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Document 61959CC0003
Opinion of Mr Advocate General Lagrange delivered on 5 November 1959. # Federal Republic of Germany v High Authority of the European Coal and Steel Community. # Case 3-59.
Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange vom 5. November 1959.
Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Rechtssache 3-59.
Schlussanträge des Generalanwalts Lagrange vom 5. November 1959.
Regierung der Bundesrepublik Deutschland gegen Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.
Rechtssache 3-59.
Englische Sonderausgabe 1960 00123
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1959:25
Schlußanträge des Generalanwalts,
HERRN MAURICE LAGRANGE
5. November 1959
Aus dem Französischen übersetzt
Herr Präsident, meine Herren Richter!
Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland gibt Ihnen mit der vorliegenden Klage gleichsam als Vorspiel oder Einleitung der langen Reihe der über Transportfragen beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen Anlaß, sich zu einigen grundsätzlichen Fragen, die die Grundregeln des Vertrages berühren, zu äußern. Damit wird jedoch keineswegs der Entscheidung in den anderen Rechtssachen, insbesondere in dem Rechtsstreit Nr. 19/58, der von der gleichen Regierung beim Gerichtshof anhängig gemacht wurde, vorgegriffen.
Ich bin übrigens der Ansicht, daß die durch den vorliegenden Rechtsstreit aufgeworfenen Fragen zwar wichtig sind, daß jedoch ihre Lösung einfach ist.
I.
Betrachten wir zunächst die in Betracht kommenden Vorschriften. Es handelt sich im wesentlichen um Artikel 70 des Vertrages und um § 10 des Abkommens über die Übergangsbestimmungen.
Artikel 70 (endgültige Regelung) legt die bereits in Artikel 4 aufgestellte Regel der Nichtdiskriminierung in bezug auf die Transporttarife für Kohle und Stahl im einzelnen fest. In § 10 ist ein Verfahren „zur Erreichung der in Artikel 70 des Vertrages bestimmten Ziele“ innerhalb bestimmter Fristen vorgesehen.
Da die Verkehrspolitik, insbesondere die Bildung der Tarife, Sache der Mitgliedstaaten geblieben ist, hat die Anwendung der entsprechenden Regeln des Vertrages und des Übergangsabkommens über die Staaten zu erfolgen. Was die Beachtung der in Artikel 70 niedergelegten endgültigen Regeln angeht, so ist es also in erster Linie Aufgabe der Staaten, diese zu beachten oder für ihre Beachtung zu sorgen, vor allem durch Gebrauch der Befugnisse, welche die Staaten gegenüber den Transportunternehmen haben, und falls erforderlich, durch Schaffung der notwendigen ergänzenden Befugnisse im Wege der Gesetzgebung oder auf andere Weise.
Die Verwirklichung der in § 10 des Übergangsabkommens vorgesehenen Zwischenstufen hat im Wege von Verträgen zwischen den Regierungen zu erfolgen; diese Verträge werden von einem Sachverständigenausschuß vorbereitet, wobei die Hohe Behörde nur eingreift, um die Untersuchungen anzuregen und die Verhandlungen einzuleiten.
In einem besonderen Falle ist jedoch ein direktes Eingreifen der Hohen Behörde vorgesehen, nämlich im Falle der „Anwendung von Ausnahmetarifen im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung und Stahlerzeugung“. Nach Artikel 70 Absatz 4 bedarf die Anwendung solcher Ausnahmetarife „der vorherigen Genehmigung der Hohen Behörde, die sich vergewissert, daß die Maßnahmen mit den Grundsätzen des Vertrages im Einklang stehen; sie kann“, so heißt es dort weiter, „die Genehmigung befristet oder bedingt erteilen.“
Gemäß § 10 Absatz 7 des Übereinkommens sind die vorgenannten und „bei der Einsetzung der Hohen Behörde geltenden Tarifbestimmungen der Hohen Behörde mitzuteilen; diese hat für ihre Abänderung die Fristen zu bewilligen, die erforderlich sind, um jede schwere wirtschaftliche Störung zu vermeiden.“
Diese Regel ist, wie Sie sehen, der für die Kartelle geltenden sehr ähnlich: Verbotsprinzip mit der Möglichkeit der Erteilung einer vorherigen Genehmigung; für die zur Zeit des Inkrafttretens des Vertrages oder, genauer gesagt, „bei Einsetzung der Hohen Behörde“ (im Falle des Transportwesens) — für die Kartelle ist, zumindest nach Ihrer Rechtsprechung, die Eröffnung des gemeinsamen Marktes maßgebend — bereits bestehenden Verhältnisse gilt jedoch eine Übergangsregelung, die diese Verhältnisse solange weiterbestehen läßt, bis sich die Hohe Behörde über ihre Vereinbarkeit mit dem Vertrag äußern konnte.
