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Document 61974CC0041

Schlussanträge des Generalanwalts Mayras vom 13. November 1974.
Yvonne van Duyn gegen Home Office.
Ersuchen um Vorabentscheidung: High Court of Justice, Chancery Division - Vereinigtes Königreich.
Öffentliche Ordnung.
Rechtssache 41-74.

Sammlung der Rechtsprechung 1974 -01337

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1974:123

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS HENRI MAYRAS

VOM 13. NOVEMBER 1974 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Einleitung

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist aus zweierlei Gründen von besonderem Interesse.

Dies ist das erste Mal, daß Sie ein Gericht des Vereinigten Königreichs, der High Court of Justice London, im Verfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag um Auslegung von Normen des Gemeinschaftsrechts ersucht.

Zum erstenmal müssen Sie auch das wichtige Problem entscheiden, das der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung und Sicherheit hinsichtlich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in Artikel 48 EWG-Vertrag stellt.

Sie werden also in diesem Zusammenhang untersuchen müssen, inwieweit sich die Befugnis der Mitgliedstaaten, den Erfordernissen der innerstaatlichen öffentlichen Ordnung Rechnung zu tragen, mit einer einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere mit dem Verbot der unterschiedlichen Behandlung von Wanderarbeitnehmern und Staatsangehörigen vereinbaren läßt. Lassen Sie mich hinzufügen, daß Sie auch über die etwaige unmittelbare Geltung einer Richtlinie des Rates, zumindest einer ihrer Vorschriften, entscheiden müssen. Ihre Rechtsprechung enthält aber bereits einige Gesichtspunkte zur Beantwortung dieser Frage.

I — Sachverhalt

Dem Ausgangsverfahren liegt folgender einfacher Sachverhalt zugrunde:

Die niederländische Staatsangehörige Fräulein Yvonne van Duyn kam am 9. Mai 1973 auf dem Flughafen Gatwick in England an. Nach ihren Angaben wollte sie im Vereinigten Königreich eine Stelle als Sekretärin antreten, die ihr die Church of Scientology of California mit Sitz in Saint Hill Manor, East Grinstead, Sussex, einige Tage vorher angeboten habe.

Nach ihrer Befragung durch die Einwanderungsbehörden wurde sie noch am selben Tage in die Niederlande abgeschoben.

Der Grund für die Versagung der Einreise in das Vereinigte Königreich ist ausdrücklich in dem ihr von dem diensttuenden Beamten ausgehändigten Schreiben angegeben. Ich zitiere:

„Sie haben um die Erlaubnis zur Einreise in das Vereinigte Königreich nachgesucht, um in die Dienste der Church of Scientology zu treten. Der Secretary of State (Innenminister) hält es jedoch für unerwünscht, Personen die Einreise in das Vereinigte Königreich zu gestatten, die für diese Organisation tätig sind oder in ihrem Dienst stehen.“

Diese Entscheidung entsprach der im Jahre 1968 festgelegten Haltung der Regierung des Vereinigten Königreichs, welche die Tätigkeit der Church of Scientology für sozialschädlich (socially harmful) hielt; diese Auffassung vertritt sie auch noch heute.

Ich werde jedoch auf die Gründe, aus denen Fräulein van Duyn zurückgewiesen wurde, bei der Erörterung der Frage erneut eingehen müssen, ob die Verfügung der Einwanderungsbehörde gegenüber der Klägerin des Ausgangsverfahrens auf ihrem „persönlichen Verhalten“ im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie Nr. 64/221 des Rates beruhte, den es hier auszulegen gilt.

Fräulein van Duyn hat ihre gegen das Home Office (Innenministerium) bei dem High Court of Justice, Chancery Division, eingereichte Klage auf Artikel 48 EWG-Vertrag und die genannte Bestimmung der Richtlinie Nr. 64/221 gestützt, die zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, erlassen wurde.

