Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 61975CC0111

    Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 6. April 1976.
    Impresa Costruzioni comm. Quirino Mazzalai gegen Ferrovia del Renon.
    Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Trento - Italien.
    Rechtssache 111-75.

    Sammlung der Rechtsprechung 1976 -00657

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:1976:52

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

    VOM 6. APRIL 1976

    Herr Präsident,

    meine Herren Richter!

    Die firma Ferrovia del Renon in Bozen und die Firma Mazzalai in Trient haben im Jahre 1964 aufgrund einer Auschreibung einen Vertrag über den Bau einer Seilschwebebahn bei Bozen abgeschlossen. Die Bauarbeiten wurden im Jahre 1967 beendet; bis dahin erfolgten auch einige Abschlagszahlungen. In der Folgezeit kam es zu einem Streit, unter anderem über den Umfang der Gesamtkosten und die demgemäß noch zu zahlende Restsumme. Der Streit wurde beendet durch eine vollstreckbare Entscheidung des Appellationsgerichts Trient vom 10. Dezember 1972, in der die noch zu zahlende Restsumme beziffert wurde. Die Zahlung erfolgte dann nach dem 31. Dezember 1972.

    Dieses Datum ist wichtig, weil am 1. Januar 1973, wie in der vierten Richtlinie 71/401 vom 20. Dezember 1971 (ABl. L 283, 1971, S. 41) vorgesehen, das Mehrwertsteuersystem in Italien eingeführt wurde. Das geschah durch Ermächtigungsgesetz Nr. 825 vom 9. Oktober 1971 und Dekret des Präsidenten Nr. 633 vom 26. Oktober 1972. In letzterem ist bestimmt, daß die Mehrwertsteuer anzuwenden sei auf die Lieferung von Gütern und auf Dienstleistungen, die nach dem 31. Dezember 1972 erfolgen (Artikel 76). Gemäß Artikel 6 des Dekretes gelten Dienstleistungen im Zeitpunkt der Zahlung der Gegenleistung als erbracht.

    Diesen Vorschriften zufolge hatte die Firma Mazzalai auf die im Jahre 1973 von der Firma Ferrovia del Renon erhaltene Restsumme 12 % Mehrwertsteuer zu zahlen. Einen entsprechenden Betrag forderte sie von der Firma Ferrovia del Renon mit Rechnung vom Juni 1973. Diese Leistung verweigerte die Firma Ferrovia del Renon; sie war nur bereit, Umsatzsteuer in Höhe von 4 % nach dem früher geltenden System zu entrichten.

    In dem daraufhin von der Firma Mazzalai eingeleiteten Gerichtsverfahren berief sich die Firma Ferrovia del Renon auf die zweite Richtlinie des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer, genauer: auf deren Artikel 6 Absatz 4, nach dem „der Steuertatbestand … zu dem Zeitpunkt verwirklicht (ist), zu dem der Dienst erbracht ist …“. Sie wies darauf hin, in Artikel 5 des bereits erwähnten italienischen Ermächtigungsgesetzes vom 9. Oktober 1971 sei auf die Richtlinie Bezug genommen und zum Ausdruck gebracht worden, die Mehrwertsteuerregelung solle mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehen. Dem entspreche jedoch das Dekret des Präsidenten Nr. 633 vom 26. Oktober 1972 deswegen nicht, weil seinem Artikel 6 zufolge Dienstleistungen als im Zeitpunkt der Zahlung der Gegenleistung erbracht anzusehen seien.

