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Document 61976CC0065

    Schlussanträge des Generalanwalts Mayras vom 16. Dezember 1976.
    Marcel Derycke.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Rechtbank van eerste aanleg Oudenaarde - Belgien.
    Sozialvorschriften im Strassenverkehr.
    Rechtssache 65-76.

    Sammlung der Rechtsprechung 1977 -00029

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1976:193

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS

    VOM 16. DEZEMBER 1976 ( 1 )

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    Die Correctionele Rechtbank Oudenaarde (Belgien) hat Ihnen im Rahmen eines bei ihr anhängigen Strafverfahrens eine Frage nach dem Geltungsbereich der Verordnung Nr. 543/69 des Rates über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr zur Vorabentscheidung vorgelegt.

    In den Abschnitten IV und V dieser Verordnung (Art. 7 bis 12) ist eine Begrenzung der ununterbrochenen Lenkzeit und der täglichen Lenkzeit sowie die Einhaltung von Tagesruhezeiten für das im Güter- oder Personenverkehr eingesetzte Fahrpersonal vorgeschrieben.

    Ohne daß hier eine Untersuchung dieser Verordnung im einzelnen erforderlich wäre, soll darauf hingewiesen werden, daß die Mitglieder des Fahrpersonals eines Fahrzeugs, das nicht im Linienverkehr eingesetzt ist, nach Artikel 14 ein persönliches Kontrollbuch mit sich führen müssen, das die Überwachung der Einhaltung dieser Vorschriften ermöglichen soll.

    Gemäß Artikel 18 der Verordnung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, diese Vorschriften mit Strafandrohungen zu bewehren. Um diesem Erfordernis zu genügen, ist in Belgien die Verordnung vom 23. März 1970 auf der Grundlage des Gesetzes vom 18. Februar 1969 über Maßnahmen zur Ausführung der internationalen Verträge und Akte betreffend unter anderem den Straßenverkehr erlassen worden.

    Auf der Grundlage dieser Vorschriften ist Herr Derycke, ein Händler, strafrechtlich verfolgt worden, weil er auf einer öffentlichen Straße einen Lastkraftwagen mit einem höchstzulässigen Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen geführt hat, ohne ein persönliches Kontrollbuch gemäß Artikel 14 der Gemeinschaftsverordnung mit sich zu führen.

    Nachdem er deshalb von der Politierechtbank Ronse am 12. Mai 1976 verurteilt worden war, legte er Berufung zur Correctionele Rechtbank mit der Begründung ein, die Vorschriften der Verordnung seien auf selbständige Gewerbetreibende nicht anwendbar.

    Das Gericht hat aus diesem Grunde das Verfahren ausgesetzt und Ihnen im wesentlichen die Frage vorgelegt, ob der Geltungsbereich der Verordnung Nr. 543/69 des Rates sich „auf jeden Güterverkehr [erstreckt], der mit einem Fahrzeug betrieben wird, dessen höchstzulässiges Gesamtgewicht 3,5 Tonnen oder mehr beträgt, ohne Rücksicht darauf, welche Eigenschaft dem Fahrer dieses Fahrzeugs zukommt, [ob] also die Verordnung für den Güterverkehr gilt, der entweder von einem Arbeitnehmer oder von einem selbständigen Gewerbetreibenden durchgeführt wird“ — oder ob sie nur für den Güterverkehr gilt, der von einem abhängig beschäftigten Fahrer durchgeführt wird.

    Zu dieser Auslegungsfrage hat allein die Kommission der Europäischen Gemeinschaften eine Stellungnahme abgegeben. Sie vertritt die Auffassung, daß die Vorschriften der Verordnung Nr. 543/69 von allgemeiner Bedeutung seien und ihr persönlicher Anwendungsbereich keinen Fahrer ausschließe, die Bestimmungen des Artikels 14 somit für selbständige Fahrer ebenso verbindlich seien wie für abhängig beschäftigte Fahrer.

    Ich teile diese Ansicht; für sie sprechen meines Erachtens zwingende Gründe.

    Meiner Ansicht nach stellt sich die Auslegungsfrage nicht allein auf der Grundlage der Artikel 2 und 4 Nr. 2 der Verordnung — die in der Frage des nationalen Gerichts allein erwähnt werden —, sondern im Rahmen des allgemeinen Systems und insbesondere der Ziele dieser Verordnung.