Der Vice-Chancellor des High Court of Justice hat zunächst die Anträge der Klägerin des Ausgangsverfahrens geprüft sowie den Vertreter des Home Office, Beklagten des Ausgangsverfahrens, gehört und danach beschlossen, das Verfahren auszusetzen, um Ihnen drei Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

Gegenstand der ersten Frage ist die unmittelbare Geltung von Artikel 48 EWG-Vertrag.

Die zweite Frage zielt dahin, ob auch die Richtlinie Nr. 64/221 des Rates unmittelbare Geltung in dem Sinne besitzt, daß sie Einzelpersonen Rechte verleiht, die sie in einem Mitgliedstaat gerichtlich geltend machen können.

Mit der dritten Frage wird um die Auslegung von Artikel 48 EWG-Vertrag und von Artikel 3 der Richtlinie ersucht. Der High Court will wissen, ob die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung einen Gemeinschaftsangehörigen bei der Einreise zurückweist und dies mit dem persönlichen Verhalten des Betreffenden begründet, als persönliches Verhalten berücksichtigen darf:

a)

daß der Betroffene einer Organisation angehört oder angehört hat, deren Tätigkeit die Regierung des Mitgliedstaats als dem öffendichen Interesse zuwiderlaufend betrachtet, ohne daß sie jedoch in diesem Staat ungesetzlich wäre:

b)

daß der Betroffene beabsichtigt, in dem Mitgliedstaat in die Dienste einer solchen Organisation zu treten, wenn gleichzeitig die Angehörigen des Mitgliedstaats, die vergleichbare Beschäftigungen aufnehmen möchten, keinen Beschränkungen unterliegen.

Diese drei Fragen sind klar und in logischer Reihenfolge gestellt.

II — Erörterung

1. Unmittelbare Geltung von Artikel 48 EWG-Vertrag

Mit der ersten Frage, meine Herren Richter, werde ich mich nicht lange aufhalten.

Ihre Rechtsprechung hat schon seit einigen Jahren genaue Kriterien herausgearbeitet, welche die Feststellung ermöglichen, ob einer Bestimmung des Gemeinschaftsrechts und insbesondere einer im Vertrag von Rom enthaltenen Vorschrift unmittelbare Wirkung in dem Sinne zukommt, daß sie den einzelnen Rechte verleiht, die sie vor den innerstaatlichen Gerichten geltend machen können, nämlich:

die durch die Vorschrift der Mitgliedstaaten auferlegte Verpflichtung muß klar und eindeutig sein;

sie muß unbedingt, das heißt ohne Vorbehalt, sein; läßt sie jedoch Ausnahmen zu, so müssen diese genau festgelegt und begrenzt sein;

die Verwirklichung der Gemeinschaftsvorschrift darf schließlich nicht von durch die Gemeinschaftsorgane oder die Mitgliedstaaten zu erlassende Ausführungsverordnungen abhängen; den Mitgliedstaaten darf sonach bei der Anwendung der fraglichen Norm kein wirklicher Ermessensspielraum zustehen.

Diese von Generalanwalt Gand 1966 in seinen Schlußanträgen zur Rechtssache Lütticke (57/65 — Slg. 1966, 275) vorgeschlagenen Kriterien, die Sie in mehreren Entscheidungen angewandt haben, sind in weiteren Entscheidungen bestätigt und verfeinert worden, insbesondere durch die Urteile vom 12. Dezember 1972 (verbundene Rechtssache 21 bis 24/72 — Slg. 1972, 1227) und vom 24. Oktober 1973 (Schlüter9/73 — Slg. 1973, 1158 ) sowie jüngst durch das Urteil vom 21. Juni 1974 (Reyners, 2/74) zu dem das Niederlassungsrecht betreffenden Artikel 52 EWG-Vertrag.