Trotz der ziemlich knappen Fassung des Absatzes 7 von § 10 des Übergangsabkommens ist zu erkennen, daß er drei Möglichkeiten offenläßt: 1. Ist der Ausnahmetarif mit den Vorschriften in Artikel 70 Absätze 1 und 2 vereinbar, so ist er vertragsgemäß, und man darf annehmen (jedenfalls nimmt die Hohe Behörde dies an), daß die Hohe Behörde in einem solchen Falle keinen Anlaß hat, diesen Tarif gemäß Absatz 4 zu genehmigen; 2. Ist der Ausnahmetarif mit den vorgenannten Vorschriften nicht vereinbar, wird er jedoch als mit den „Grundsätzen“ des Vertrages im Einklang stehend befunden, so darf man annehmen (die Hohe Behörde nimmt dies ebenfalls an), daß für ihn gemäß Artikel 70 Absatz 4 eine erforderlichenfalls befristete oder bedingte Genehmigung erteilt werden kann; 3. Wird der Ausnahmetarif schließlich mit den Vorschriften des Artikels 70 für nicht vereinbar und zugleich für nicht genehmigungsfähig angesehen, so hat die Hohe Behörde für seine „Abänderung“ (d. h. für seine Ersetzung durch eine rechtmäßige Maßnahme) „die Fristen zu bewilligen, die erforderlich sind, um jede schwere wirtschaftliche Störung zu vermeiden.“
Ich möchte mich im vorliegenden Falle nicht zur Auslegung von Artikel 70 Absatz 4 äußern. Sie werden noch Gelegenheit haben, sich damit eingehend zu befassen, wenn Sie die über Transportfragen anhängigen Rechtssachen in der Sache selbst nachprüfen. Ich will hier auch nicht zur Auslegung der anderen Bestimmungen dieses Artikels im Zusammenhang mit Artikel 4 und den Grundsätzen des Ersten Titels des Vertrages Stellung nehmen. Im Augenblick halte ich Vom Standpunkt des Verfahrens aus lediglich fest — und dies erscheint mir unbestreitbar —, daß die „Ausnahmetarife im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung und Stahlerzeugung“, von denen in Artikel 70 Absatz 4 die Rede ist und die bei Einsetzung der Hohen Behörde in Kraft waren, rechtmäßig in Kraft geblieben sind, bis sich die Hohe Behörde zu ihnen in Anwendung von § 10 Absatz 7 des Übergangsabkommens geäußert hat. Die einzige Verpflichtung der Regierungen bestand darin, sie der Hohen Behörde mitzuteilen. Dies hat die Bundesregierung auch getan.
II.
Wie sieht es nun im vorliegenden Rechtsstreit aus?
Wie Sie wissen, hat die Hohe Behörde erst am 9. Februar 1958, am Vortage des Ablaufs der Übergangsperiode, ihre Entscheidungen zur Anwendung der vorgenannten Bestimmungen erlassen. Diese Entscheidungen sind in einer Reihe von Schreiben vom 12. Februar enthalten, die im Amtsblatt der Gemeinschaft am 3. März veröffentlicht wurden.
Drei dieser Entscheidungen betreffen die Bundesregierung; sie beziehen sich auf die Ausnahmetarife der Deutschen Bundesbahn für die Beförderung von mineralischen Brennstoffen für die Eisen- und Stahlindustrie, für die Beförderung von mineralischen Brennstoffen, soweit sie nicht für die Eisen- und Stahlindustrie bestimmt sind, und für die Beförderung von Eisenerzen. Lediglich die erste und die dritte Entscheidung spielen in dem vorliegenden Rechtsstreit eine Rolle.
In Anwendung der Unterscheidungen, die ich soeben hervorgehoben habe, hat die Hohe Behörde einige Tarife als mit Artikel 70 im ganzen für vereinbar gehalten und keine Einwendungen erhoben; andere Tarife hat sie gemäß Absatz 4 in Anbetracht der besonderen Lage von bestimmten Unternehmen, denen diese Tarife gewährt werden sollen, genehmigt; wieder andere schließlich hat sie für nicht genehmigungsfähig erklärt; hinsichtlich dieser Tarife hat sie Fristen für deren stufenweise Beseitigung oder Abänderung festgesetzt.
