absatz 2 handelt und der zu keiner Änderung von dessen Geltungsbereich führt.

5. 

Ein anderer Punkt, den die Parteien erörtert haben, betrifft die behauptete Auswirkung des österreichisch-italienischen Sozialversicherungsabkommens auf die Anwendung des im belgischen Recht enthaltenen Kumulierungsverbots. Insbesondere die Kommission hat vorgetragen, daß ohne dieses Abkommen die belgische Rente nicht zum Nachteil von Herrn Kaucic gekürzt worden wäre, da er nur nach diesem Abkommen seine österreichische Rente habe „exportieren“ können.

Diese Auffassung teile ich nicht Nach meinem Dafürhalten wurde das belgische Kumulierungsverbot nur deshalb angewandt, weil Herr Kaucic eine Rente zu Lasten eines Drittstaates bezog. Daß dieser zu der Rentenzahlung aufgrund eines zweiseitigen Abkommens mit einem Mitgliedstaat verpflichtet ist, hat in keiner Weise die Kürzung beeinflußt Hier ist darauf hinzuweisen, daß die einschlägige belgische Rechtsvorschrift, mit der die Kürzung der Rente des Herrn Kaucic begründet wurde, die Fälle erfaßt, in denen ein „Schaden, aufgrund dessen [die Leistungen] in Anspruch genommen werden, nach den allgemeinen oder anderen Rechtsvorschriften gedeckt ist“. Die Wendung „andere Rechtsvorschriften“ ist von dem vorlegenden belgischen Gericht dahin ausgelegt worden, daß darunter auch die Gesetze eines anderen Staates fallen. Auch wenn ein Abkommen zwischen Italien und Österreich fehlen würde, wäre meines Erachtens die Rechtsstellung des Betreffenden nach belgischem Recht dieselbe.

Mir ist, ganz allgemein gesehen, nicht verständlich, wie sich vertreten läßt, daß das österreichisch-italienische Abkommen eine Kürzung der belgischen Rente des Herrn Kaucie bewirken soll, da dieses Abkommen und mithin die Verpflichtungen, die es den Vertragsparteien auferlegt, eine Besserstellung des Arbeitnehmers bezwecken, der in beiden Staaten gearbeitet hat, während das belgische Recht die für Herrn Kaucie günstige Wirkung der österreichischen Rechtsordnung zur Voraussetzung dafür nimmt, die Rente zu kürzen, wodurch der betroffene Arbeitnehmer natürlich einen Nachteil erleidet Mit anderen Worten, ein zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat geschlossenes zweiseitiges Abkommen kann zwar keine über das Gemeinschaftsrecht hinausgehende Verpflichtungen zu Lasten der übrigen Mitgliedstaaten begründen (worauf Generalanwalt Mayras in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache 16/72 hingewiesen hat), für den vorliegenden Fall läßt sich aber erkennen, daß es sich nicht darum handelt, Belgien Verpflichtungen aufzuerlegen, die denen von Italien gegenüber Österreich eingegangenen entsprechen, denn es geht weder darum, den von Herrn Kaucie in Belgien zurückgelegten Versicherangszeiten die in Österreich zurückgelegten hinzuzuzählen, noch darum, die von dem zuständigen belgischen Träger geschuldete Teilrente nach dem Verhältnis zwischen der belgischen Versicherungszeit und der Summe aus dieser und der österreichischen Versicherungszeit zu berechnen. Eher läßt sich die Ansicht vertreten, daß Belgien, gerade weil es gegenüber Österreich auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit frei von Verpflichtungen ist, völkerrechtlich nicht daran gehindert ist, eine österreichische Rente als Kürzungsfaktor bei einer einem Arbeitnehmer geschuldeten belgischen Rente zu berücksichtigen.

6. 