Daß die Bestimmungen des Artikels 48, die zu den wichtigsten des Vertrages zählen, da durch sie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft verwirklicht werden soll, die vorstehend genannten Kriterien erfüllen, kann jedoch seit dem ebenfalls neueren Urteil vom 4. April 1974 (Kommission/Französische Republik, 167/73 — Slg. 1974, 371) keinem Zweifel mehr unterliegen.

In dieser Entscheidung haben Sie ausdrücklich die Auffassung vertreten, daß die Bestimmungen dieses Artikels und die der Verordnung Nr. 1612/68 des Rates über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer „in der Rechtsordnung jedes einzelnen Mitgliedstaats unmittelbar gelten und deshalb … Rechte zugunsten der Betroffenen erzeugen, welche die nationalen Behörden zu achten und zu wahren haben“.

Hätte das hohe Gericht des Vereinigten Königreichs bei seiner Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Sache von diesem Urteil Kenntnis gehabt, so hätte es wahrscheinlich auf seine erste Frage verzichtet. Daß es sie für erforderlich hielt, ist verständlich, da sein Vorabentscheidungsersuchen am 1. März 1974 erging, also bevor Sie die Frage der unmittelbaren Geltung des Artikels 48 entschieden haben.

Wie dem auch sei, dieses Problem ist inzwischen geklärt, so daß Sie in diesem Punkt nur Ihr Urteil vom 4. April 1974 zu bestätigen haben.

2. Unmittelbare Geltung der Richtlinie Nr. 64/221 des Rates

Die Beantwortung der zweiten Frage zur unmittelbaren Geltung der Richtlinie des Rates vom 25. Februar 1964 liegt nicht so ohne weiteres auf der Hand.

Artikel 189 EWG-Vertrag unterscheidet nämlich zwischen Verordnungen, die nicht nur verbindlich sind, sondern auch in jedem Mitgliedstaat unmittelbar gelten, und Richtlinien, die zwar auch für jeden Mitgliedstaat verbindlich sind, aber grundsätzlich insoweit keine unmittelbare Geltung besitzen, als sie den Mitgliedstaaten die Wahl der Mittel für ihre Durchführung überlassen.

Unabhängig von der formaljuristischen Einteilung haben Sie jedoch in den Urteilen vom 6. und 21. Oktober 1970 (Grad, 9/70; Lesage, 20/70; Haselhorst, 23/70 — Slg. 1970, 838, 874 und 893) entschieden, daß neben Verordnungen auch andere in Artikel 189 erwähnte Gemeinschaftsmaßnahmen unmittelbare Wirkung entfalten können, insbesondere in den Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden die Mitgliedstaaten zu einem bestimmten Verhalten verpflichten; die nützliche Wirkung („effet utile“) einer solchen Maßnahme werde abgeschwächt, so haben Sie festgestellt, wenn die Staatsangehörigen sich vor Gericht nicht auf die Rechte berufen könnten, die ihnen durch derartige Maßnahmen eingeräumt werden, selbst wenn sie nicht in Form einer Verordnung erlassen werden.

Noch eindeutiger ist die im Urteil vom 17. Dezember 1970 (SACE, 33/70 — Slg. 1970, 1223) getroffene Feststellung: „Eine Richtlinie, die einen Endtermin [setzt], bis zu dem ein Mitgliedstaat eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung auszuführen hat, betrifft nicht nur die Rechtsbeziehungen zwischen der Kommission und diesem Staat, sondern erzeugt, wenn die die genannte Verpflichtung vorsehende Bestimmung … ihrer Natur nach unmittelbar gilt, auch Rechtswirkungen, auf die sich … die einzelnen Bürger berufen können.“

Bei einer Richtlinie ist daher in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob die Bestimmung, um die es geht, nach Wortlaut, Rechtsnatur und Systematik geeignet ist, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet ist, und den einzelnen zu begründen.

Was gilt nun für die Richtlinie Nr. 64/221 des Rates?

Sie bezweckt, die Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, in den Mitgliedstaaten zu koordinieren.