Gegen diesen letzteren Teil der Entscheidungen hat die Bundesregierung die Klage Nr. 19/58 erhoben, die sie selbst als Nichtigkeitsklage bezeichnet. Sie stützt sich jedoch in dieser Klage nicht nur auf Artikel 33, sondern auch auf Artikel 88 und auf Artikel 37, somit auf Bestimmungen, die, wie Sie wissen, besondere Verfahren vorschreiben, und zwar das eine für den Fall, daß Staaten ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, das andere für den Fall, daß eine Handlung oder Unterlassung tiefgreifende und anhaltende Störungen im Wirtschaftsleben der Mitgliedstaaten hervorruft.
Im weiteren Verlauf hat die Klägerin das besondere Verfahren nach Artikel 37 eingeleitet und sich in der Rechtssache Nr. 19/58 nicht mehr darauf bezogen. Was den Artikel 88 anbelangt, so hat sich die Klägerin darauf beschränkt, diese Bestimmung anzuführen, ohne jedoch hierauf besonderen Nachdruck zu legen. Die ganze weitere Einlassung erfolgte im Rahmen der auf Artikel 33 gestützten Nichtigkeitsklage.
Da die in den Entscheidungen vom 9. Februar enthaltenen ersten Fristen am 1. Juli 1958 abgelaufen waren, ohne daß die bis zu diesem Zeitpunkt vorzunehmenden Tarifänderungen erfolgt waren, forderte die Hohe Behörde die Bundesregierung zur Äußerung auf; diese antwortete, daß sie sich nicht für verpflichtet halte, die Entscheidungen auszuführen, solange der Gerichtshof nicht über die von ihr wegen dieser Entscheidungen erhobene Klage entschieden habe.
Die Hohe Behörde leitete darauf das Verfahren nach Artikel 88 ein. Nachdem sie der Bundesregierung zuvor Gelegenheit zur Äußerung gegeben hatte (Schreiben vom 8. Oktober 1958, das am 30. Oktober beantwortet wurde), erließ sie am 1. Dezember 1958 eine Entscheidung auf Grund des ersten Absatzes des vorgenannten Artikels. Mit dieser Entscheidung wird festgestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland, indem sie die Tarifentscheidungen nicht vollzogen hat, obwohl ein Aussetzungsbeschluß des Gerichtshofes nicht ergangen ist, einer ihr nach dem Vertrag obliegenden Verpflichtung nicht nachgekommen ist; des weiteren wird ihr in dieser Entscheidung zur Erfüllung ihrer Verpflichtung eine Frist bis zum 31. Januar 1959 gesetzt.
Gegen die letztgenannte Entscheidung hat die Bundesregierung auf Grund von Artikel 88 Absatz 2 beim Gerichtshof eine Klage im Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung (recours de pleine juridiction) erhoben, die Ihnen nunmehr zur Prüfung vorliegt.
III.
Das ganze Vorbringen der Klägerin zielt darauf ab darzulegen, daß die Entscheidungen vom Februar 1958 für die klagende Regierung keine von ihr zu erfüllende Verpflichtung enthielten, die Tarife in dem durch diese Entscheidungen angegebenen Maße abzuändern.
Ich will die Untersuchung dieses Ihnen bekannten Vorbringens nicht im einzelnen wiederholen. Es scheint — soweit man es in einigen Worten zusammenfassen kann — auf einer alternativen Schlußfolgerung zu beruhen.
In einer ersten Schlußfolgerung wird ausgeführt: Die Grundfrage, über die die beiden Parteien nicht einig sind — nämlich die Frage, ob die in Rede stehenden Tarife mit dem Vertrag vereinbar sind — könne im Rahmen einer Klage wegen der von der Hohen Behörde auf Grund von Artikel 88 erlassenen Entscheidung, d. h. wegen der mit der vorliegenden Klage angefochtenen Entscheidung erörtert werden. Diesbezüglich beruft sich die Klägerin im Wege der Analogie auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Frage der Einrede der Rechtswidrigkeit. Die Entscheidungen vom 9. Februar 1958 könnten, so wird weiter ausgeführt, nur als Festlegung der Bedingungen angesehen werden, unter denen eine Genehmigung gemäß Artikel 70 Absatz 4 erteilt würde; es sei nicht Sache der Hohen Behörde gewesen, der Klägerin bestimmte Tarifmaßnahmen mit verpflichtender Wirkung vorzuschreiben. Die Vertragswidrigkeit der Tarife mit der Folge der Verpflichtung, sie abzuändern, könne sich demnach nur in Anwendung des Verfahrens nach Artikel 88 ergeben.