Mir scheint deshalb, daß die Lösung des von der belgischen Cour de Cassation unterbreiteten Auslegungsproblems richtigerweise im Rahmen der von mir weiter oben aufgezeigten Alternative zu suchen ist. Entweder ist das innerstaatliche Recht des Mitgliedstaats, aufgrund dessen die nach den Gemeinschaftsvorschriften gewährte Rente gezahlt wird, in seiner Gesamtheit, das Kumulierungsverbot eingeschlossen, anzuwenden, oder aber das Ergebnis der nach den Gemeinschaftsvorschriften für die Bestimmung des Rentenbetrages durchgeführten Berechnungen ist endgültig, was die Möglichkeit ausschließt, es aufgrund mitgliedstaatlicher Kumulierungsverbote abzuändern. Die erste dieser beiden Auffassungen scheint mir den Vorzug zu verdienen.

Meine Ansicht fußt auf dem Urteil des Gerichtshofes vom 5. Juli 1967 in der Rechtssache 2/67 (De Moor/Caisse de pension des employés privés, Slg. 1967, 263 ff.). In den Entscheidungsgründen dieses Urteils heißt es unter anderem: „Die Verordnung Nr. 3 hat kein gemeinschaftliches System der sozialen Sicherheit eingeführt, das dem Leistungsempfänger einen einheitlichen Anspruch gewährte und die entsprechende Verbindlichkeit lediglich auf die innerstaatlichen Versicherungsträger verteilte; sie hat selbständige Systeme bestehen lassen, aus denen sich selbständige Ansprüche ergeben, die sich gegen selbständige Träger richten, gegen die der Leistungsempfänger unmittelbare Ansprüche aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften allein oder erforderlichenfalls in Verbindung mit dem in Artikel 51 des Vertrages vorgesehenen System der Zusammenrechnung der Versicherungszeiten hat.“ Derselbe Grundsatz findet sich bereits, wenn auch knapper formuliert, in dem Urteil vom gleichen Tage in der Rechtssache 1/67 (Ciechelski, Slg. 1967, 239 ff.) und ist dann in den Urteilen vom 10. November 1971 in der Rechtssache 27/71 (Keller/Caisse d'assurance vieillesse de Strasbourg, Slg. 1971, 885 ff.) und vom 12. November 1974 in der Rechtssache 35/74 (Mutualités Chrétiennes/Rzepa, Slg. 1974, 1241 ff.) bestätigt worden. In der erstgenannten dieser späteren Entscheidungen wird unter anderem festgestellt, die „geltende Regelung… [beruhe] in Ermangelung eines gemeinsamen Sozialversicherungssystems auf einer bloßen Koordinierung noch nicht vereinheidichter nationaler Rechtsvorschriften …“; in der letztgenannten findet sich die Feststellung, „das System der Verordnungen Nr. 3 und 4 [beruhe] auf einer bloßen Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit“. Im übrigen ist klar, daß die Berechnung der als Rente zu zahlenden Beträge in jedem Mitgliedstaat anders erfolgt, da es den Mitgliedstaaten bisher freisteht, sowohl diese Beträge als auch das Verfahren und die Voraussetzungen für die Gewährung der verschiedenen Rentenarten festzusetzen. So besteht auf dem Gebiet der Invaliditätsversicherung nach belgischem Recht ein Anspruch auf den Höchstbetrag der Rente schon dann, wenn der Versicherte 120 Tage als Arbeitnehmer tätig war, während in Italien der Rentenbetrag von der Dauer der endohnten Tätigkeit abhängt.