Sie erging aufgrund von Artikel 48 — und nimmt im übrigen ausdrücklich auf die damals geltende Verordnung über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer Bezug — wie auch von Artikel 56 über das Niederlassungsrecht.

Sie soll die Befugnisse beschränken, die den Mitgliedstaaten unzweifelhaft weiterhin zustehen, um im Rahmen ihrer Zuständigkeit die öffentliche Ordnung und insbesondere die öffentliche Sicherheit auf ihrem Hoheitsgebiet zu wahren.

Artikel 3 Absatz 1 dieser Richtlinie bestimmt bekanntlich: „Bei Maßnahmen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelperson ausschlaggebend sein.“

Um die vorgelegte Frage zufriedenstellend zu beantworten, bedarf es nicht der Untersuchung, ob alle in der Richtlinie enthaltenen Bestimmungen unmittelbare Wirkungen erzeugen oder nicht.

In vorliegender Rechtssache geht es nur um Artikel 3 Absatz 1. Um ihre unmittelbare Geltung beurteilen zu können, muß man jedoch in die Prüfung ihrer Auslegung eintreten, wobei sich Berührungspunkte mit der Untersuchung der dritten Vorlagefrage ergeben.

Was den Anwendungsbereich des Artikels 3 Absatz 1 anbelangt, so steht fest, daß die Vorschrift sowohl für Arbeitnehmer im Sinne des Artikels 48 als auch für Selbständige im Sinne der Artikel 52 ff. des Vertrages gilt.

Für die Wanderarbeitnehmer hätte der Rat aufgrund der in Artikel 49 enthaltenen Ermächtigung eine Verordnung erlassen können; er hat es übrigens bei der Regelung der Beschäftigungsbedingungen in den Mitgliedstaaten auch getan.

Das Niederlassungsrecht der Selbständigen konnte gemäß Artikel 56 Ziffer 2 EWG-Vertrag nur im Wege der Richtlinie geregelt werden. Sicherlich hielt es der Rat für wünschenswert, zumindest bei den Maßnahmen im Zusammenhang mit der öffentlichen Ordnung durch dasselbe rechtliche Instrumentarium sowohl das System der Freizügigkeit der Arbeitnehmer als auch das Niederlassungsrecht der Selbständigen einheitlich zu regeln.

Dieses Verfahren schließt aber keineswegs eine etwaige unmittelbare Geltung von Artikel 3 der Richtlinie aus.

Hat nicht der Rat diese Bestimmung erlassen, um die Ermessensbefugnis der Mitgliedstaaten einzuengen und um die Beschränkungen der Freizügigkeit, wie die Versagung der Einreise, die Ausweisung oder die Abschiebung, nur unter der Voraussetzung zu gestatten, daß bei diesen Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend ist?

Der Rat hat dadurch doch wohl allgemeine Maßnahmen der Mitgliedstaaten gegenüber ganzen Personengruppen und insbesondere kollektive Ausweisungen oder Abschiebungen verbieten wollen.

Jedenfalls hat er den Mitgliedstaaten eine eindeutige und klare Verpflichtung auferlegt, womit die erste Voraussetzung für die unmittelbare Geltung erfüllt ist.

Die zweite Voraussetzung liegt ebenfalls vor. Die fragliche Bestimmung genügt sich selbst. Sie setzt auch nicht zusätzliche Maßnahmen der Organe der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten voraus. Daß es nach dem bei Richtlinien geltenden Grundsatz den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, nach ihrem nationalen Recht Mittel und Verfahren zu bestimmen, stellt die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsnorm nicht in Frage. Diese ist im Gegenteil so eng mit der Verwirklichung des Artikels 48 für die Arbeitnehmer verknüpft, daß sie sich hiervon nicht trennen läßt und an der Rechtsnatur dieser Vertragsbestimmung teilhat.