In einer zweiten Schlußfolgerung wird der Gedanke wieder aufgegriffen, daß nur das Verfahren nach Artikel 88 zwingende Wirkung gegenüber einem Staat haben könne. Es wird jedoch davon ausgegangen, daß die Entscheidungen vom 9. Februar 1958 bereits als solche im Sinne von Artikel 88 Absatz 1 anzusehen seien. In dieser Sicht hätte die wegen der vorgenannten Entscheidungen erhobene Klage Nr. 19/58 bereits den Charakter einer Klage im Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung gemäß Artikel 88 Absatz 2. Nach Absatz 3 dieses Artikels habe diese Klage aber aufschiebende Wirkung, und die Hohe Behörde sei demnach nicht befugt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, solange über die Klage nicht entschieden ist. Die angegriffene Entscheidung wäre demnach rechtswidrig, weil darin der Klägerin zur Erfüllung ihrer Verpflichtung eine Frist bis zum 31. Januar 1959 gesetzt wird.
Meine Herren, ich bin der Ansicht, daß die Auffassung der Klägerin mit den Grundsätzen des Vertrages unvereinbar ist.
Diese Ansicht ist meines Erachtens auf eine Verwechslung zwischen der Verbindlichkeit der Entscheidungen der Hohen Behörde und der Möglichkeit ihrer zwangsweisen Durchsetzung zurückzuführen. In Artikel 14 des Vertrages heißt es wörtlich:
„Die Entscheidungen sind in allen ihren Teilen verbindlich.“ Sie werden je nach Lage des Falles durch die Zustellung oder die Veröffentlichung verbindlich (Artikel 15); sofern nichts Abweichendes bestimmt ist (wie z. B. in Artikel 66 § 5 Absatz 2), hat die Klage keine aufschiebende Wirkung, es sei denn, daß der Gerichtshof oder der Präsident des Gerichtshofes im Verfahren über einstweilige Anordnungen die Aussetzung des Vollzugs bewilligt. Diese Vorschriften gelten für die Staaten wie für die Unternehmen.
Völlig anders liegt die Frage der Zwangsvollstreckung bzw. dessen, was man als die „voies d'exécution“ bezeichnet. Hier sind die Bestimmungen selbstverständlich verschieden, je nachdem ob die zwangsweise Durchsetzung gegenüber einem Unternehmen, einer Privatperson oder einem Staat erfolgen soll. Gegen Unternehmen können außer Geldbußen Zwangsgelder festgesetzt werden, deren zwingender Charakter offensichtlich ist. Auf der anderen Seite ist für die Durchführung von Entscheidungen der Hohen Behörde, die finanzielle Verpflichtungen beinhalten, ein Zwangsvollstreckungsverfahren vorgesehen, das sich nach den nationalen Verfahrensvorschriften richtet. Für die Staaten gilt das besondere Verfahren nach Artikel 88, das ich hier nicht im einzelnen darzulegen brauche.