    Im Hinblick auf diese Einlassungen setzte das angerufene Gericht das Verfahren aus und legte durch Beschluß vom 30. Juni 1975, der beim Gerichtshof am 24. Oktober 1975 eingegangen ist, gemäß Artikel 177 des EWG-Vertrags folgende Frage zur Vorabentscheidung vor:

    „Ist Artikel 6 Absatz 4 der zweiten Richtlinie des Rates der EWG vom 11. April 1967 (ABl. Nr. 71 vom 14. April 1967) dahin auszulegen, daß bei Dienstleistungen und insbesondere bei Werkverträgen der Steuertatbestand zu dem Zeitpunkt verwirklicht ist, zu dem der Dienst erbracht ist, mit der Maßgabe, daß die einzelnen Mitgliedstaaten befugt bleiben, als diesen Zeitpunkt den der Ausstellung einer Rechnung oder des Erhalts einer Anzahlung anzusehen, und zwar auch dann, wenn diese Vorgänge der Fertigstellung des Werkes vorausgehen oder auch (wie im vorliegenden Fall) dieser folgen?“

    I —

    Ehe ich auf die Untersuchung dieser Frage eingehen kann, muß ich einige Vorbemerkungen machen. Sie werden veranlaßt durch die Ausführungen einiger am Verfahren Beteiligter, die sich auf die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens beziehen.

    1.

    Die Beklagte des Ausgangsverfahrens macht geltend, dem Artikel 90 des Dekretes Nr. 633 zufolge blieben Verpflichtungen aus Beziehungen, die vor dem 1. Januar 1973 entstanden seien, unberührt. Nach ihrer Meinung kann das Inkrafttreten eines neuen Steuergesetzes bereits entstandene Verpflichtungen nicht ändern. Dementsprechend sei den Artikeln 6 und 76 des Dekretes Nr. 633 zu entnehmen, daß es nicht auf Dienste angewandt werden könne, die vor ihrem Inkrafttreten geleistet worden seien.

    Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hebt dagegen hervor, schon nach dem früheren Umsatzsteuerrecht sei im Falle von Dienstleistungen die Steuer bei Zahlung der Gegenleistung zu entrichten gewesen. Es könne also, wenn die Gegenleistung wie in dem jetzt interessierenden Fall nach dem 1. Januar 1973 erbracht werde, die Besteuerung nur nach dem neuen Mehrwertsteuersystem erfolgen, da ja die frühere Umsatzsteuerregelung zu dieser Zeit schon außer Kraft gewesen sei.

    Nach meiner Ansicht brauchen uns diese Einlassungen nicht weiter zu beschäftigen. Sie betreffen nämlich offensichtlich eine Frage der Entscheidungserheblichkeit, d. h. die Frage, ob die Auslegung der zweiten Ratsrichtlinie für einen Sachverhalt wie den vorliegenden überhaupt von Bedeutung ist. In der Rechtsprechung ist längst geklärt, daß solche Einwendungen zur Entscheidungserheblichkeit nur in seltenen Ausnahmefällen beachtet wer den können. Mit Sicherheit sind sie ohne Relevanz, wenn sie sich auf Überlegungen aus dem nationalen Recht stützen, denn zu derartigen Nachprüfungen ist der Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 177 des EWG-Vertrags nicht befugt. Da die Argumente der Parteien des Ausgangsverfahrens, um die es jetzt geht, ohne Zweifel aus dem Bereich des nationalen Rechts kommen, erscheint es also nicht möglich, unter Berufung auf sie die Beantwortung der vom Tribunal in Trient gestellten Frage zu verweigern.

    2.

    Im Verfahren wurde ferner geltend gemacht, die Art der Besteuerung sei dem nationalen Richter in dem vorliegenden Falle durch ein staatliches Gesetz vorgeschrieben. Der Richter sei gehalten, dieses Gesetz anzuwenden. Davon könne er auch nicht absehen, wenn er der Auffassung sei, das Gesetz stehe nicht in Einklang mit einer Gemeinschaftsrichtlinie, hätten doch derartige Gemeinschaftsakte ihrer Rechtsnatur nach nicht die Kraft, abweichende nationale Gesetzesvorschriften zu verdrängen. Es sei also für das Ausgangsverfahren unerheblich zu wissen, welchen Sinn und welche Tragweite die zweite Ratsrichtlinie zur Mehrwertsteuer habe.