    In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Verordnung nicht nur auf Artikel 75 des Vertrages gestützt wird, wonach der Rat zum Erlaß aller für die Verwirklichung einer gemeinsamen Verkehrspolitik erforderlichen Vorschriften ermächtigt wird, sondern auch auf die Rahmenentscheidung des Rates vom 13. Mai 1965 über die Harmonisierung bestimmter Vorschriften, die den Wettbewerb im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr beeinflussen.

    Diese Entscheidung hat die Beseitigung der Unterschiede zum Ziel, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen im Verkehr wesentlich zu verfälschen. Damit werden drei Gebiete erfaßt:

    die Regelung der Besteuerung auf dem Gebiet des Verkehrs;

    der Einfluß mitgliedstaatlicher Eingriffe auf diesem Gebiet;

    schließlich die für die Beschäftigten geltenden Sozialregelungen, soweit sie die Angleichung der Arbeitsbedingungen, die Vereinheitlichung der Vorschriften über die Zusammensetzung des Fahrpersonals, die Harmonisierung der Arbeits- und Ruhezeiten sowie die Einführung eines Heftes betreffen, das im Einzelfall die Überwachung der Einhaltung der letztgenannten Vorschriften ermöglichen soll.

    Die Verordnung von 1969 bezweckt nun gerade die Durchführung dieser dritten Gruppe von allgemeinen Maßnahmen, wie sie die Rahmenentscheidung vorsieht Zwischen der Harmonisierung der arbeitsrechtlichen Stellung und der Arbeitsbedingungen des im Verkehr beschäftigten Personals und der Verwirklichung gleicher Wettbewerbsbedingungen im Rahmen der Gemeinschaft besteht ein offensichtlicher Zusammenhang. Auf dem Gebiet des Straßenverkehrs, wo die Unterschiede von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat beträchtlich waren, ist dieser Zusammenhang besonders spürbar. Ohne Zweifel soll mit der Verordnung Nr. 543/69 unter anderem das in der allgemeinen Entscheidung von 1965 angestrebte Ziel unmittelbar verfolgt werden.

    Ein zweiter Gesichtspunkt ergibt sich aus der Präambel der Verordnung: er betrifft die Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr. Er hat nicht nur in der dritten, der achten und der neunten Begründungserwägung der Verordnung Erwähnung gefunden, sondern liegt allen ihren Vorschriften zugrunde. Dies haben Sie übrigens zu Recht in den Entscheidungsgründen (Randziffer 7) Ihres Urteils vom 18. Februar 1975 — Auditeur du travail gegen Cagnon und Taguet, Rechtssache 69/74, Slg. 1975, S. 175 — hervorgehoben.

    Drittes Ziel: Der insbesondere im Wege einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch Begrenzung der Lenkzeiten und Einhaltung der Tagesruhezeiten erreichte soziale Fortschritt

    Dies sind die drei Leitgedanken, die den Vorschriften der Verordnung zugrunde liegen.

    Es erstaunt nicht, eine eindeutige und ausdrückliche Bezugnahme auf diese Leitgedanken in einem Bericht wiederzufinden, der vor kurzem — am 15. November 1976 — im Namen des Ausschusses für Verkehrsfragen dem Europäischen Parlament vorgelegt worden ist (Dokument 396/76, S. 26); dieser Bericht geht auf einen Vorschlag der Kommission zurück, der die Zusammenfassung sämtlicher in Ausführung der Rahmenentscheidung vom 13. Mai 1965 bereits erlassener oder vorgeschlagener Vorschriften betrifft.

    Genügt nicht bereits die Berücksichtigung dieser drei Ziele, nämlich

    Harmonisierung des Wettbewerbs,

    gesteigerte Sicherheit des Straßenverkehrs,

    Verbesserung der arbeitsrechtlichen Stellung der im Beförderungssektor beschäftigen Personen,

    um den Weg zu der von Ihnen erbetenen Auslegung zu weisen?