Es ist jedoch festzuhalten, daß in beiden Fällen die Nichtausführung von Entscheidungen der Hohen Behörde, die die Einleitung eines Zwangsvollstreckungsverfahrens erlaubt, nur einen besonderen Fall der Vertragsverletzung darstellt. Es kann nämlich sehr wohl der Fall eintreten, daß die Vertragsverletzung unmittelbar in der Nichterfüllung (sei es durch einen Staat, sei es durch ein Unternehmen) einer positiven oder negativen, im Vertrag oder in einer Durchführungsbestimmung niedergelegten Verpflichtung besteht; dies gilt beispielsweise bei einem Staat im Falle der Auferlegung einer Sonderlast oder der Einführung einer nach Artikel 4 verbotenen Subvention. Ein Staat, der eine solche Handlung begeht, verstößt schlechthin gegen den Vertrag, ohne daß es des Erlasses einer Entscheidung der Hohen Behörde bedürfte. Bei einem Unternehmen gilt dies beispielsweise im Falle einer nach Artikel 60 verbotenen diskriminierenden Praktik. Deshalb sind die finanziellen Sanktionen, die gegen Unternehmen festgesetzt werden können, sowohl bei unmittelbarer Verletzung des Vertrages als auch bei Nichtbeachtung der Entscheidungen der Hohen Behörde vorgesehen (z. B. in Artikel 64 auf dem Gebiet der Preise). Deshalb spricht auch Artikel 88 ganz allgemein von der Verletzung (manquement), d. h. davon, daß ein Staat „einer ihm nach diesem Vertrag obliegenden Verpflichtung nicht nachgekommen ist.“
Demnach gilt der Artikel 88 (um nunmehr nur von den Staaten zu sprechen) sowohl für den Fall, daß ein Staat eine vertragswidrige Lage schafft, als auch dann, wenn er sich weigert oder es unterläßt, eine Entscheidung der Hohen Behörde auszuführen, denn es versteht sich von selbst, daß die Weigerung oder Unterlassung der Ausführung einer verbindlichen Entscheidung der Hohen Behörde den Tatbestand des Artikels 88 erfüllt, wonach ein Staat „einer ihm nach diesem Vertrag obliegenden Verpflichtung nicht nachgekommen ist.“ Dies ergibt sich nicht nur aus dem bereits erwähnten, in Artikel 14 niedergelegten Grundsatz, sondern darüber hinaus auch aus dem Wortlaut des Artikels 86 und aus der Verpflichtung, die die Staaten mit der Annahme dieser Bestimmung eingegangen sind.
Dies vorausgeschickt, ist es offensichtlich, daß die Art der Verletzung sehr unterschiedlich ist, je nachdem ob es sich um den ersten oder den zweiten der von mir soeben unterschiedenen Fälle handelt. Im ersten Fall hat nämlich die Hohe Behörde die Initiative zu ergreifen, indem sie feststellt, weshalb sie im Handeln eines Staates eine Vertragsverletzung erblickt. Bleibt der Staat bei seiner Haltung, so heißt das, daß er der Ansicht ist, nicht gegen den Vertrag zu verstoßen. Der Streit, der sich aus diesem Widerspruch ergibt, wird, sollte er nicht auf gütlichem Wege beigelegt werden, nach dem Verfahren des Artikels 88 beim Gerichtshof anhängig gemacht. Auf Grund der nach Absatz 2 dieses Artikels zulässigen Klage hat der Gerichtshof in der Sache selbst, d. h. über die Frage zu entscheiden, ob die Handlung des Staates mit dem Vertrag vereinbar ist. Die Verfasser des Vertrages haben offensichtlich im Hinblick auf die Fälle dieser Art darauf bestanden, ein Verfahren einzuführen, das den Staaten die größtmögliche Sicherheit gibt, insbesondere die Möglichkeit einer Klage im Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung eröffnet.
Im zweiten Fall dagegen ist das Verfahren nach Artikel 88 rein formeller Art, weil damit lediglich festgestellt werden soll, daß der Staat eine vollstreckbare Entscheidung der Hohen Behörde nicht befolgt hat. Es ist klar, daß sich die Klage nach Artikel 88 in diesem Fall nicht auf die Sache selbst erstrecken kann, denn damit würde die Rechtmäßigkeit der Entscheidung, deren Nichtbeachtung ja gerade Gegenstand — und zwar der einzige Gegenstand — der Pflichtverletzung ist, erneut in Frage gestellt. Die Klage im Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung kann sich nur auf die Umstände der Ausführung oder Nichtausführung erstrecken, wodurch sich sicher einige Schwierigkeiten ergeben können. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung kann allein auf dem im Vertrag hierfür vorgesehenen Wege angegriffen werden, nämlich mit der Nichtigkeitsklage nach Artikel 33. Für diesen Fall hat man es nicht für notwendig gehalten, für die Staaten im besonderen eine Klage im Verfahren mit unbeschränkter Ermessensnachprüfung vorzusehen, weil eine Entscheidung der Hohen Behörde vorliegt, die unter Beachtung aller üblichen Formvorschriften ergeht. Es kommen die allgemeinen Bestimmungen des Vertrages zur Anwendung, und wie Sie wissen, waren diese Formvorschriften im vorliegenden Falle zahlreich: Heranziehung eines Sachverständigenausschusses, der jahrelang beraten hat, Anhörung der Regierungen, Ermittlungen an Ort und Stelle usw. Es ist Ihnen auch bekannt, wie weit die Nachprüfung der „Rechtmäßigkeit“ geht, die der Gerichtshof auf Grund von Artikel 33 vornehmen kann, und welche Sicherheitsvorkehrungen diese Bestimmung insbesondere für die Staaten enthält, die nicht, wie die Unternehmen, hinsichtlich der Klagegründe einer Beschränkung unterliegen.