Schließlich ist ganz offensichtlich, daß die Mitgliedstaaten im Bereich der öffentlichen Sicherheit zwar ihre Zuständigkeit behalten haben, Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie aber eine eindeutig umschriebene Beschränkung dieser Befugnisse enthält, deren Anwendung gegenüber Gemeinschaftsangehörigen nicht im freien Ermessen der Mitgliedstaaten steht.

Die vorstehenden Erwägungen veranlassen mich zu der Feststellung, daß die fraglichen Bestimmung zugunsten der einzelnen Rechte erzeugt, welche diese gerichtlich geltend machen können und die innerstaatlichen Gerichte zu wahren haben.

3. Öffentliche Sicherheit — Begriff des persönlichen Verhaltens

Damit kommen wir zur dritten Frage. Was ist unter einem „persönlichen Verhalten“ zu verstehen, das ein Verbot zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtfertigt? Wie läßt sich dieser Begriff definieren?

Über die reine Textanalyse hinaus wird die Lösung meines Erachtens von zwei Grundgedanken bestimmt:

Zum einen gehört die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu den wesentlichen Grundsätzen des Vertrages, und das Verbot jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung von Arbeitnehmern der Mitgliedstaaten wird nur durch die in Artikel 48 Absatz 3 abschließend aufgezählten Vorbehalte hinsichtlich der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit eingeschränkt (EuGH 15. Oktober 1969 — Ugliola, 15/69 — Slg. 1969, 368).

Zum anderen gibt es zwar eine „öffentliche Ordnung der Gemeinschaft“ in den Bereichen, in denen der Vertrag bezweckt oder bewirkt, daß Befugnisse, die früher die Mitgliedstaaten wahrgenommen haben, unmittelbar auf die Gemeinschaftsorgane übergehen, doch kann es sich dabei nur um eine öffentliche Ordnung im wirtschaftlichen Bereich handeln, die sich zum Beispiel auf die gemeinsamen Agrarmarktorganisationen, den Handel, den Gemeinsamen Zolltarif oder das Wettbewerbsrecht bezieht.

Dagegen sind meines Erachtens bei den gegenwärtigen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, vorbehaltlich der Regelungen, die sich in bestimmten Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, wie der Richtlinie Nr. 64/221, finden, nur die Staaten befugt, die Maßnahmen zu erlassen, die der Schutz der öffentlichen Sicherheit auf ihrem Hoheitsgebiet verlangt, und zu entscheiden, wodurch diese Sicherheit gefährdet werden könnte.

Wenn auch, anders ausgedrückt, der allgemeine Vorbehalt der öffentlichen Ordnung, den sowohl Artikel 48 als auch Artikel 56 enthält, eine eng auszulegende begrenzte Ausnahmeregelung zu den Grundsätzen des Vertrages über die Freizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit darstellt, so glaube ich dennoch im Gegensatz zur Kommission nicht, daß sich ein gemeinschaftsrechtlicher Begriff der öffentlichen Sicherheit herausarbeiten läßt. Dieser Begriff bleibt — zumindest im Augenblick — innerstaatlich, und das entspricht den tatsächlichen Gegebenheiten, da die Erfordernisse der öffentlichen Sicherheit von Land zu Land nach Ort und Zeit verschiedene sein können.

Anhand dieser Grundgedanken ist meines Erachtens die dritte Frage zu beantworten.

Zunächst ist zu klären, inwieweit sich der Begriff „persönliches Verhalten“ auf die von dem innerstaatlichen Richter festgestellten Tatsachen anwenden läßt: nämlich auf die Mitgliedschaft eines Gemeinschaftsangehörigen in einer Organisation, deren Betätigung als für die öffentliche Ordnung schädlich angesehen wird, ohne jedoch verboten zu sein, sowie auf die Absicht, bei dieser Organisation eine Beschäftigung aufzunehmen, wobei zu berücksichtigen ist, daß die Angehörigen des Mitgliedstaats für diesen Fall keinen Beschränkungen unterliegen.