    Das erste dieser Ziele könnte zweifellos nicht erreicht werden, wenn der Rat sämtliche von Selbständigen durchgeführten Beförderungen, insbesondere von Waren, vom Geltungsbereich der Verordnung ausgenommen hätte. Das Vorhaben, Verzerrungen des Wettbewerbs zu beseitigen, würde scheitern, wenn die kleineren Transportunternehmer, die für eigene Rechnung mit eigenen Betriebsmitteln arbeiten, von allen Verpflichtungen freigestellt würden, die dem abhängig beschäftigten Fahrpersonal auferlegt sind, desgleichen auch dann, wenn Gewerbetreibende, die eigene Ware befördern, keine dieser Verpflichtungen zu erfüllen brauchten.

    Noch offensichtlicher und unmittelbarer ist in diesem Zusammenhang die Sicherheit des Straßenverkehrs betroffen; die Bedingungen, unter denen sie gewährleistet werden kann, hängen ganz offenbar in keiner Weise von der beruflich-sozialen Stellung der Lastkraftwagenfahrer ab, die am Straßenverkehr teilnehmen. Wie wollte man hier rechtfertigen, daß selbständige Transportunternehmer — insbesondere hinsichtlich der Begrenzung der Lenkzeiten und des Erfordernisses der Ruhezeiten — nicht den gleichen Vorschriften unterliegen wie Arbeitgeber und deren Arbeitnehmer?

    Wenn schließlich der eigenüiche soziale Aspekt des Problems abhängig beschäftigte Fahrer auch in höherem Maße betrifft, so gewinnt er doch für den Schutz der Selbständigen ebenfalls gewisse Bedeutung, und wäre es auch nur für sie selbst.

    Bei Berücksichtigung der Ziele der Verordnung müßten deshalb, meine Herren Richter, die Selbständigen vollkommen vom Geltungsbereich der betreffenden Vorschriften ausgeschlossen sein, damit eine andere als die von der Kommission vorgeschlagene Auslegung ermöglicht würde.

    Hiervon kann aber nicht nur keine Rede sein, eine Untersuchung des Wortlauts der Vorschriften erlaubt vielmehr, dort eine klare Bestätigung für meine These zu finden.

    Wendet man sich zunächst dem Artikel 2 zu, der den eigentlichen Geltungsbereich dieser Vorschriften bestimmt, so findet sich dort ein Merkmal von ganz allgemeiner Bedeutung: das der „Beförderungen im Straßenverkehr mittels der in einem Mitgliedstaat oder einem Drittland zugelassenen Fahrzeuge für die innerhalb der Gemeinschaft zurückgelegte Beförderungsstrecke oder Beförderungsteilstrecke“.

    Dieses Merkmal läßt keinen Raum für irgendeine Einschränkung auf Grund der Zugehörigkeit des Fahrers zu einer bestimmten beruflich-sozialen Gruppe.

    Zweitens enthält Artikel 4 eine mit Sicherheit abschließende Aufzählung der Beförderungen, auf die die Verordnung keine Anwendung findet. Diese Ausnahmen beruhen jedoch entweder auf der Bauart, der Ausstattung oder dem Gesamtgewicht der für die genannten Beförderungen eingesetzten Fahrzeuge oder aber auf der Art ihres Einsatzes, beispielsweise für Krankentransporte, oder endlich auf ihrer Verwendung für bestimmte öffendiche Einrichtungen.

    Keine dieser Ausnahmen umfaßt Fahrzeuge, die von nicht abhängig Beschäftigten geführt werden.

    Endlich schließt auch die Definition des „Fahrers“ in Artikel 1 Nr. 3 Buchstabe a — „jede Person, die das Fahrzeug, sei es auch nur kurze Zeit, selbst lenkt oder sich in dem Fahrzeug befindet, um es gegebenenfalls lenken zu können“ — schon für sich allein jede Unterscheidung zwischen abhängig beschäftigten und selbständigen Fahrern aus.

    Aus diesen Gründen, meine Herren Richter, schlage ich ohne das geringste Bedenken vor, die von der Correctionele Rechtbank Oudenaarde vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

    Die Vorschriften der Verordnung Nr. 543/69 des Rates vom 26. März 1969 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr, insbesondere die des Artikels 14 über die Einführung eines persönlichen Kontrollbuchs, gelten — ausgenommen allein die in Artikel 4 genannten Beförderungen — unabhängig davon, ob die für Beförderungen eingesetzten Fahrzeuge von abhängig Beschäftigen oder von selbständig Erwerbstätigen geführt werden.


    ( 1 ) Aus dem Französischen übetsetzt.

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