Zu Unrecht beruft sich übrigens die Klägerin auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Frage der Einrede der Rechtswidrigkeit. Diese Einrede kann nämlich nur gegen normative Entscheidungen erhoben werden, d. h. gegen Verordnungen zur Durchführung des Vertrages, deren Nichtbeachtung einer Nichtbeachtung der Vorschriften des Vertrages selbst vergleichbar ist; hierbei ist es möglich, daß der Anlaß zur Geltendmachung der Rechtswidrigkeit sich erst im Zeitpunkt ihrer Anwendung ergibt. Im vorliegenden Falle haben wir es mit einer individuellen Entscheidung zu tun, die eine bestimmte Regierung betrifft und auf eine bestimmte Anzahl von Einzelfällen im Vertrag vorgesehene Vorschriften anwendet: Es handelt sich um die Ablehnung einer Genehmigung, die nicht im geringsten normativen Charakter hat. Ihre ganze bisherige Rechtsprechung entspricht dem.
Somit, meine Herren, scheint mir die Rechtslage in dem vorliegenden Rechtsstreit völlig klar zu sein.
Die Hohe Behörde hat mit ihren Entscheidungen vom 9. Februar 1958 über die Gesamtheit der „Ausnahmetarife“ entschieden, die ihr mitgeteilt worden waren. Auszuklammern sind selbstverständlich die überprüften Tarife, die als mit Artikel 70 Absätze 1 und 2 für vereinbar gehalten wurden und bei denen die Hohe Behörde keine Genehmigung gemäß Absatz 4 für erforderlich hielt. Bei diesen Tarifen, die nicht streitig sind, kann keine Rede von der Feststellung einer Pflichtverletzung sein. Gleichfalls sind diejenigen Tarife auszuklammern, die die Hohe Behörde gemäß Absatz 4 für genehmigungsfähig hielt, aber auch tatsächlich genehmigt hat. Auch hier kann nicht von einer „Verletzung“ die Rede sein, und zwar deshalb, weil der Staat sie nicht abgeändert habe.
Bleiben die umstrittenen Tarife. Die Hohe Behörde hat mit ihren Entscheidungen vom 9. Februar 1958 festgestellt, daß es sich hierbei nach Artikel 70 Absatz 4 um „Ausnahmetarife im Binnenverkehr zugunsten eines oder mehrerer Unternehmen der Kohleförderung oder Stahlerzeugung“ handele, und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Tarife den Vorschriften der beiden ersten Absätze des Artikels 70 zuwiderliefen und zudem nicht den Voraussetzungen entsprächen, die für notwendig erachtet werden, um Gegenstand einer „Genehmigung“ nach Absatz 4 zu werden. Sie hat infolgedessen in Anwendung von § 10 Absatz 7 des Abkommens über die Übergangsbestimmungen Fristen für ihre Abänderung festgesetzt.
Meine Herren, es ist möglich, daß sich die Hohe Behörde geirrt hat. Es ist möglich, daß die umstrittenen Tarife die Voraussetzungen erfüllen, die für eine Genehmigung nach Absatz 4 vorgesehen sind. Es ist auch möglich, daß einige von ihnen oder sogar alle mit dem Vertrag vereinbar sind, ohne daß es einer Genehmigung der Hohen Behörde bedürfte. Alle diese Fragen gehören in den Bereich des Rechtsstreits Nr. 19/58 und werden im Rahmen jenes Prozesses zu entscheiden sein. Sicher ist jedoch, daß die Beibehaltung dieser Tarife bis zum Erlaß der Entscheidung der Hohen Behörde nach den Bestimmungen des Übergangsabkommens völlig vertragsgemäß war und daß somit insoweit keine Pflichtverletzung festgestellt werden konnte und mit den Entscheidungen vom 9. Februar 1958 übrigens auch gar nicht festgestellt worden ist.