Diese Frage hat mich veranlaßt, in der Akte des High Court nach Anhaltspunkten für ein besseres Verständnis der Tatsachen zu suchen, die Grund für die Zurückweisung der Klägerin des Ausgangsverfahrens waren.

Aus der Akte geht hervor, daß Fräulein van Duyn sich nicht nur erwiesenermaßen mit der Absicht nach England begab, eine Stelle als Sekretärin bei der Church of Scientology zu übernehmen, sondern daß sie bereits in den vorangegangenen sechs Monaten in den Niederlanden bei einer Einrichtung derselben Organisation gearbeitet hatte, ferner, daß sie die Scientology studiert und praktiziert hatte.

Sicherlich hat die Summe dieser Tatsachen, deren Richtigkeit ich natürlich nicht zu beurteilen habe, die britische Einwanderungsbehörde veranlaßt, Fräulein van Duyn die Einreise zu versagen.

Die Akte zeigt weiter, daß der Gesundheitsminister des Vereinigten Königreichs 1968 in einer Erklärung vor dem Parlament die Meinung vertrat:

„Scientology ist ein pseudo-philosophischer Kult“, dessen Grundsätze oder Praktiken nach Ansicht der britischen Regierung eine Gefahr sowohl für die öffentliche Sicherheit als auch für die Gesundheit seiner Anhänger darstellen.

Der Minister teilte sodann die Entscheidung der Regierung mit, sich im Rahmen ihrer Befugnisse der Tätigkeit dieser Organisation zu widersetzen. Wenn auch nach dem geltenden innerstaatlichen Recht die Ausübung der Scientology nicht verboten war, so konnte die Regierung wenigstens Ausländern die Einreise versagen, welche am Sitz der Church of Scientology in England zu arbeiten beabsichtieten.

Es scheint, daß Fräulein van Duyn die Einreise in das Vereinigte Königreich gerade aufgrund dieser Politik versagt wurde, und zwar wegen der Beziehungen, die sie bereits früher in den Niederlanden mit dieser sogenannten „Kirche“ unterhielt, sowie wegen der Tatsache, daß sie praktizierende Anhängerin der Scientology war und beabsichtigte, eine Beschäftigung in Saint Hill Manor aufzunehmen.

Bei diesem Stand der Dinge besteht meines Erachtens kein Zweifel daran, daß die genannten Tatsachen insgesamt dem Begriff des „persönlichen Verhaltens“ im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie genügen und daß die bloße Zugehörigkeit zur Church of Scientology — sei es auch nur durch einen dazwischengeschobenen Arbeitsvertrag — ein Aspekt des persönlichen Verhaltens ist.

Wie ich bereits dargelegt habe, war Anlaß für die fragliche Bestimmung im wesentlichen die Sorge der Organe der Gemeinschaft, den Mitgliedstaaten den Erlaß kollektiver polizeilicher Maßnahmen gegenüber Gemeinschaftsangehörigen zu untersagen. Diese Bestimmung verlangt, den Fall einer jeden Person einzeln zu prüfen, gegen die eine Entscheidung ergeht, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung begründet wird; die Bestimmung schließt ganz ohne Zweifel, wie hier geschehen, eine gerichtliche Nachprüfung der Gründe einer solchen Entscheidung durch die innerstaatlichen Gerichte ein, welche die Möglichkeit — oder in bestimmten Fällen sogar die Pflicht — haben, wegen der Auslegung des geltenden Gemeinschaftsrechts den Gerichtshof anzurufen.

In diesem Punkt — und nur in diesem Punkt — wird in dem fraglichen Bereich die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten durch die Richtlinie sicherlich beschränkt.

Als letztes bleibt zu untersuchen, ob die Regierung des Vereinigten Königreichs, indem sie einem Staatsangehörigen der Gemeinschaft aus den dargelegten Gründen die Einreise versagte, nicht gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, der Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen, verstoßen hat, der die notwendige Ergänzung zur Freizügigkeit bildet und der, obgleich im wesentlichen in Artikel 7 des Vertrages geregelt, nach Artikel 48 ausdrücklich auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer anwendbar ist.