    Auch dieser Argumentation, die wiederum die Entscheidungserheblichkeit der gestellten Frage betrifft, kann nach meiner Überzeugung nicht gefolgt werden. Dabei kann dahingestellt bleiben — auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen —, ob die vom vorlegenden Richter angesprochene Vorschrift der zweiten Ratsrichtlinie zum Mehrwertsteuersystem im Sinne der Rechtsprechung dieses Gerichtshofes unmittelbar anwendbar ist und die Kraft hat, nationale Normen zu verdrängen. Wesentlich ist allein — darauf wurde im Verfahren hingewiesen — , daß das italienische Ermächtigungsgesetz Nr. 825, auf das sich das Dekret Nr. 633 stützt, auf das Gemeinschaftsrecht Bezug nimmt und vorschreibt, die italienische Regelung der Mehrwertsteuer müsse mit den Gemeinschaftsvorschriften in Einklang stehen. Es läßt sich also sagen, daß es für die Auslegung des erwähnten Ermächtigungsgesetzes von Interesse ist, die Tragweite der Mehrwertsteuerrichtlinie zu kennen, und dies ganz unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob die in dem Ermächtigungsgesetz enthaltene Verweisung bewirkt, daß die in Bezug genommenen Gemeinschaftsvorschriften nationales Recht geworden sind. Darüber hinaus kann für uns offenbleiben, ob der vorlegende Richter selbst über die Vereinbarkeit des Dekretes mit dem Ermächtigungsgesetz entscheiden kann oder ob dies dem Verfassungsgericht vorbehalten ist. In jedem Falle muß man nämlich anerkennen, daß zumindest für die Entscheidung der Frage, ob dem Verfassungsgericht das Problem der Übereinstimmung des Dekretes Nr. 633 mit dem Ermächtigungsgesetz unterbreitet werden soll, eine genaue Kenntnis darüber notwendig ist, welche Prinzipien die im Ermächtigungsgesetz angezogene Ratsrichtlinie festgelegt hat. Für die Zwecke der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens reicht dies aus; keinesfalls dagegen erscheint es vertretbar, die Vorlage als verfrüht zu bezeichnen und den Standpunkt einzunehmen, erst das Verfassungsgericht habe nach Befassung durch den vorlegenden Richter Anlaß, die aufgeworfene Auslegungsfrage zu stellen.

    3.

    Ein weiterer Einwand, der ebenfalls vorab behandelt werden muß, kam von der italienischen Regierung. Sie brachte vor, ein nationaler Richter könne nur die Auslegung solcher Gemeinschaftsakte verlangen, die direkt anwendbar seien, zu deren Anwendung er also verpflichtet sei. Nach Ansicht der italienischen Regierung trifft dies für die hier interessierende Ratsrichtlinie nicht zu. Sie sei nämlich ergangen aufgrund der Artikel 99 und 100 des EWG-Vertrags und bezwecke nur eine Harmonisierung des nationalen Rechts. Im Hinblick auf Artikel 6 Absatz 4 der zweiten Ratsrichtlinie sei außerdem evident, daß er keine Verpflichtung für die Mitgliedstaaten begründe; er bedürfe jedenfalls ergänzender Normen und könne daher nicht als ausreichend klar und präzis im Sinne der einschlägigen Rechtsprechung angesehen werden. Deshalb solle sich der Gerichtshof auf die Feststellung beschränken, die Richtlinie sei nicht direkt anwendbar. Darüber hinaus bestehe für ihn kein Anlaß, auf den Inhalt der Richtlinie einzugehen.

    Meines Erachtens darf der Artikel 177 des EWG-Vertrags nicht so restriktiv interpretiert werden. Offensichtlich gilt die in ihm verankerte Auslegungskompetenz, sieht man vom Vertrag ab, ganz allgemein für alle Rechtsakte der Gemeinschaft. Tatsächlich ist auch ohne weiteres vorstellbar, daß andere als unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsakte für nationale Gerichtsverfahren von Bedeutung sein können. So verhielt es sich etwa in der Rechtssache 32/74 (EuGH 12. November 1974, Firma Friedrich Haaga GmbH, — Slg. 1974, 1201). In ihr wurde eine Gemeinschaftsrichtlinie ausgelegt, ohne daß zuvor geklärt wurde, ob sie unmittelbar anwendbar ist, und zwar einfach deswegen, weil sie für die Bestimmung der Tragweite eines nationalen Gesetzes von Relevanz war. Ähnlich ist die Situation im gegenwärtigen Fall, wo — wie schon gezeigt wurde — die Auslegung der Richtlinie von Wichtigkeit ist im Hinblick auf Artikel 5 des Ermächtigungsgesetzes Nr. 825 mit seinen eindeutigen Verweisungen auf das Gemeinschaftsrecht.

