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Document 61974CC0069

Schlussanträge des Generalanwalts Reischl vom 30. Januar 1975.
Auditeur du travail gegen Jean-Pierre Cagnon und Jean-Paul Taquet.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de police de Mons - Belgien.
Rechtssache 69-74.

Sammlung der Rechtsprechung 1975 -00171

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1975:12

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS GERHARD REISCHL

VOM 30. JANUAR 1975

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Das Polizeigericht in Mons hat im Rahmen eines bei ihm anhängigen Verfahrens den Gerichtshof um die Auslegung einer Bestimmung der Ratsverordnung Nr. 543/69 über die Harmonisierung bestimmter Sozialvorschriften im Straßenverkehr (ABl. I. 77, S. 49) gebeten.

Die genannte Verordnung, die unter anderem zur Verwirklichung einer gemeinsamen Verkehrspolitik aufgrund von Artikel 75 des EWG-Vertrags ergangen ist, schreibt — soweit es hier interessiert — in Artikel 11 Absatz 2 vor, jedes Mitglied des im Personenverkehr eingesetzten Fahrpersonals müsse innerhalb der letzten 24 Stunden vor jedem Zeitpunkt, zu dem es eine der in Artikel 14 Absatz 2 Buchstaben c und d genannten Tätigkeiten ausübt (also ein Fahrzeug lenkt oder am Arbeitsplatz anwesend ist), eine Tagesruhezeit von mindestens 10 zusammenhängenden Stunden gehabt haben, die innerhalb einer Woche nicht vermindert werden darf. Die Verordnung bestimmt in Artikel 14 Absatz 2 des weiteren, daß die Mitglieder des Fahrpersonals unter anderem Angaben über Arbeitsunterbrechungen von mindestens 15 Minuten Dauer in die Tageskontrollblätter des persönlichen Kontrollbuchs einzutragen haben. Nach Artikel 18 der Verordnung ist es Sache der Mitgliedstaaten, die zur Durchführung der Verordnung notwendigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die sich unter anderem auf die Ahndung im Falle von Zuwiderhandlungen zu erstrecken haben.

In Belgien ist demgemäß am 23. März 1970 ein Arrete Royal ergangen. Er verweist in Artikel 3 auf Artikel 2 des Gesetzes vom 18. Februar 1969 („Loi relative aux mesures d'exécution des traités et actes internationaux en matière de transport par route, par chemin de fer ou par voie navigable“) und erklärt damit Verstöße gegen die genannte Ratsverordnung in bestimmter Weise für strafbar.

Aufgrund der angeführten Vorschriften ist gegen Jean-Pierre Cagnon, einen Autobuschauffeur, und den Transportunternehmer Jean-Paul Taquet, seinen Arbeitgeber, ein Strafverfahren anhängig gemacht worden. Abgesehen von der Unterlassung der Eintragung der Arbeitsunterbrechungen von mindestens 15 Minuten Dauer nach Artikel 14 Absatz 2 der Ratsverordnung, einer Zuwiderhandlung, die hier nicht weiter interessiert, wird dem ersteren vorgeworfen, er habe bei einer Beförderung von Reisenden in Deutschland nicht eine Tagesruhezeit von mindestens 10 zusammenhängenden Stunden innerhalb der letzten 24 Stunden vor Antritt seiner Tätigkeit eingehalten. Seinem Arbeitgeber, der erklärt hatte, der Fahrer sei angewiesen worden, die fragliche Nacht am Zielort in Deutschland zu verbringen, konnte aufgrund seiner Einlassungen ein strafrechtlicher Vorwurf nicht gemacht werden. Er wäre aber, sollte sein Fahrer tatsächlich eine Zuwiderhandlung bei der Durchführung der ihm von seinem Arbeitgeber übertragenen Arbeiten begangen haben, nach Artikel 2 § 4 des bereits erwähnten Gesetzes vom 18. Februar 1969 gesamtschuldnerisch haftbar für die seinem Fahrer auferlegten Geldbußen und die Kosten des Verfahrens. So erklärt es sich, daß er aus dem Ausgangsverfahren nicht entlassen wurde.

Der angeklagte Fahrer verteidigte sich im Verfahren vor allem mit der These, die erwähnte Ratsverordnung begründe in Artikel 11 Absatz 2 Verpflichtungen nur für den Arbeitgeber, nicht dagegen für das Fahrpersonal. Es sei nach dieser Vorschrift ausreichend, daß der Arbeitgeber dafür sorge, daß die Möglichkeit bestehc, die Tagesruhezeit in Anspruch zu nehmen, nicht erforderlich sei es aber, daß sich das Fahrpersonal tatsächlich ausruhe. Träfe diese Deutung zu, so wäre es nach den im Ausgangsverfahren gemachten Einlassungen offenbar nicht möglich, Sanktionen gegen den angeschuldigten Fahrer zu verhängen.

In Anbetracht dieser Sachlage, die eine Auslegung der Ratsverordnung Nr. 543/69 notwendig macht, hielt es das Polizeigericht in Mons für angezeigt, durch Beschluß vom 6. September 1974 das Verfahren auszusetzen und nach Artikel 177 des EWG-Vertrags die Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, wie die Worte „Tagesruhezeiten gehabt haben“ in Artikel 11 Absatz 2 der Ratsverordnung Nr. 543/69 zu verstehen sind.