Wenn auch die Church of Scientology nach Meinung der britischen Regierung sozialschädlich ist und folglich ihre Tätigkeiten als der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufend angesehen werden, so steht doch fest, daß diese Tätigkeiten auf dem Gebiet des Vereinigten Königreichs nicht verboten sind und daß die eigenen Staatsangehörigen Scientology studieren und praktizieren sowie am Sitz der Organisation arbeiten dürfen.

Auf den ersten Blick liegt also eine Diskriminierung in der Behandlung der Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft, und zwar darin, daß ihnen nur deshalb verboten wird, in das britische Hoheitsgebiet einzureisen, weil sie in Saint Hill Manor Scientology praktizieren und dort eine Beschäftigung übernehmen wollen.

Ich glaube aber nicht, daß diese Diskriminierung gegen den Vertrag verstößt.

Der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung und insbesondere der öffentlichen Sicherheit bewirkt, wie ich bereits dargelegt habe, daß die Mitgliedstaaten ihre Befugnisse in diesem Bereich behalten, jedoch verpflichtet sind, die Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Sicherheit mit dem persönlichen Verhalten der Betroffenen zu begründen.

Die Mitgliedstaaten behalten aber, was die Feststellung einer Gefährdung ihrer Sicherheit und die Zweckmäßigkeit der gebotenen Maßnahmen anbelangt, eine Befugnis, deren Ausübung den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht berührt, es sei denn, sie machen von ihr zu anderen als den vorgesehenen Zwecken Gebrauch, zum Beispiel mit dem Ziel, wirtschaftlichen Schutz zu gewähren.

Wie aus den Erklärungen der britischen Regierung hervorgeht, ist — und war — es nach dem innerstaatlichen Recht nicht möglich, die Scientology-Vereinigung zu verbieten. Dies ist die Folge eines besonders liberalen Systems. In anderen Mitgliedstaaten, deren Regierungen etwa die Tätigkeiten der fraglichen Organisation als der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufend ansähen, könnte sicherlich anders verfahren werden. Soweit aber die Regierung des Vereinigten Königreichs über die rechtlichen Mittel verfügt zu verhindern, daß Ausländer, seien es auch Gemeinschaftsangehörige, auf britischem Hoheitsgebiet die Schar der Scientology-Anhänger verstärken, kann sie meines Erachtens so vorgehen, wie sie es getan hat, ohne dadurch im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag zu diskriminieren. Die britische Regierung handelt so im Rahmen der staadichen Befugnisse, die der Vorbehalt der öffentlichen Ordnung in der genannten Bestimmung jedem Mitgliedstaat einräumt.

Daher schlage ich vor, für Recht zu erkennen:

1.

Sowohl Artikel 48 des Vertrages als auch Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie Nr. 64/221 des Rates gelten unmittelbar in der Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats und erzeugen Rechte der einzelnen, welche die innerstaatlichen Behörden zu wahren haben.

2.

Es fällt unter den Begriff des „persönlichen Verhaltens“, das geeignet ist, eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinne der erwähnten Bestimmung der Richtlinie 64/221 zu rechtfertigen, wenn jemand einer Organisation angehört oder angehört hat, deren Betätigung ein Mitgliedstaat als der öffentlichen Ordnung zuwiderlaufend ansieht; dies gilt selbst dann, wenn diese Betätigung auf dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats nach innerstaatlichem Recht nicht verboten ist.

3.

Es fällt auch unter den Begriff des „persönlichen Verhaltens“, wenn sich jemand in das Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begibt, um dort bei einer Organisation zu arbeiten, deren Betätigung als der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zuwiderlaufend angesehen wird, obgleich die Staatsangehörigen dieses Staates, die in den Dienst der genannten Organisation treten wollen, keinen Beschränkungen unterliegen.


( 1 ) Aus dem Französischen übersetzt.

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