    Im übrigen würde ich auch das ebenfalls in diesem Zusammenhang vorgebrachte Argument nicht gelten lassen, es könne bei Annahme des Auslegungsersuchens zu einer Überschneidung mit Verfahren nach Artikel 169 des EWG-Vertrags und zu ihrer Präjudizierung, d. h. zu einer Beeinträchtigung von Verfahren kommen, in denen die Übereinstimmung nationaler Gesetze mit Gemeinschaftsrichtlinien vor allem zu prüfen sei. Das mag zwar zutreffen, ist aber deswegen bedeutungslos, weil derartige Folgen auch nicht ausgeschlossen werden können in den ohne jeden Zweifel zulässigen Vorabentscheidungsverfahren, die sich auf die Auslegung unmittelbar anwendbarer Gemeinschaftsnormen beziehen.

    Festzuhalten ist also — und damit schließe ich auch diesen Punkt ab —, daß, weil danach nicht gefragt ist, kein Anlaß zu Feststellungen über die unmittelbare Anwendbarkeit der Mehrwertsteuerrichtlinie besteht. Der Gerichtshof ist keineswegs auf Äußerungen zu diesem Aspekt beschränkt, sondern er kann durchaus, wie vom vorlegenden Gericht beantragt, zur inhaltlichen Ausdeutung der Mehrwertsteuerrichtlinie Stellung nehmen.

    4.

    Schließlich ist vorweg noch auf zwei Fragen einzugehen, die bereits die Auslegung der Richtlinie betreffen, wenn auch nicht das vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Problem. Ich behandele sie im gegenwärtigen Zusammenhang, weil sie sich ebenfalls auf die Entscheidungserheblichkeit beziehen.

    So wurde einmal geltend gemacht, von der Richtlinie würden nicht Dienstleistungen erfaßt, die vor dem Inkrafttreten nationaler Ausführungsvorschriften erbracht worden seien; die Richtlinie gelte vielmehr nur für Beziehungen, die nach dem Inkrafttreten nationalen, zur Verwirklichung der Richtlinie ergangenen Rechts entstanden seien.

    Zum anderen hat die italienische Regierung Zweifel daran geäußert, ob die Richtlinie überhaupt Dienstleistungen erfasse, die im Rahmen eines Werkvertrages erbracht werden.

    Zum ersten Punkt ist meines Erachtens wohl davon auszugehen, daß mit der Einführung des Mehrwertsteuersystems — für Italien also ab 1. Januar 1973 — die Prinzipien verbindlich wurden, die in der Richtlinie für Struktur und Modalitäten des Mehrwertsteuersystems festgelegt worden sind. Von dem genannten Zeitpunkt an sind also auch die Gemeinschaftsnormen maßgebend, die sich auf die Verwirklichung des Steuertatbestandes beziehen. Tatsächlich findet sich nirgends in der Richtlinie ein Anhaltspunkt dafür, daß noch nicht abgeschlossene Steuerfälle aus früheren Jahren nach dem bezeichneten Datum unter Mißachtung der in der Richtlinie angeführten Prinzipien behandelt werden könnten.