Zu dieser Frage hat sich nur die Kommission der Europäischen Gemeinschaften geäußert. Sie hat eine Auslegung empfohlen, nach der sich aus Artikel 11 der Ratsverordnung eine Verpflichtung auch für das Fahrpersonal ergibt, und zwar im Sinne einer effektiven Beachtung der Tagesruhezeiten, d. h. einer Unterbrechung der in Artikel 14 Absatz 2 Buchstaben c und d genannten Tätigkeiten.

Diese Ansicht und ihre Begründung finde ich überzeugend. Ich schlage deshalb dem Gerichtshof vor, sie zu übernehmen.

Zunächst ist wichtig hervorzuheben, daß die auszulegende Bestimmung Teil einer Verordnung, also eines Aktes ist, der nach Artikel 189 des EWG-Vertrags allgemeine Geltung hat, in allen seinen Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt.

Sodann hat die Kommission auch recht, wenn sie ausführt, schon der Wortlaut des Artikels 11 Absatz 2 mache klar, daß nicht nur eine Verpflichtung für Transportunternehmer im Sinne der Eröffnung der Möglichkeit, die Tagesruhezeiten einzuhalten, begründet werden solle, sondern auch eine Verpflichtung für das Fahrpersonal, die Vorschriften über die Tagesruhezeit effektiv zu beachten. Tatsächlich heißt es in Artikel 11 Absatz 2 — soweit er hier interessiert —: „Jedes Mitglied des im Personenverkehr eingesetzten Fahrpersonals muß innerhalb der letzten 24 Stunden vor jedem Zeitpunkt, zu dem es eine der in Artikel 14 Absatz 2 Buchstaben c und d genannten Tätigkeiten ausübt, folgende Tagesruhezeit gehabt haben: Eine Tagesruhezeit von mindestens 10 zusammenhängenden Stunden, die innerhalb einer Woche nicht vermindert werden darf …“ Mit Sicherheit wäre diese Vorschrift anders formuliert worden, wenn es die Absicht des Verordnungsgebers gewesen wäre, die Transportunternehmer lediglich dazu anzuhalten, ihrem Fahrpersonal die Einhaltung von Tagesruhezeiten zu ermöglichen. Dabei sind Tagesruhezeiten im Sinne des Artikels 11 der Ratsverordnung — wie die Kommission gleichfalls mit Recht unterstrichen hat — zu sehen im Gegensatz zu den in Artikel 11 durch Hinweis auf Artikel 14 genannten Lenkzeiten und Zeiten der Anwesenheit am Arbeitsplatz. Das bedeutet, daß das Fahrpersonal zweifellos eine gewisse Freiheit in der Gestaltung der Ruhezeiten hat, ausgeschlossen ist aber in jedem Fall eine Fahrtätigkeit und die Anwesenheit am Arbeitsplatz.

Füi die Richtigkeit dieser Interpretation läßt sich nicht nur auf den Wortlaut des Artikels 11 Absatz 2 hinweisen. Dafür spricht unter anderem auch ein Blick auf die Artikel 7 und 8 der Ratsverordnung, in denen die Begrenzung der Lenkzeiten in Beziehung gesetzt ist zu den Tagesruhezeiten. Tatsächlich legt dies die Annahme nahe, es gelte für das Fahrpersonal unmittelbar nicht nur die eindeutige Verpflichtung zur Beachtung der Lenkzeiten, sondern auch die zur Einhaltung der Ruhezeiten.

Schließlich darf nicht vergessen werden, welche Ziele die Ratsverordnung nach ihrer ausdrücklichen Begründung verfolgt. Durch Hinweis auf die Ratsentscheidung vom 13. Mai 1965 (ABl. Nr. 88, S. 1500) ist maßgebend das Ziel der Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen im Eisenbahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr. Es ist die Rede von der „Förderung des sozialen Fortschritts“ und — nicht zuletzt — von einer größeren Sicherheit im Straßenverkehr. Mir erscheint es ganz offensichtlich, daß diese Ziele nicht zu erreichen wären, wenn sich der Artikel 11, wie der Beschuldigte des Ausgangsverfahrens annimmt, darauf beschränken würde, die Möglichkeit zur Beachtung der Ruhezeiten vorzusehen. So wäre für eine Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen nichts gewonnen, eine Vergrößerung der Sicherheit im Straßenverkehr könnte gewiß nicht erreicht werden, und namentlich wäre auch keine Förderung des sozialen Fortschritts, sondern vielmehr ein Rückschritt im Vergleich zu der früher in den Mitgliedstaaten geltenden Rechtslage zu verzeichnen.

Aus allen diesen Gründen sollte auf die Frage des Polizeigerichts in Mons wie folgt geantwortet werden:

Artikel 11 Absatz 2 der Verordnung Nr. 543/69 ist so auszulegen, daß er auch eine Verpflichtung für das Fahrpersonal dahingehend begründet, die Vorschriften über die Ruhezeiten effektiv in dem Sinne zu beachten, daß während der vorgesehenen Zeiten jede der in Artikel 14 Absatz 2 Buchstaben c und d genannten Tätigkeiten unterlassen wird.

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