Auch meine ich, daß die Kumulierungsverbote im Zusammenhang mit der Zielsetzung und den Erfordernissen der jewei ligen staatlichen Rechtsvorschriften gesehen werden müssen. Insbesondere scheint es offenkundig, daß ein System wie das belgische, nach dem der Anspruch auf den Höchstbetrag der Invaliditätsrente leicht erworben wird, es — verglichen mit dem italienischen System — eher rechtfertigt, Bestimmungen einzuführen, nach denen der Rentenbetrag im Kumulierungsfalle gekürzt wird. Hier sollte ich darauf hinweisen, daß bei der Frage, ob ein Kumulierungsverbot nach Gemeinschaftsrecht rechtmäßig ist, die besondere Wirkung einer solchen Vorschrift, die in der Kürzung des Betrags einer nach gemeinschaftsrechtlichen Kriterien berechneten Rente besteht, nicht aber das Kürzungsverfahren in Betracht zu ziehen ist. Im vorliegenden Fall läßt das Urteil, in dem die belgische Cour de Cassation die Vorabentscheidungsfrage stellt, erkennen, daß der Vortrag des Beklagten und die Ausführungen im Berufungsurteil über das Verfahren, nach dem die im belgischen Recht bestehenden Kumulierungsverbote angewandt werden, in gewisser Hinsicht voneinander abweichen. Laut INAMI erfolgt die Kürzung bei der Bestimmung der theoretischen „Zunächst-Leistung, während nach dem Berufungsurteil der nach den gemeinschaftsrechdichen Vorschriften berechnete Betrag um den Betrag der österreichischen Rente gekürzt wird. Ob das eine oder das andere Verfahren angewandt wurde, scheint mir unerheblich, da es hier darum geht, ob die aufgrund staatlicher Kumulierungsverbote vorgenommene Kürzung rechtmäßig ist oder nicht. Aus dem vorstehend genannten Grund — weil nämlich, ich wiederhole es, der Betrag der Leistungen von dem jeweiligen mitgliedstaatlichen und dem Gemeinschaftsrecht abhängt — bin ich der Ansicht, daß das letztgenannte Rechtssystem es nicht hindert, Kumulierungsverbote auf nationaler Ebene einzuführen und anzuwenden.

Zum Schluß möchte ich zwei Erwägungen allgemeinerer Art hinzufügen. Bekanntlich gewährleistet Artikel 8 der Verordnung Nr. 3 die Inländerbehandlung (also die Gleichbehandlung mit den Staatsangehöngen der Mitgliedstaaten) denjenigen Personen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats wohnen und auf welche diese Verordnung Anwendung findet, indem er vorschreibt, daß diese Personen „die gleichen Pflichten und Rechte aus den die soziale Sicherheit betreffenden Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats wie dessen eigene Staatsangehörige [haben]“. Dieser Vorschrift liegt meines Erachtens der Gedanke zugrunde, daß die Verpflichtungen und die Vergünstigungen im Rahmen des jeweiligen Rechts der sozialen Sicherheit untrennbar verbunden sind und daß für die Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Verpflichtungen und Beschränkungen keine Vorrechte gelten dürfen (es sei denn, diese ergäben sich ausdrücklich aus anderen Vorschriften der Verordnung). Schließlich möchte ich an das allgemeine Auslegungskriterium erinnern, das der Gerichtshof für die Auslegung der Verordnung Nr. 3 aufgestellt hat, indem er feststellte, daß für ihre Auslegung von dem grundlegenden Zweck des Artikels 52 EWG-Vertrag auszugehen sei, nämlich die günstigsten Voraussetzungen zu schaffen, um die Freizügigkeit und die Beschäftigung der Arbeitnehmer der Gemeinschaft im Hoheitsgebiet eines jeden Mitgliedstaats herzustellen (Urteil vom 16. November 1972 in der Rechtssache 14/72, Heinze/Landesversicherngsanstalt Rheinprovinz, Slg. 1972, 1105 ff.). Wie auch die Kommission in ihrem Schriftsatz eingeräumt hat, beeinträchtigt die Anwendung des Kumulierungsverbots im vorliegenden Fall nicht die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, da dieses Verbot hier wegen der Beschäftigung des Arbeitnehmers in einem Drittland eingreift.

7. 

Aus den vorstehend dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, in Beantwortung der ihm gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag von der belgischen Cour de cassation unterbreiteten Frage für Recht zu erkennen: Die Bestimmungen der Verordnung Nr. 3 des Rates vom 25. September 1958, insbesondere die Artikel 27 Absatz 1 und 28 Absatz 1, verbieten es dem zuständigen Träger der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats nicht, die Vorschriften seiner Rechtsordnung über das Zusammentreffen von Leistungen der sozialen Sicherheit auf den Fall anzuwenden, in dem dieser Träger nach den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts eine Leistung schuldet und dem Versicherten eine weitere Leistung gleicher Art von einem Drittstaat gezahlt wird, mit dem der Mitgliedstaat kein zweiseitiges Abkommen über die soziale Sicherheit geschlossen hat.


( 1 ) Aus dem Italienischen übersetzt

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