    Was die von der italienischen Regierung vorgebrachten Bedenken angeht, so ist zunächst in Erinnerung zu bringen, daß nach Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe e der zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie „die Ablieferung von Bauleistungen einschließlich solcher Leistungen, die den Einbau beweglicher Gegenstände in unbewegliche Gegenstände betreffen“, als Lieferung eines Gegenstandes gilt. Andererseits ermächtigt Anhang A Ziffer 5 der Richtlinie Mitgliedstaaten, die aus spezifisch nationalen Gründen die soeben erwähnten Leistungen nicht als Lieferungen ansehen können, dazu, sie den Dienstleistungen zuzuordnen. Davon hat Italien in Artikel 3 des Dekretes Nr. 633 Gebrauch gemacht. Im Hinblick auf diesen Umstand, und weil Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie ferner vorschreibt, daß die in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen über die Besteuerung der Dienstleistungen nur für die in Anhang B aufgeführten Dienstleistungen verbindlich sind, sowie weil in Anhang B Werkverträge von der Art der im Ausgangsverfahren streitigen nicht ausdrücklich aufgeführt sind, kam die italienische Regierung zu der Ansicht, es sei zweifelhaft, ob sie von der Richtlinie erfaßt würden.

    In Wahrheit sind diese Bedenken ebenfalls unbegründet. Dafür spricht schon der Wortlaut von Anhang A Ziffer 5, denn ihm zufolge müssen Mitgliedstaaten, die die in Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe e behandelten Leistungen nicht als Lieferungen ansehen können, sie den Dienstleistungen zuordnen und auf sie den Satz anwenden, der auf sie anwendbar wäre, wenn sie als Lieferungen betrachtet würden. Dies bedeutet, daß derartige Leistungen in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen; Mitgliedstaaten, die von der Möglichkeit der Ziffer 5 des Anhangs A Gebrauch machen, sind keineswegs frei, von der Besteuerung abzusehen; lediglich die Qualifizierung der betreffenden Leistungen ist ihnen freigestellt.

    Weiterhin ist von Interesse, wie der Anhang B in seinen Ziffern 2, 3 und 8 ausgestaltet ist. Tatsächlich kann im Hinblick auf die dort aufgeführten Dienstleistungen gesagt werden, daß sie voraussetzen, auch Werkverträge seien der Steuer unterworfen, und Hauptleistungen seien ebenso erfaßt wie die unter Ziffer 8 beschriebenen Nebenleistungen.

    Endlich ist noch wichtig, daß im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie — und das bezieht sich offensichtlich auf die hier interessierende Frage — nur davon die Rede ist, es könne den Mitgliedstaaten überlassen werden, die Regelung für die große Zahl der Dienstleistungen selbst festzulegen, deren Kosten die Preise der Gegenstände nicht beeinflussen. Dies trifft für Leistungen, wie sie im Ausgangsverfahren zur Debatte stehen, sicherlich nicht zu.

    Auch unter Berufung auf den sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie kann also die erbetene Auslegung nicht verweigert werden.

    II —

    Nach diesen notwendigen Vorbemerkungen zu Fragen der Entscheidungserheblichkeit wende ich mich jetzt dem Kern des Vorabentscheidungsersuchens zu. Ihm zufolge ist zu untersuchen, ob Artikel 6 Absatz 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie so zu interpretieren ist, daß bei Werkverträgen der Steuertatbestand auch dann im Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung oder im Zeitpunkt des Empfangs der Gegenleistung als verwirklicht gilt, wenn diese Vorgänge der Erbringung des Dienstes nachfolgen.

    Lassen Sie mich zunächst den Wortlaut der fraglichen Bestimmung in Erinnerung bringen. Sie besagt bekanntlich;

    „Der Steuertatbestand ist zu dem Zeitpunkt verwirklicht, zu dem der Dienst erbracht ist. Bei Dienstleistungen, unbestimmter Dauer oder Dienstleistungen, die einen bestimmten Zeitraum überschreiten oder zu Anzahlungen Anlaß geben, kann jedoch vorgesehen werden, daß der Steuertatbestand schon zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung oder aber spätestens zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Anzahlung verwirklicht ist, und zwar in Höhe des in Rechnung gestellten oder vereinnahmten Betrages.“

    Klargeworden ist bereits nach den bisherigen Ausführungen, daß das vorlegende Gericht zu Recht den Artikel 6 Absatz 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie herangezogen hat. Zwar gelten Verträge von der Art der hier interessierenden bei Zugrundelegung der Definitionen des italienischen Zivilrechts gemäß Artikel 5 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Lieferung von Gegenständen. Artikel 6 greift aber ein, weil Italien von der in Anhang A Ziffer 5 der Richtlinie eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat.