Ferner — und diese zweite Feststellung ist noch offensichtlicher als die erste — hat die Hohe Behörde am 9. Februar 1958 tatsächlich Entscheidungen im Sinne von Artikel 14 des Vertrages erlassen, die sie der Bundesregierung mit verschiedenen Schreiben vom 12. Februar mitteilte und in denen sie, wie wir gesehen haben, auf der Grundlage von Artikel 70 des Vertrages in Verbindung mit § 10 Absatz 4 des Übergangsabkommens der deutschen Regierung zur stufenweisen Beseitigung der streitigen Ausnahmetarife Fristen setzte. Diese Entscheidungen sind „in allen ihren Teilen verbindlich“ und unbeschadet der gegen sie auf Grund von Artikel 33 erhobenen Nichtigkeitsklage vollstreckbar, nachdem eine Aussetzung des Vollzugs nicht bewilligt (und wie Sie wissen, im vorliegenden Falle nicht einmal beantragt) worden ist.
Wenn die Bundesregierung es unterlassen hat, gemäß Artikel 86 innerstaatlich die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Tarifänderungen nach Maßgabe der Bedingungen und innerhalb der Fristen, die die Hohe Behörde in ihren Entscheidungen vom Februar 1958 festgelegt hatte, vorzunehmen, so hat die Bundesrepublik Deutschland dadurch an und für sich schon den Tatbestand der Verletzung einer — und nicht der unerheblichsten — der durch den Abschluß des Vertrages eingegangenen Verpflichtungen erfüllt: der Verpflichtung nämlich, die Entscheidungen der Hohen Behörde durchzuführen oder für deren Durchführung zu sorgen.
Ich habe nun noch zu einer letzten in der Klage vorgebrachten Rüge Stellung zu nehmen, die dahin geht, die Entscheidung hätte der Klägerin zur Erfüllung ihrer Verpflichtung keine Frist setzen dürfen, die kürzer ist als die ihr nach Artikel 88 Absatz 2 zur Verfügung stehende Klagefrist, da dies der aufschiebenden Wirkung einer solchen Klage widerspreche. Die Hohe Behörde habe in ihrer Entscheidung eine Frist bis zum 31. Januar 1959 gesetzt, während die Frist zur Klageerhebung, die im vorliegenden Falle zwei Monate beträgt, erst am 11. Februar 1959 abgelaufen sei.
Auch hier handelt es sich wieder um eine Verwechslung zwischen der Verbindlichkeit der Entscheidungen der Hohen Behörde und der Möglichkeit ihrer zwangsweisen Durchsetzung. Die Klage nach Artikel 88 Absatz 2 hat keineswegs aufschiebende Wirkung: aufgeschoben ist lediglich das Recht der Hohen Behörde, nach einer mit Zweidrittelmehrheit erteilten Zustimmung des Rates die in Absatz 3 vorgesehenen Sanktionen festzusetzen, solange über die Klage nicht entschieden ist, und zwar, wie sich von selbst versteht, nicht abweisend entschieden ist.
Zu Eingang ihrer Erwiderung weist die Klägerin auf das ernstlichste einen Vorwurf zurück, den sie zu Recht oder Unrecht aus den Ausführungen der Hohen Behörde in ihrer Klagebeantwortung herauslesen zu können glaubt, den Vorwurf nämlich, sie „versuche …, unter mißbräuchlicher, nicht ernst gemeinter Inanspruchnahme vertraglicher Rechtsmittel, sich der einstweiligen Ausführung der Entscheidungen vom 9. Februar 1958 zu entziehen“. Sie behauptet zunächst, sie wolle nichts weiter, als von den in Artikel 88 vorgesehenen Rechtsmitteln Gebrauch machen, die Sicherheitsvorkehrungen zugunsten der Mitgliedstaaten seien, und führt weiter aus: „Das Verfahren führt nicht zu einer Verzögerung, sondern zu einer Beschleunigung der erstrebten gerichtlichen Nachprüfung, auf die die Klägerin einen klaren Anspruch hat.“
Meine Herren, ich maße mir nicht an und habe auch niemals daran gedacht, die Absichten der Bundesregierung in Zweifel zu ziehen; ich bin auch völlig davon überzeugt, daß diese Regierung — sollte Ihr Urteil mit meinen Schlußanträgen übereinstimmen — es sich zur Pflicht machen wird, die Entscheidungen vom 9. Februar 1958 alsbald auszuführen.
Ich beantrage daher,
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die Klage abzuweisen |
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und der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. |