    Zu der Auslegung der Wendung „Dienst erbracht“, um die es jetzt vor allem geht, hat die italiensiche Regierung die Ansicht geäußert, angesichts der Vielfalt denkbarer Rechtsbeziehungen, die bei Dienstleistungen in Betracht kommen, sei die generelle Bestimmung eines Endzeitpunktes in einer abstrakten Bestimmung nicht möglich. Oft sei es schwierig festzustellen, wann Dienste erbracht worden seien, da gelegentlich eine Abnahme notwendig sei oder ein Versuchszeitraum verstrichen sein müsse. Vielfach sei zudem die Gegenleistung nicht vorher bestimmt; namentlich bei öffentlichen Arbeiten komme es immer wieder zu einer Revision der ursprünglich in Betracht gezogenen Gegenleistung. Aus dieser Sicht müsse es unangemessen erscheinen, die Entstehung der Steuerschuld zu trennen von der Besteuerungsgrundlage, der Gegenleistung, bei deren Erbringung auch erst die Fälligkeit eintrete. Aus allen diesen Gründen aber müsse es als von der Richtlinie gedeckt angesehen werden, wenn einzelne Mitgliedstaaten als Zeitpunkt der Erbringung einer Dienstleistung die Zahlung der Gegenleistung annehmen.

    Dem tritt die Kommission entgegen. Sie beruft sich für ihren Standpunkt auf Wortlaut, System und Zweck der Mehrwertsteuerregelung. Außerdem verweist sie auf Vorgänge, die der Annahme der Richtlinie vorausgingen und gerade für das vorliegende Problem aufschlußreich seien.

    In dieser Auseinandersetzung darf zunächst einmal nicht übersehen werden, daß es in Artikel 6 Absatz 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie wie auch in dem entsprechenden Artikel 5 Absatz 5 nur um die Verwirklichung des Steuertatbestandes geht, d. h. — nach der Definition von Anhang A Ziffer 8 — um die Entstehung der Steuerschuld. Zur Bestimmung des Steuerbetrages und für den Eintritt der Fälligkeit bedarf es natürlich des Hinzutritts weiterer Elemente, die jetzt nicht zur Debatte stehen.

    Bei der Auslegung einer Rechtsvorschrift ist in erster Linie von ihrem Wortlaut auszugehen; man hat sich also daran zu halten, daß in Artikel 6 Absatz 4 bestimmt ist, der Steuertatbestand sei zu dem Zeitpunkt verwirklicht, zu dem ein Dienst erbracht ist. Damit wird im Falle von Vertragsverhältnissen, die hier, im Vordergrund stehen, eindeutig auf die Leistung eines Vertragspartners abgestellt. Sie ist zudem ihrer Rechtsnatur nach klar von der Leistung des anderen Partners, der Gegenleistung, abzugrenzen. Hält man sich dies vor Augen, so kann schwerlich angenommen werden, ein so ausgestalteter juristischer Text setze die Erbringung der Dienstleistung mit der Erbringung der Gegenleistung gleich oder er lasse eine solche Gleichsetzung ohne die geringste Andeutung eines Ermessensraumes zu.

    Dagegen spricht ferner die Tatsache, daß in der Richtlinie selbst in anderem Zusammenhang der Begriff „Gegenleistung“ verwendet wird. Das ist einmal der Fall in Artikel 8 bei der Definition der Besteuerungsgrundlage. Das ist zum anderen in Artikel 6 Absatz 4 Satz 2 geschehen, der Abweichungen vom Prinzip des Satzes 1 vorsieht. Wichtig ist aber, daß diese Abweichungen nach dem klaren Wortlaut nur für Fälle gelten, in denen ein Teil der Gegenleistung vor Abschluß der Dienstleistung erbracht wird, wo es also vor dem prinzipiell für die Entstehung der Steuerschuld maßgebenden Zeitpunkt zu einer Geldbewegung kommt und deshalb auch die Entstehung der Steuerschuld vorgezogen wird.

    Bemerkenswert ist sodann auch, daß im Rahmen der Ausarbeitung der Richtlinie der Gedanke, die Entstehung der Steuerschuld von der Erbringung der Gegenleistung abhängig zu machen, durchaus erwogen wurde. So stellte der Wirtschaftsund Sozialausschuß in seiner Stellungnahme zum Vorschlag für eine zweite Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Umsatzsteuern fest, es sei in gewissen Fällen schwierig, den Zeitpunkt zu bestimmen, in dem der Dienst erbracht werde, und er knüpfte daran die Schlußfolgerung, daß es einfacher wäre, einen einzigen Steuertatbestand vorzusehen, „wobei an den Zeitpunkt des Inkasso gedacht werden könnte“ (Amtsblatt 1966, S. 572). Wenn dieser Vorschlag von Kommission und Rat nicht übernommen worden ist, so kann es aber auch nicht angehen, im Wege der Interpretation eines bewußt anders gestalteten Textes zu einem gleichartigen Ergebnis zu kommen.

    Schließlich muß auch noch an das Ziel der Mehrwertsteuerrichtlinie erinnert werden. Ihr Sinn ist es, eine möglichst weitgehende Harmonisierung des Mehrwertsteuerrechts zu erreichen. Anzunehmen ist daher, daß die Richtlinie möglichst genaue Begriffe verwendet und auf weitgehende Vollständigkeit angelegt ist. Damit ist schwerlich die Ansicht zu vereinbaren, der den Mitgliedstaaten überlassene Spielraum reiche so weit, daß bei Dienstleistungen für die Verwirklichung des Steuertatbestandes über die Erbringung der Leistung hinaus auf die Gegenleistung abgestellt werden könnte, die unter Umständen sehr viel später erfolgt. Tatsächlich würde auf diese Weise die Einheitlichkeit — man denke etwa an Fälle der Änderung des Steuersatzes — in einem unvertretbaren Maße aufgegeben, hinge es doch letztlich vom Willen der Steuerunterworfenen ab, wann in solchen Fällen der Steuertatbestand verwirklicht würde.

    Auch wenn nicht zu verkennen ist, daß die Feststellung des Zeitpunktes der Erbringung einer Dienstleistung unter Umständen gewisse Schwierigkeiten bereiten kann — um außergewöhnliche, in Streitfällen zu bewältigende Probleme handelt es sich gewiß nicht —, und obgleich uns gezeigt wurde, daß auch andere Mitgliedstaaten die Richtlinie nicht vollkommen korrekt durchgeführt haben, bleibt für mich angesichts der dargelegten Argumente nur die Erkenntnis, daß allein die von der Kommission empfohlene Auslegung des Artikels 6 Absatz 4 der zweiten Mehrwertsteuerrichtlinie zutrifft.

    III —

    Auf die Frage des Tribunale in Trient sollte daher wie folgt geantwortet werden:

    Artikel 6 Absatz 4 der zweiten Ratsrichtlinie vom 11. April 1967 ist dahin auszulegen, daß bei Dienstleistungen der Steuertatbestand grundsätzlich mit der tatsächlichen Erbringung der Dienste als verwirklicht gilt. Die Mitgliedstaaten haben aber die Möglichkeit, bei Dienstleistungen unbestimmter Dauer oder Dienstleistungen, die einen bestimmten Zeitraum überschreiten oder zu Anzahlungen Anlaß geben, vorzusehen, daß der Steuertatbestand schon zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung oder zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Anzahlung verwirklicht ist, und zwar in Höhe des in Rechnung gestellten oder vereinnahmten Betrages.

    Top